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MITTELMEERBILDER 


GESAMMELTE  ABHANDLUNGEN 
ZUR  KUNDE  DER  MITTELMEERLÄNDER 


VON 

Dr.  THEOBALD  FISCHER 

GEH.  REG.-RAT,  PROl'ESSOR  DER  GEOGRAPHIE  AN  DER  fNlVEKSITÄT  MARBURG 


LEIPZIG  UND  BERLIN 
DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER 

1906 


ALLE  RECHTE, 
EINSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZUNGSRECHTS,  VORBEHALTEN. 


Vorrede. 


Die  vorliegende  Sammlung  von  Abhandlungen  zur  Kunde 
der  Mittelmeerländer  enthält  Früchte  dreiunddreißigjähriger  Stu- 
dien über  die  Mittelmeerländer  und  von  einigen  zwanzig  bald 
längeren,  bald  kürzeren  Reisen  im  Bereich  derselben  vom  Bos- 
porus bis  Südvi^estmarokko  in  den  Jahren  1872  —  1902.  Sie  be- 
ruhen fast  durchaus  auf  Selbstsehen,  ja  einige  sind  geradezu 
Reiseschilderungen,  andere  dagegen  enthalten  in  gedrängtester 
Kürze  die  Ergebnisse  einer  langjährigen  Denkarbeit,  die  so- 
wohl auf  vielseitige  eigene  Beobachtungen,  wie  auf  Verarbeitung 
einer  Fülle  wissenschaftlichen  Quellenstoffes  der  verschiedensten 
Art  zurückzuführen  ist.  Die  meisten  sind  bereits  in  einigen 
unserer  besten  allgemeiner  Belehrung  gewidmeten  Zeitschriften 
erschienen,  wodurch  sie.  über  :^s  Jahre  verstreut,  wohl  der  Ver- 
gessenheit anheimgefallen  wären.  Der  freundliche  Leser  wird  er- 
wägen, ob  man  sie  nicht  diesem  Schicksale  hätte  überlassen  sollen. 
Einige  sind  eigens  zur  Ergänzung  für  diese  Sammlung  geschrieben, 
alle  sorgsam  nachgeprüft,  nicht  mehr  Richtiges  ausgemerzt  oder 
berichtigt,  aber  unter  mögüchster  Beibehaltung  der  ursprünglichen 
Darstellung,  namenthch  wo  sie  die  Zeitgeschichte  oder  den  je- 
weiligen Stand  der  Erkenntnis  wiederspiegelt.  Nicht  wenige  sind 
jedoch  geradezu  als  Neuauflagen  anzusehen. 

Entsprechend  der  Stelle  ihres  ersten  Erscheinens  wenden  sich 
die  meisten  an  den  weiten  Kreis  der  Allgemeingebildeten,  nicht 
etwa  an  die  Fachgeographen.  Ich  habe  mich  daher  auch  stets  um 
eine  möglichst  flüssige  Darstellung  bemüht.  Kritische  Erwägungen, 
Quellennachweise  u.  dgl.  sind  mit  Absicht  vermieden.  Rein 
wissenschaftliche,  nicht  allgemein  verständliche  und  nur  den  engen 
Kreis  der  Fachgeographen  anzuziehen  geeignete  Abhandlungen, 
mit  denen  ich  wohl  noch  einen  zweiten  Band  füllen  könnte,  sind 


—     IV     — 

ausgeschieden,  aber  ich  glaube,  daß  die  meisten  der  vorliegenden 
Abhandlungen  auch  dem  Fachmanne,  der  weiß,  daß  das  Mittel- 
raeergebiet  seit  ^^  Jahren  mein  besonderes  Arbeitsfeld  ist,  etwas 
zu  bieten  vermögen,  zumal  ihm  meine  größeren  wissenschaftlichen 
Werke  über  das  Mittelmeergebiet  und  die  Quellennachweise  be- 
quem erreichbar  sind. 

Ich  hoffe  namentlich  auch  dem  Verständnis  der  in  der  Weltpolitik 
und  im  Weltverkehr  von  Tag  zu  Tag  wieder  wichtiger  werdenden 
Mittelmeerländer  und  dem  Bedürfnisse  der  stetig  und  rasch  wachsen- 
den Zahl  derjenigen  entgegen  zu  kommen,  welche  das  Mittelmeer- 
gebiet in  größerer  oder  geringerer  Ausdehnung  zu  den  aller- 
verschiedensten  Zwecken  bereisen.  Möge  dies  Werk  auch  in  weiteren 
Kreisen  des  deutschen  Volkes  die  Überzeugung  wecken  oder 
stärken,  daß  wir,  wenn  wir  eine  Welt-  und  Welthandelsmacht 
sein  und  noch  mehr  werden  wollen,  uns  auf  die  Dauer  nicht  mit 
ästhetischen  und  wirtschaftlichen  Interessen  im  Bereiche  des  alten 
Kulturmeeres  begnügen  können,  das  zwei  bis  drei  Jahrtausende 
hindurch  der  Schauplatz  der  Geschichte  und  der  Ausgangspunkt 
aller  neuzeitlichen  Gesittung  gewesen  ist  und  dessen  Gestade- 
länder soeben  aus  jahrhundertelangem  Schlummer  zu  erwachen 
und  ihre  mehr  unentwickelten  als  verbrauchten  reichen  Hilfs- 
quellen zu  erschließen   beginnen. 

Marburg  a.  L.,  Februar    1905. 

Theobald  Fischer. 


Inhaltsübersicht. 


I.  Aus  dem  Orient.  Seite 

1.  Konstantinopel  (1905) l 

2.  Ein  Ausflug  von  Konstantinopel  zur  Höhle  von  Yarim-Burgas  (1872)  24 

3.  Landschaftsbilder  von  der  bithynischen  Riviera  (1872) 33 

4.  Die  geographische  und  ethnographische  Unterlage  der  orientalischen 

Frage  (1891) 42 

5.  Die  Dattelpalme  im  Kultur-  und  Geistesleben  des  Orients  (1881)  .     .       61 

II.  Palästina. 

Eine  länderkundliche  Studie  (1904) 74 

Allgemeine  Charakteristik  und  Entwicklungsgeschichte.  —  Die 
Küstenebene  95  —  Westjordanland  97  —  Jerusalem  r02  - —  Das 
Ghor  107  —  Sodom  und  Gomorrha  116  —  Ostjordanland  118  — - 
Das  Klima  121  —  Pflanzenwelt  128  —  Bevölkerung  133  — 
Wirtschaftliche  Verhältnisse  138  —  Verwaltungseinteilung  147  — - 
Zukunft  des  Landes   148. 

III.  Italien. 

1.  Italien.     Eine  länderkundliche  Skizze  (1893) 154 

Entwicklungsgeschichte    157  —    Bodenplastik    163  —  Klima   und 

Pflanzenwelt,  Bevölkerung  167  — Wirtschaftliche  Verhältnisse  170  — 

Volksdichte  und  Siedelungskunde    175. 

2.  Die  sizilische  Frage  (1875) 180 

3.  Ansiedelung  und  Anbau  in  Apulien  (1905) 204 

4.  Land  und  Leute  in  Korsika  (1894) 215 

IV.  Die  Iberische  Halbinsel. 

1.  Geographische   Skizze  der  Iberischen  Halbinsel  (1893) 236 

2.  Skizzen  aus  Südspanien  (1889) 255 


—     VI     — 

V.  Die  Atlasländer.  s,e\te 

1.  Die  Küstenländer  Nordafrikas  in  ihren  Beziehungen  und  in  ihrer  Be- 

deutung für  Europa  (1882) .  278 

2.  Zwischen  Tebessa  und  Gabes.    Reiseskizzen  aus   Südtunesien  (1886)  301 

3.  Reiseeindrücke  aus  Marokko  im  Jahre  1899  (1900) 333 

4.  Marokko.     Eine  länderkundliche  Skizze  (1903) 358 

5.  Französische  Kolonialpoliük  in  Nordwestafrika  (1894) 381 

6.  Fünfzehn  Jahre  französischer  Kolonialpolitik  in  Tunesien  (1886)  .    .  408 

7.  Tunis,  Biserta  und  Tunesien  im  Jahre    1904  (1904) 438 

8.  Palmenkultur  und  Brunnenbohrungen  der  Franzosen  in  der  Algerischen 

Sahara  (1880) 458 

Namen-  und  Sachregister 472 

Druckfehler 480 


I.  Aus  dem  Orient 


I.  Konstantinopel.^) 

Obwohl  oder  vielleicht  weil  ich  so  ziemlich  alle  wegen  der 
Reize  ihrer  Lage  gepriesenen  Großstädte  Europas  aus  eigener 
Anschauung  kenne,  bin  ich  geneigt  Konstantinopel  den  Vorrang 
vor  allen  einzuräumen.  Das  INIeer  in  seinen  verschiedenen  Er- 
scheinungsformen, die  Lage  fast  im  INIittelpunkte  der  Alten  Welt, 
auf  der  Grenze  zweier  Erdteile,  im  Verknotungspunkte  der  wich- 
tigsten Land-  und  Wasserstraßen,  die  reichen  geschichtlichen 
Erinnerungen,  das  heute  noch  überwiegend  morgenländisch-moham- 
medanische, aber  bereits  stark  von  abendländisch  -  christlichen 
Einflüssen  durchsetzte,  auch  den  Landschaftscharakter  beein- 
flussende Leben,  verleihen  diesem  natürlichen  Mittelpunkte  eines 
weiten,  zwei,  ja  zum  Teil  drei  Erdteilen  angehörigen  Länder- 
gebiets einen  eigenen  Reiz. 

Es  wird  möglich  sein,  die  topographische  und  die  geographische 
Lage  von  Konstantinopel,  d.  h.  die  Einflüsse  der  Örtlichkeit  selbst 
wie  ihrer  weiteren  Umgebung  schärfer  zu  erfassen,  wenn  ich  versuche, 
soweit  das  heute  bereits  möglich  ist,  auf  entwicklungsgeschichtlichem 
Wege  die  heutige  Verteilung  von  Land  und  Wasser  an  dieser  Erd- 
stelle, von  Hoch  und  Tief  an  der  Außenseite  der  Erdrinde  und 
die  sich  daraus  ergebenden  geographischen  Faktoren  herzuleiten. 

Wie  das  ganze  Mittelmeer  in  seiner  heutigen  Gestalt  und 
den  dasselbe  heute  kennzeichnenden  Zügen  jugendlichen  Alters 
ist,  so  sind  auch  die  Meere  und  Meeresteile,  die  hier,  durch 
schmale,    stromartige   Rinnen   miteinander   verbunden,    die   Hohl- 


I)  Es  dürfte  lehrreich  sein,  mit  dieser  1904  auf  Grund  zweimaliger 
längerer  Aufenthalte  in  Konstantinopel  geschriebenen  Studie  J.  G.  Kohls 
Schilderimg  in  „Die  geographische  Lage  der  Hauptstädte  Europas",  Leipzig 
1874  S.  I — 38  zu  vergleichen. 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  I 


formen  der  Erdrinde  füllen  und  die  über  den  Meeresspiegel 
aufragenden  Rindenteile  gliedern,  erst  in  einer  geologisch  der 
Gegenwart  sehr  nahe  liegenden  Zeit,  vielleicht  in  einer  Zeit  aus- 
gebildet worden,  wo  hier  bereits  der  vorgeschichtliche  Mensch 
lebte,  in  der  Diluvialzeit.  Konstantinopel  liegt  auf  einem  großen 
Bruchgürtel  der  Erde,  der  von  der  Straße  von  Gibraltar  her  die 
große  Festlandsmasse  der  Alten  Welt  gliedert  und  aufschließt 
und  sich  im  östlichen  Mittelmeere,  das  eben  ganz  an  diesen 
Bruchgürtel  gebunden  ist,  gabelt,  indem  er  sich  nach  Südosten 
im  Roten  Meere,  nach  Nordosten  im  Archipel,  im  Marmara-  und 
Schwarzen  Meere  bis  zum  Kaspischen  und  der  großen  aralo- 
kaspischen  Erdsenke  fortsetzt,  aber  vom  Schwarzen  Meere  aus  einer- 
seits auf  die  große  russische  Tafel  im  Asowschen  Meere  und  der  Bucht 
von  Odessa  hinüber,  andrerseits  längs  dem  Laufe  der  Donau,  der 
hier  an  die  echt  mediterranen  Senkungsfelder  der  walachischen  und 
der  niederungarischen  Tiefebene  gebunden  ist,  nach  Westen  tief  in 
den  gefalteten  Landgürtel  am  Nordrande  des  Mittelmeeres  hinein- 
greift. Damit  ist  schon  die  Vielseitigkeit  der  Beziehungen  dieser 
Erdstelle  angedeutet.  Alle  diese  heute  zum  Mittelmeer  vereinig- 
ten Meere  bezeichnen  eine  Kette  von  Einsturzkesseln,  die  durch 
stehen  gebliebene  Riegel,  unterseeische  Schwellen,  an  denen,  wie 
an  der  Straße  von  Gibraltar  und  von  Pantelleria  die  Erdteile  wie 
über  Landbrücken  zueinander  in  Beziehungen  treten,  voneinander 
geschieden,  sich  zum  Teil  erst  in  der  Diluvialzeit  gebildet  haben. 
In  die  hier  in  Frage  kommenden  ist  das  Mittelmeer  von  Süden 
und  Südwesten  her  eingetreten.  Noch  heute  sind  die  Brüche, 
auf  welchem  im  Bereiche  des  südUchen  Schwarzen  Meeres,  des 
Marmarameeres  und  des  Archipels  Krustenstücke  in  die  Tiefe 
sanken,  nicht  in  sich  verfestigt,  denn  diese  Gegenden  gehören 
noch  zu  den  am  häufigsten  und  heftigsten  von  Erdbeben  heim- 
gesuchten. Noch  1894,  am  10.  JuU,  richtete  ein  Erdbeben,  das  an 
den  Bruch  gebunden  gewesen  zu  sein  scheint,  der  vom  Golfe  von 
Ismid  her  durch  das  nördliche  Marmarameer  nach  dem  Goldenen 
Hörn  verläuft,  auf  den  Prinzeninseln  und  in  Konstantinopel  große 
Verheenmgen  an.  Wie  diese  Erderschütterungen  schließen  lassen, 
sind  hier  die  Bildungsvorgänge  noch  nicht  abgeschlossen.  Aber 
diese  Krustenbewegungen  lassen  sich  hier  weit  in  die  Tertiärzeit 
hinein  verfolgen.  In  der  jüngsten  Tertiärzeit,  dem  Oberpliozän, 
war    diese  Gegend  Festland,   wohl   von   beträchthcher  Höhe   und 


Ausdehnung,  so  daß  sich  ein  großer  Strom  bilden  konnte,  der 
ein  tiefes  Erosionstal  ausspülend  wohl  von  der  Gegend  des 
Schwarzen  Meeres  gegen  den  Archipel  hin  floß.  Durch  den 
Einbruch  des  Schwarzen  Meeres,  des  Marmarameeres  und  des 
Archipels  wurde  dieser  Strom  zerstückt,  der  Bosporus  und  der 
Hellespont  sind  die  noch  erhaltenen  Reste  seines  Erosionstales, 
die  aber  zu  Meerengen  wurden,  als  sich  gleichzeitig  mit  der 
Bildung  der  Einbruchskessel  auch  die  zwischen  denselben  stehen 
gebliebenen,  brückenartig  Europa  noch  mit  Asien  verbindenden 
Riegel  senkten,  so  daß  das  Meer  in  ihre  Hohlformen,  das  Tal 
des  großen  Stromes  und  seiner  Nebenflüsse  eindrang.  Dies  er- 
klärt, daß  der  Bosporus  noch  heute  den  Eindruck  eines  großen 
Flußtales  macht,  überraschend  ähnlich  dem  Durchbruchtale  des 
Rheins  durch  das  Schiefergebirge  zwischen  Bingen  und  Bonn. 
Das  Goldene  Hörn  bezeichnet  ein  Seitental,  das  von  einem  Neben- 
flusse wohl  auf  einer  Bruchlinie,  die  hier  das  Devon  vom  Tertiär 
der  Halbinsel  von  Konstantinopel  scheidet,  ausgewaschen  wurde, 
in  dessen  unteres  Ende  das  Meer  dann  eintrat,  während  es  von 
oben  durch  den  noch  vorhandenen  Nebenfluß,  den  vereinigten 
Kiathane  und  Ali  Bey  Su,  die  sogenannten  süßen  Wasser  von 
Europa,  mit  ihren  Sinkstofi'en  zugeschüttet  wurde.  Rings  um  die 
Ostküste  der  südosteuropäischen  Halbinsel,  vom  Marmarameere  bis 
nach  Südrußland  finden  sich  solche  in  der  Oberpliozänzeit  erodierte 
Flußtäler,  deren  untere  Enden  jetzt  mit  stehendem  Wasser  gefüllt 
sind,  allerdings  jetzt  meist  Brack-  oder  Süßwasser,  indem  die 
Küstenversetzung  und  Küstenströmung  schmale,  niedrige  Nehrungen 
vor  die  Talmündungen  geschoben  hat.  Diese  senkrecht  auf  der 
Richtung  der  Küste  stehenden  Küstenseen  sind  am  bekanntesten 
aus  Südrußland,  wo  man  sie  Limane  nennt,  eine  Bezeichnung, 
die  dort  noch  an  die  ehemalige  türkische  Herrschaft  erinnert,  da 
im  Bereiche  der  türkischen  Sprache  alle  diese  Meeresbuchten, 
auch  am  Bosporus,  Limane  heißen.  Aber  diese  türkische  Be- 
zeichnung geht  off'ensichtlich  auf  das  Seevolk  dieser  Erdgegend 
schlechthin  zurück,  auf  die  Griechen,  das  griechische  Atju.7jr  =  Hafen. 
Solche  Limane  begleiten  auch  die  Küste  des  Schwarzen  Meeres 
von  der  Donaumündung  bis  zum  Bosporus.  Der  See  von  Derkos, 
am  Schwarzen  Meere  nordwestlich  von  Konstantinopel,  schon  an 
seiner  Gestalt  als  überflutetes  Flußtal  erkennbar,  ist  ein  Liman  und 
ebenso  am  Nordrande  des  Marmarameeres  ganz  nahe  westlich  von 


—     4     — 

Konstantinopel  die  beiden  von  den  Türken  treffend  benannten 
Küstenseen  von  Kutschuk  und  Bojuk  Tschekmedsche,  da  sie  wirk- 
lich wie  eme  kleine  und  eine  große  Schublade  ins  Land  hinein- 
geschoben sind.  Wenn  das  Goldene  Hörn  nicht  auch  durch  eine 
Nehrung  abgeschlossen  ist,  so  erklärt  sich  das  sowohl  aus  der 
Tiefe,  mit  welcher  hier  das  Meer  in  das  Flußtal  eintrat,  wie 
namentlich  aus  der  starken  Strömung,  die  in  dasselbe  vom  Bos- 
porus her  eindringt.  Fünf  Kilometer  lang  in  das  Land  ein- 
greifend bildet  das  Goldene  Hörn  bei  einer  mittleren  Breite  von 
300  m  und  auf  reichlich  ein  Drittel  seiner  Erstreckung  35 — 40  m 
Tiefe,  mit  hohen  Ufern,  an  welchen  unmittelbar  die  größten  Schiffe 
Anker  werfen  können,  einen  der  herrlichsten  Häfen  der  Welt.  Die 
Verengung  auf  280  m  nahe  dem  Eingange,  dort  wo  heute  die 
große  Brücke  ihn  überschreitet,  ermöglicht  noch  erfolgreiche  Ver- 
teidigung gegen  einen  Feind,  der  schon  in  den  Bosporus  ein- 
gedrungen war.  Im  Altertum  wurde  der  Hafen  hier  oft  durch 
Ketten  gesperrt.  Die  Strömung,  die  nicht  stark  genug  ist,  um 
lästig  zu  fallen,  fegt  allen  Unrat  hinaus  und  erklärt  wohl  in  erster 
Linie,  daß,  abgesehen  vom  äußersten  Hintergrunde  und  kleinen 
Seitenbuchten  auch  im  Laufe  der  Zeit  keine  Verschlammung,  keine 
Minderung  der  Tiefe  eingetreten  ist  und  künstliches  Reinhalten, 
Baggern  u.  dergl.  überflüssig  erscheint.  Die  Landumschlossenheit 
verbürgt  aber  geringe  Wellenbewegung.  Das  Goldene  Hörn  ist  ein 
so  vorzüglicher  Naturhafen,  wie  es  deren  auf  der  Erde  nur  wenige 
gibt.  Alle  Seitenbuchten  des  Bosporus  sind  als  überspülte  Seiten- 
täler aufzufassen,  die  allerdings  zum  Teil  wieder  durch  die  ein- 
mündenden Bäche  zugeschüttet  sind,  am  auffälligsten  am  Tale 
von  Bojukdere,  dem  großen  Tale  (Dere  bedeutet  Flußtal). 

So  zerteilt  also  der  Bosporus  den  das  Schwarze  Meer  vom 
Marmarameer  scheidenden  Querriegel  in  zwei  schmale  Halbinseln, 
die  sich  von  Europa  und  von  Asien  her,  den  niedergelassenen 
Flügeln  einer  Zugbrücke  ähnlich,  einander  entgegenstrecken.  Eine 
dritte  noch  kleinere  Halbinsel  wurde  von  der  thrakischen  ab- 
gegliedert, indem  das  Meer  in  das  Seitental  des  Goldenen  Horns 
schlauchartig,  noch  heute  kilometerweit  eindrang.  Auf  dieser 
kleinen  Halbinsel  war  eine  so  ausgezeichnete  Stadtlage  gegeben, 
daß  man  den  Hohn  versteht,  mit  welchem  die  ersten  griechischen 
Ansiedler  überschüttet  wurden,  die  sich,  statt  an  diesem  Punkte, 
drüben    in    Chalkedon,     dem    heutigen    Kadi    Kjiöi,     auf    einem 


—     5     — 

stumpfen  Halbinselvorsprunge  auf  der  asiatischen  Seite  südlich 
vom  Eingange  in  den  Bosporus  niedergelassen  hatten. 

Wie  schon  an  den  Dardanellen,  so  ist  hier  am  Bosporus 
die  Schwelle,  welche  die  zwei  echt  mediterranen  Einbruchskessel 
des  Marmarameeres  und  des  Schwarzen  Meeres  voneinander 
scheidet,  nur  in  einer  schmalen  und  wenig  tiefen,  mit  Meerwasser 
gefüllten  Rinne  eingekerbt.  Hier  handelt  es  sich  also  um  eine 
im  wesentlichen  überseeische  Schwelle,  an  der  also  die  Erdteile 
in  viel  engere  Beziehungen  treten  müssen,  wie  an  den  auf  große 
Strecken  unterseeischen  Schwellen,  die  den  Eingang  ins  Mittel- 
meer in  der  Straße  von  Gibraltar  und  noch  mehr  die  Grenze 
zwischen  dem  mediterranen  Nordwest-  und  dem  Südostbecken 
zwischen  Sizilien  und  Tunesien  bezeichnen. 

Die  Ähnlichkeit  des  Bosporus  mit  dem  Rheintale  wird  um  so 
größer,  wenn  man  sich  letzteres,  entsprechend  der  größeren  Breite 
des  Bosporus  und  der  geringeren  Höhe  und  Steilheit  seiner  Tal- 
gehänge zu  größerer  Höhe  mit  Wasser  gefüllt  denkt;  denn  auch 
an  der  engsten  Stelle,  dort  wo  die  Türken  bei  der  Belagerung 
von  Konstantinopel  auf  beiden  Ufern  gewaltige  Festen  errichteten, 
die  noch  heute  stehen,  Anadoli  und  Rumeli  Hissar,  und  dieselben 
durch  Ketten  verbanden ,  ist  der  Bosporus  noch  660  m  breit,  so 
breit  wie  der  Rhein  zwischen  Mainz  und  Kastei.  An  andern 
Stellen  aber  verbreitert  er  sich  bis  auf  3  km.  Wie  unser  Rhein- 
tal ist  der  Bosporus  flußartig  gewunden,  mit  dem  gleichen  Paral- 
lelismus der  Ufer,  jedem  Vorsprunge  liegt  eine  Bucht  gegenüber. 
Die  Länge  der  Meerenge  beträgt  längs  des  Talweges  gemessen 
31,7  km  (die  Strecke  Bingen — St.  Goar  25,5  km),  die  gerade 
Entfernung  der  beiden  Ausgänge  nur  28,5  km  (Bingen — St.  Goar 
23,5  km).  Von  einem  erhöhten  Standpunkte  aus  erscheint  der  Bos- 
porus wie  das  Rheintal  in  eine  wellige  Hochfläche  eingeschnitten, 
die,  abgesehen  vom  Nordende,  aus  denselben  Gesteinen  aufgebaut 
ist,  wie  unser  rheinisches  Schiefergebirge  und  wie  dieses  als  eine 
Denudations-  bzw.  Abrasionsfläche  aufzufassen  ist.  Es  sind  dieselben 
unterdevonischen  (stellenweise  vielleicht  obersilurischen)  Grauwacken 
und  dunkeln  Tonschiefer,  zu  denen  auf  der  kleinasiatischen  Seite 
eingelagerte  Quarzite,  die  auch  hier  die  höchsten  gerundeten  Er- 
hebungen bilden,  und  Kalkmassen  kommen,  alle  Schichten  wie 
im  rheinischen  Devon  stark  zusammengefaltet  mit  im  allgemeinen 
nordnordöstlichen,  also  dem  Bosporus  parallelen  Strichen.     Auch 


—     6     — 

das  Pflanzenkleid,  das  diese  meist  magere  und  wenig  fruchtbare 
Verwitterungsschicht  bedeckt,  zeigt,  wenn  auch  ganz  anders  zu- 
sammengesetzt, in  seiner  Dürftigkeit  Anklänge  an  die  ja  in  großer 
Ausdehnung  mit  niedrigem  Hauwald  von  Eichen,  Ginster  und 
ähnlichem  Gestrüpp  bedeckten  Höhen  und  Hänge  unseres  rhei- 
nischen Schiefergebirges.  Nur  in  den  Tälern  und  an  den  Ufern 
des  Bosporus  finden  sich  Anbau,  Gärten  und  Baumpflanzungen 
und  ist  die  auf  den  türkischen  Friedhöfen  ganze  Haine  bildende 
dunkle,  schlanke  Zypresse  die  einzige  Baumform,  die  trotz  der 
niederen  Breite  von  41  Grad  Nord,  also  der  Breite  von  Neapel, 
an  den  Süden  erinnert.  Die  durch  Nord-  und  Nordostwinde 
vom  Schwarzen  Meere  und  aus  Südrußland  herbeigeführte  winter- 
liche Kälte  hält  hier  noch  fast  alle  immergrünen  Mediterran- 
gewächse fern.  Der  Bosporus  und  die  niedrige  Schwelle  der 
thrakischen  und  bithynischen  Halbinsel  ist  das  schlimmste  Zug- 
loch, durch  welches  die  Kälte  des  Nordens  in  das  hier  durch 
keinen  hohen  gefalteten  Gebirgswall  geschützte  Mittelmeergebiet 
einbricht,  die  noch  oft  genug  an  der  Ostseite  von  Griechenland  bis 
in  die  Breite  von  38^  Nord  die  Ölbäume  erfrieren  macht.  Schnee- 
fälle sind  in  Konstantinopel  keine  Seltenheit.  Noch  im  Jahre  1 903 
fielen  hier  solche  Schneemassen,  daß  der  Straßenverkehr  dadurch 
tagelang  unterbrochen  wurde.  Ja,  aus  dem  Mittelalter  sind  Winter 
bezeugt,  in  denen  der  Bosporus  mit  Eisschollen  trieb.  Nur 
wenige  Ortschaften,  von  ärmlichen  Ackergründen  umgeben,  wie  die 
Dörfer  der  Eifel,  sind  beiderseits  über  die  Hochfläche  zu  beiden 
Seiten  des  Bosporus  verstreut.  Gestrüppdickichte,  denen  allerdings 
die  Baumheide,  wo  sie  in  Menge  auftritt,  im  Frühling,  wenn  sie 
sich  mit  einer  Fülle  weißer,  duftiger  Blütenglocken  bedeckt,  einen 
besonderen  Reiz  verleiht,  bedecken  unabsehbar  Höhen  und 
Hänge.  Nur  an  zwei  Stellen,  an  dem  noch  zu  besprechenden 
Heiligen  Walde  von  Belgrad  und  auf  der  kleinasiatischen  Seite, 
ziemlich  fern  von  Konstantinopel,  im  Walde  Alem  Dagh  gehen 
die  Gestrüppe  in  hohen  Wald  über,  ja  in  letzterem  im  sogenannten 
Vakuf-Ormani,  in  wahren  jungfräulichen  Urwald.  Nur  auf  diesen 
verhältnismäßig  kleinen  Bereich  ließe  sich  vielleicht  die  in  Wirk- 
lichkeit nicht  mehr  vorhandene  Bezeichnung  ,, Baummeer"  (Agatsch 
Denisi)  anwenden,  von  dem  man  in  Konstantinopel  so  viel  hört 
und  das  noch  immer  auf  den  Karten  spukt.  Häufig,  namentlich 
in  dem  ganzen  Gürtel  gegen   das  Schwarze  Meer  hin,  sind  diese 


—     7     — 

Gestrüppdickichte,  die  sich  nur  durch  ihre  Zusammensetzung  aus 
vorwiegend  laubabwerfenden  Sträuchem  von  den  immergrünen 
mediterranen  Macchien  unterscheiden,  so  hoch  und  so  dicht,  daß 
sie  fast  undurchdringlich  sind  und  man  sich  leicht,  da  nur  wenige 
erhöhte  Punkte  eine  Übersicht  gestatten,  unrettbar  verirren  kann. 
Der  Gegensatz  zwischen  diesen  fast  menschenleeren  unabsehbaren 
Gestrüppdickichten  über  den  lachenden  Ufern  des  Bosporus  ist 
ebenso  groß  wie  zwischen  den  Ufern  des  Rheins  mit  seinen  sich 
aneinander  reihenden  Städten  und  Dörfern,  mit  ihren  Weinbergen 
und  Obsthainen  und  dem  rasch  pulsierenden  Leben  auf  und  am 
Strome  imd  den  rauhen  Höhen  der  Eifel  oder  des  Westerwaids, 
obwohl  die  Höhenunterschiede  in  der  alten  Devonscholle,  in 
welche  der  Bosporus  eingeschnitten  ist,  wesentlich  geringere  sind, 
wie  im  rheinischen  Schiefergebirge.  Dieselbe  hat  zu  beiden  Seiten 
des  Bosporus  nur  eine  Höhe  von  etwa  150  m  und  die  höchste 
Erhebung  in  derselben,  schon  ziemlich  weit  nach  Osten  abgerückt, 
der  Aldos  Dagh  nördlich  von  Pendik  hat  nur  531  m.  Freilich 
die  meisten  Flüsse  und  Bäche,  die  die  einförmige  Hochfläche 
gegliedert  haben,  liegen  im  Spätsommer  trocken  da,  da  hier  noch 
echt  mediterran  die  Niederschläge  noch  auf  den  Winter  angehäuft 
und  die  Sommer  sehr  regenarm  sind.  Diese  Verödung  der  Um- 
gebung von  Konstantinopel,  das  darin  Rom  gleicht,  ist  so  zum 
Teil  etwas  natürlich  Gegebenes,  zum  Teil  aber  eine  Folge  der 
Erschöpfung  des  Bodens  infolge  zu  starker  Inanspruchnahme  Jahr- 
tausende hindurch. 

Mit  diesem  Wechsel  einer  regenreichen  und  einer  regenarmen 
Jahreszeit,  noch  mehr  aber  mit  dem  der  Bildung  stärkerer  Quellen 
ungünstigen  geologischen  Aufbaue  des  Landes,  dem  Überwiegen 
undurchlässiger  Felsarten  hängt  auch  die  Schwierigkeit  der  Wasser- 
beschaffung für  eine  Großstadt  an  dieser  Erdstelle  zusammen.  In 
dieser  Hinsicht  ist  Ostrom  sehr  viel  ungünstiger  gestellt  wie  Rom, 
dem  die  Kalkstöcke  des  Appennin  die  Wasserschätze  ihrer  starken 
Quellen  zusenden.  Schon  im  Altertum  spielte  HerbeischaflFung 
von  Wasser  eine  große  Rolle.  Die  römischen  Kaiser  legten  für 
den  Fall,  daß  die  Leitungen  zerstört  würden,  riesige  Zisternen, 
teils  offen,  teils  überwölbt,  auf  den  höchsten  Punkten  der  Stadt 
an,  die  die  Türken  haben  verfallen  lassen.  Aber  1200  Jahre 
alt  führt  noch  heute  der  gewaltige  von  Schlingpflanzen  über- 
wucherte Aquädukt,  den  Kaiser  Hadrian  begonnen,  Valens  voll- 


endet  hat,  von  den  Türken  Bosdoghan-Kemeny  genannt,  über 
ein  Tal  hinweg  dem  Herzen  von  Stambul  Wasser  zu.  Die  Sul- 
tane des  i6.  und  17.  Jahrhunderts  haben  die  Leitungen  verbessert 
und  die  Sammelbecken  (Bend)  vermehrt.  Am  Nordrande  der 
thrakischen  Halbinsel  nämlich,  nahe  dem  Schwarzen  Meere,  hat 
sich  auf  den  abgetragenen  Devonschichten  inselförmig  aufgelagert 
eine  etwa  10  m  mächtige  Geröllablagerung  wohl  pliozänen  Alters 
erhalten,  an  deren  Sohle  auf  der  undurchlässigen  Unterlage  der 
Devonschiefer  starke  Quellen  zutage  treten,  deren  Wasser  in 
künsthchen  Weihern,  den  sogenannten  Bend,  gesammelt  und  nach 
Konstantinopel  geleitet  wird.  Der  größte  dieser  Bends  ist  800  m 
lang  und  faßt  8 — 10  Mill.  Kubikfuß  Wasser.  Um  diese  Quellen 
nicht  versiegen  zu  machen,  wird  der  gewöhnlich  nach  einem  Dorf 
Belgrad  genannte  W^ald,  der  dies  Gebiet  bedeckt,  ein  beliebtes 
Ausflugsziel  der  in  Konstantinopel  wohnenden  Europäer,  von  jeher 
sorgsam  geschont  und  bewacht,  ja  neuerdings  ist  die  türkische 
Regierung  dazu  geschritten,  die  Bewohner  der  beiden  Dörfer  Bel- 
grad und  Kömürdjikjiöi,  um  Holzdiebstahl  und  Verunreinigung  der 
sieben  durch  das  Waldrevier  verstreuten  Bends  zu  verhüten,  zu 
verpflanzen  und  die  Dörfer  in  Trümmer  fallen  zu  lassen.  Ein 
drittes  Dorf  Aiwafkjiöi  ist  schon  in  früherer  Zeit  aus  diesem  Grunde 
wüst  gelegt  worden.  Aber  trotz  dieser  Fürsorge  ist  Wasser  in 
Konstantinopel  immer  eine  kostbare  Gabe  und  sind  im  Sommer 
^venigstens,  wo  die  zahlreichen  Hauszisternen  versiegen,  Wasser- 
verkäufer Charakterfiguren  im  Straßenbilde. 

Nur  der  nördliche,  der  sogenannte  obere  Bosporus,  zeigt 
von  unserm  Rheintale  abweichende  Formen,  denn  er  ist  in  Erup- 
tivgesteine, namentlich  Andesite  eingeschnitten,  deren  größere 
Widerstandsfähigkeit  steilere  Hänge  —  oft  wahre  Felswände  — 
und  größere  Höhe  bedingt,  so  daß  hier  kaum  Raum  für  Ansied- 
lungen  ist,  die,  alle  klein  und  ärmlich,  mehr  zu  Wasser  als 
durch  felsige  Pfade  miteinander  verbunden,  sich  in  den  Aus- 
gängen kleiner  Täler  eingenistet  haben.  So  ist  hier  am  oberen 
Bosporus  der  Landschaft  auch  infolge  der  dunkeln  Färbung  der 
Felsen  ein  ernster,  düsterer  Zug  aufgeprägt,  der  schon  auf  das 
kurzwellige,  insel-  und  hafenarme,  ungastliche  Schwarze  Meer 
vorbereitet.  Gemildert  wird  dieser  Eindruck  keineswegs  durch 
die  wahre  Musterkarte  älterer  und  neuerer  Befestigungen  und  mit 
schweren  Geschützen  gespickten  Batterien,  die  die  Ufer  bedecken 


—     9     — 

und  Konstantinopel  gegen  die  Angriffe  der  russischen  Schwarze- 
meerflotte  schützen  sollen,  wie  ähnliche  Befestigungen  an  den 
Dardanellen  gegen  eine  von  Süden  kommende,  etwa  englische 
oder  französische  Flotte. 

Einem    Strome   gleicht   der   Bosporus    auch   insofern,    als    er 
wirklich  mit  fließendem,  örtlich  sogar  mit  stark  strömendem  Wasser, 
allerdings  salzigem,  wenn  auch  nur  schwach  salzigem  (i.Q^o  Salz- 
gehalt)  gefüllt    ist.     Durch    ihn    gibt    das    Schwarze   Meer   seinen 
durch  die  zahlreichen  und   großen  Ströme,  die  es  aufnimmt,  be- 
dingten Wasserüberschuß    an    das  Mittelmeer  ab,  von  dessen  ge- 
waltigem  Verdunstungsverlust    allerdings    der    Bosporusstrom    nur 
einen    Bruchteil    zu    ersetzen   vermag.      Auch    strömt    das   Wasser 
nur   in    der   oberen   etwas   größeren  Hälfte    des    Querschnitts    der 
Rinne   aus    dem  Schwarzen  Meere   aus,    die    untere  ist  von  einer 
entgegengesetzten    Strömung     eingenommen,    welche    salzhaltiges 
Mittelmeerwasser  dem  Schwarzen  Meere  zuführt,   das  ohne  diesen 
Unterstrom  schon  längst  ausgesüßt  sein  müßte.      An  den  engsten 
Stellen   ist    die    Strömung,    namentlich   an    den    Landvorsprüngen, 
so  stark,  daß  man  es  vorzieht,  die  Boote    an  Tauen  vom  Lande 
aus    zu    ziehen,    da    es    sehr    schwer    ist,    rudernd    dagegen   an- 
zukämpfen.    Beträgt  doch  die  Stromgeschwindigkeit   in    der  eng- 
sten und  tiefsten  Stelle  im  Sommer  unter  dem  Einfluß  der  nörd- 
Uchen  Winde  und  des  dann  infolge  des  Hochwassers  der  Ströme 
hohen    Standes    des   Schwarzen    Meeres    9,5  km    in    der    Stunde, 
d.  h.  mehr  wie  die  Donau  bei  Wien  bei  mittlerem  Wasserstande. 
Den   Teufelsstrom,    Scheitan    Akentisi,    nennen    die  Türken  diese 
Gegend    der   stärksten    Strömung.     Auch    die    Schiff"ahrt  wird  von 
der    Strömung    beeinflußt,    Segelschiff"e    müssen    sich    gegen    den 
Strom  schleppen  lassen.     Gesundheitlich  ist  dieser  Salzstrom,   der 
allen  Unrat,    der   hineingeworfen   oder   vom   Lande   hineingespült 
wird,    ins    Marmarameer    hinausträgt,    von    unschätzbarem    Wert. 
Unterstützt  in  dieser  Wirksamkeit   und   zugleich  verstärkt  wird  er 
gerade    in    der  Zeit,  wo  es  am   nötigsten  ist,  im  Sommer,  durch 
den  dann  monatelang  andauernden  Nord-  und  Nordostwind,  die 
Etesien  der  alten  Griechen,  der  frische,  reine  Seeluft  vom  Schwar- 
zen Meer  her  zuführt  und  namentlich  den  Aufenthalt  am  oberen 
Bosporus,  in  Therapia  und  Bojukdere,  wo  daher  im  Sommer  die 
europäischen  Gesandten  wohnen,  so  angenehm  macht.     Während 
des  W'inters    dagegen   ist   das    Leben    am   Bosporus    dem    Süden 


lO       — 

zugekehrt,  dem  Marmarameere,  dessen  hohe  nach  Süden  geneigte 
Nordgestade,  besonders  an  der  höheren  bithynischen  Halbinsel 
und  auf  den  lieblichen  Prinzeninseln,  so  milde  Winter  haben,  daß 
dort  der  Ölbaum  gedeiht.  Konstantinopel  kann  daher  schon  jetzt 
als  eine  gesunde  Stadt  gelten  und  wird  vielleicht  die  gesundeste 
Weltstadt  sein,  wenn  einmal  europäische  gesundheitliche  Ein- 
richtungen zur  Durchführung  gekommen  sein  werden. 

Mit  der  Strömung,  welche  die  Gewässer  des  Schwarzen 
Meeres  durch  diese  enge  Rinne  zusammendrängt,  hängt  wohl 
auch  der  Fischreichtum  des  Bosporus  zusammen,  der  außer- 
ordentlich ist.  Nicht  nur  ein  kleiner  sardellenartiger  Fisch,  dort 
Ziros  genannt,  wird  in  großen  Mengen,  besonders  im  Frühling 
gefangen,  sondern  vor  allem  auch  der  mächtige  Thunfisch,  dessen 
Schwärme  sich  im  Altertume,  scheint  es,  viel  mehr  wie  heute  in 
der  Meerenge  und  besonders  im  Goldenen  Home  zusammen- 
drängten, so  daß  ihr  Fang  wesentlich  zur  Ansiedlung  der  Griechen 
an  dieser  Stelle  und  der  Handel  mit  geräuchertem  Thunfisch  zum 
Aufblühen  von  Byzanz  beitrug. 

Die  Stätte  des  ältesten  Byzanz,  die  gegen  den  hier  an  der 
heutigen  Seraispitze  nur  1800  m  breiten  Eingang  des  Bosporus 
vom  Marmarameere  her  vorgestreckte  Spitze  der  durch  das  Gol- 
dene Hörn  ausgesonderten  Halbinsel,  die,  vom  Meere  ziemlich 
hoch  aber  mit  gutem  Baugrunde  ansteigend,  nur  an  der  Land- 
seite einer  schützenden  Mauer  von  etwa  1500  m  Länge  be- 
durfte, erschien  von  der  Natur  so  begünstigt,  daß  man  die  ersten 
griechischen  Ansiedler  an  diesen  Küsten,  die  sich  in  Chalkedon 
auf  der  asiatischen  Seite  auf  der  weit  weniger  gut  ausgesonderten 
Halbinsel  niedergelassen  hatten,  die  heute  Kadikjiöi  trägt,  der 
Blindheit  zieh.  Die  erste  Gründung  einer  griechischen,  dorischen, 
Niederlassung  an  Stelle  einer  thrakischen  Burg  des  Byzas,  daher 
Byzantion  genannt,  wird  in  das  Jahr  667  v.  Chr.  gesetzt.  Von 
den  Thrakern  zerstört,  aber  628  erneuert,  blühte  Byzantion 
durch  Ausbeutung  der  Fischereien  —  das  alte  Byzanz  führte 
einen  Fisch  im  Wappen  und  Fischnahrung  hat  bei  Belagerungen 
oft  eine  Rolle  gespielt  — ,  durch  Beherrschung  des  gesamten 
Handels  von  und  nach  dem  Schwarzen  Meere,  besonders  der 
Getreideausfuhr  aus  den  Getreideländern  desselben,  die  also  seit 
2^1^  Jahrtausenden  eine  Rolle  spielt,  bald  derartig  auf,  daß  der 
Umfang    ihrer    Mauern    40  Stadien,    7 — 8  km    Länge    erreichte. 


Als  Seestadt  und  als  Beherrscherin  der  Wasserstraßen  ist  also  Byzanz 
zuerst  groß  geworden.  Und  diese  Rolle  spielt  auch  noch  das  heutige 
Konstantinopel  freilich  fast  ohne  eigene  Rederei.  Reichten  die  Be- 
ziehungen von  Byzanz  lange  wohl  nur  bis  Griechenland,  so  die  von 
Konstantinopel  heute  über  alle  Gestade  des  Mittelmeers  bis  nach 
Nordwest-Europa  und  durch  den  Suezkanal  bis  Indien.  Byzanz 
vermochte  sich,  wenn  auch  unter  wechselnden  Schicksalen,  als 
kleiner  griechischer  Freistaat  bis  in  römische  Zeit  zu  behaupten, 
wo  sie  durch  Kaiser  Konstantin  neu  gegründet  und  nach  ihm 
benannt  als  Hauptstadt  des  römischen,  später  oströmischen, 
Reichs  erst  ihre  volle  weltgeschichtliche  Bedeutung  erlangte. 
Dies  beruhte  zunächst  darauf,  daß  sie  schon  lange  nicht  mehr 
am  Rande  der  griechischen  Welt  lag,  sondern  in  dem  ganzen 
weiten  Bereiche  der  Getreideländer  des  Schwarzen  Meeres  ein 
großes  wirtschaftliches  Hinterland  besaß,  das  gegen  diesen  Mittel- 
punkt gravitierte  und  nur  durch  ihn  mit  dem  übrigen  mediter- 
ranen Kulturkreise  verkehrte.  Die  in  das  Schwarze  Meer  mün- 
denden großen  Ströme  waren  ebensoviele  Handelsstraßen,  die 
schließlich  in  Konstantinopel  zusammenliefen,  zu  denen  aber  die 
Wasserstraßen  längs  der  Gestade  dieses  Meeres,  namentlich 
längs  dem  Nordrande  Kleinasiens  und  zahlreiche  Karawanen- 
wege hinzukamen,  die  aus  dem  osteuropäischen  Flachlande  und 
von  der  aralokaspischen  Senke  her  am  Asowschen  Meere  und 
an  der  Bucht  von  Odessa  ausmündeten.  Durch  die  Ausdehnung 
des  römischen  Reichs  nach  Osten  hin  kam  aber  zu  diesem 
nördlichen  ein  ebenso  großes  östliches  „Hinterland"  hinzu.  Die 
Gunst  der  geographischen  Lage  erwies  sich  als  ebenso  groß  wie 
die  der  topographischen.  Dazu  kamen  nun  alle  Vorteile  der 
Hauptstadt  eines  großen  Reichs.  So  wurde  Konstantinopel  in 
spätrömischer  Zeit  eine  Weltstadt,  eine  Rolle,  die  es  das  ganze 
Mittelalter  hindurch  spielte,  wie  namentlich  die  arabischen  Geo- 
graphen sie  stets  als  solche  bezeichnen.  Wie  bis  zu  den  Arabern 
Nordafrikas  und  Spaniens,  zu  den  eben  erst  sich  höherer 
Kultur  erschließenden  Völkern  Mittel-  und  Nordwest-Europas,  so 
dringt  ihr  Ruhm  durch  Vorderasien,  ja  vielleicht  bis  Ostasien, 
nach  beiden  Seiten  auf  Landwegen. 

Es  sind  besonders  vier  solcher  Landwege,  die  hier  zu- 
sammenlaufen und  weite  Länder  mit  gegensätzlicher  natürlicher 
Ausstattung   ihrer  Erzeugnisse    auf  denselben   auszutauschen    an- 


12 

spornen,  wie  dies  bei  den  schon  angedeuteten  Wasserstraßen  an 
diesem  Punkte  der  Fall  ist.  Die  kleinasiatische  und  die  süd- 
osteuropäische Halbinsel  sind  die  Träger  dieser  Landstraßen  und 
erscheinen  so  gleichsam  wie  die  zwei  Flügel  einer  Zugbrücke, 
die  niedergelassen  die  Ländermassen  Vorderasiens  und  Mittel- 
europas miteinander  verbinden.  Die  Oberflächengestalt  beider 
Halbinseln  gibt  dem  einen  Paare  westöstliche,  dem  andern  nord- 
westsüdöstliche Richtung.  Letztere  ist  die  bei  weitem  wichtigere. 
Wir  können  beide  als  sich  in  Konstantinopel  schneidende  Ge- 
rade auffassen.  Die  Nordwestsüdostrichtung  erscheint  besonders 
auf  der  südosteuropäischen  Halbinsel  als  scharf  orohydrographisch 
bedingt,  indem  die  Gewässer  der  großen  alten  rumelischen 
Scholle,  des  Kerns  der  ganzen  größeren  Osthälfte  der  Halbinsel, 
auf  der  einen  Seite  von  dem  großen  niederungarischen  Senkungs- 
felde, durch  welches  die  Donau  aus  Deutschland  der  südost- 
europäischen Halbinsel  zustrebt,  angezogen  werden,  also  der 
den  Nordrand  der  Halbinsel  begleitenden  Donau  zustreben, 
Nischawa-Morawa,  auf  der  andern  Seite  von  den  thrakischen, 
einer  Fortsetzung  des  ägäischen  Bruchgebiets,  Maritza  und  Ergene, 
Diese  wichtigste  Verkehrslinie  der  ganzen  südosteuropäischen 
Halbinsel,  die  Konstantinopel  mit  Belgrad,  dem  hydrographischen 
Mittelpunkte  der  ganzen  mittleren  Donau,  verbindet,  hat  un- 
gefähr in  der  Mitte  zwischen  beiden,  um  das  in  die  rumelische 
Scholle  eingesenkte,  durch  die  Iskerschlucht  quer  durch  den 
Balkan  zur  Donau  entwässerte  Becken  von  Sofia  zu  erreichen, 
zwei  Gebirgsschwellen  zu  übersteigen,  die  eine  zwischen  Nischawa 
und  Isker,  die  im  letzten  Kriege  zwischen  Serben  und  Bulgaren 
umkämpften  Höhen  von  Dragoman  und  Sliwnitza,  726  m,  die 
andere  zwischen  Isker  und  Maritza,  der  Paß  von  Vakarel  845  m 
hoch.  Die  alte  römische  Heerstraße,  deren  Pflaster,  wenn  auch 
von  den  Türken  wiederhergestellt,  man  noch  im  16.  Jahrhundert 
benützte,  war  hier  durch  Mauer  und  Tor  geschlossen,  das  man 
seit  dem  15.  Jahrhundert,  gewohnt,  alle  großen  Römerbauten 
hier  im  Südosten  mit  dem  großen  Kaiser  in  Beziehungen  zu 
setzen,  Trajanstor  nannte.  Im  Altertum  und  noch  im  Mittelalter 
hieß  es  Succorum  claustra.  Die  Türken  nannten  es  Kapulu 
Derbend  (Torpaß).  Der  Pascha  von  Sofia  hat  dieses  geschichtlich 
merkwürdige  Denkmal,  das  von  allen  abendländischen  Gesandt- 
schaften erwähnt  wird,    1835    abgetragen.      Nur   ein   kleines  Tor 


—      13     — 

mit  einem  Turme  ist  noch  in  dichtem  Buchenwalde  erhalten. 
Hier  lag  die  Grenze  zwischen  Ost  und  West,  zwischen  lUiricum 
und  dem  Orient.  Auf  dieser  Diagonallinie  haben  sich  die  römi- 
schen Heere,  die  Heere  der  Kreuzfahrer  und  die  türkischen 
Heere  bewegt,  welche  gegen  Ungarn  und  Mitteleuropa  vor- 
rückten. Wie  schon  die  Römer  sie  durch  Militärstationen  ge- 
sichert hatten,  so  hatten  die  Türken  an  ihr  Militärkolonien  an- 
gelegt, mohammedanische  Inseki  im  unterworfenen  christlichen 
Lande.  Ihr  folgt  heute  die  große  internationale  Eisenbahnlinie 
Paris-Konstantinopel,  eine  Linie,  welcher  heute  aus  dem  Herzen 
Europas  nach  Südosten  vordringend,  deutsche  Gesittung  und 
deutscher  Handel  unaufhaltsam  folgt,  wie  sich  schon,  abgesehen 
von  den  mindestens  27^  Millionen  Deutschen  in  Ungarn,  in  den 
starken,  stetig  wachsenden  deutschen  Kolonien  in  den  End- 
punkten Belgrad  und  Konstantinopel,  wie  in  dem  Zwischenpunkte 
Sofia  ausprägt.  Wie  so  auf  diesem  Landwege  aller  Verkehr, 
der  aus  dem  Donaugebiete  und  Mitteleuropa  nach  dem  Orient 
geht,  Konstantinopel  erreicht,  so  auch  der  Verkehr,  der  sich  der 
Donau  als  Wasserstraße  bedient.  In  Kleinasien  setzt  sich  diese 
Südostlinie  in  gleicher  Richtung  über  das  allenthalben  wegsame 
innere  Hochland  nach  der  Oasenstadt  Konia  und  den  kilikischen 
Toren  fort,  dem  Über-  bzw.  Durchgange  durch  den  kilikischen 
Taurus  nach  Syrien  und  Mesopotamien:  die  Linie  der  durch 
deutschen  Unternehmungsgeist  gebauten  sogenannten  Bagdadbahn, 
die  Ende  1904  bereits  bis  an  den  Gebirgswall  des  Taurus  er- 
öffnet ist,  künftig  der  kürzeste  Weg  nach  Indien.  Konstantinopel 
wird  so  in  nicht  ferner  Zukunft  der  wichtigste  Punkt  an  einer 
der  wichtigsten  Linien  des  Schnellverkehrs  werden. 

Die  westöstliche  Linie  wird  durch  die  Nordküste  des  grie- 
chischen Inselmeers  bestimmt.  Von  Saloniki  aus  überschreitet 
sie  den  gefalteten  Gebirgswall,  welcher  der  Westseite  der  süd- 
osteuropäischen Halbinsel  ihren  Charakter  aufprägt  und  die  große 
meridionale  Erstreckung  derselben  bedingt,  mit  Hilfe  der  auch 
sie  kennzeichnenden  Becken,  dem  von  Ostrowo,  von  Monastir, 
von  Ochrida,  und  endigt,  fast  von  Ochrida  an  dem  Quertale  des 
Schkumbi  folgend,  bei  Durazzo.  Die  Römer  hatten  diese  Linie, 
die  allerdings  westlich  und  östhch  vom  Ochrida-See  Höhen  von 
1 100  m  überschreiten  muß,  zur  Via  Egnetia  ausgebaut,  die  zwischen 
Brundisium  und  Dyrrhachium,  das  Adriatische  Meer  querend,  Rom 


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mit  Konstantinopel  verband.  Auch  sie  ist  bis  nach  Monastir 
durch  eine  Eisenbahn  ersetzt,  die  sich  als  anatolische  Bahn  in 
der  gleichen  Richtung  von  Haidar  Pascha  an  der  asiatischen 
Seite  des  Bosporuseingangs  heute  bis  Angora  fortsetzt,  als  ur- 
alter Verkehrsweg  aber  bis  nach  Sivas,  Armenien  und  Persien. 
Beide  Eisenbahnen  verdanken  deutschem  Unternehmungsgeist  ihr 
Dasein.  So  ist  Konstantinopel  der  Schnittpunkt  von  Land-  und 
Wasserstraßen,  die  zu  den  geschichtlich  wichtigsten  der  Erde 
gehören  und  auch  in  Zukunft  wieder  große  wirtschaftliche  Be- 
deutung erlangen  werden. 

Daß  diese  Landstraßen  den  Bosporus  aufsuchten  und  ihn  an 
seinem  Südende  überschritten,  nicht  etwa  am  Nordende  oder 
die  Dardanellen,  erklärt  sich  daraus,  daß  ersteres,  wie  wir 
sahen,  unwirtlich  und  schwer  zu  überschreiten,  letztere  für  den 
Verkehr  abgelegen  waren  und  nicht  entfernt  einen  Punkt  von 
gleicher  topographischer  Begünstigung  besaßen.  Sowohl  von  der 
europäischen,  wie  von  der  asiatischen  Seite  kann  man  die  Dar- 
danellen, die  auch  an  der  engsten  Stelle  noch  doppelt  so  breit 
sind  wie  der  Bosporus,  nur  auf  Umwegen  erreichen. 

Aber  noch  ein  Umstand  ist  für  die  Lage,  für  die  Eignung 
von  Konstantinopel  zur  Hauptstadt  eines  großen  Reichs  und  für 
die  Entwickelung  zu  einer  Welthandelsstadt  von  größter  Be- 
deutung: die  natürliche  Festigkeit,  die  Unangreifbarkeit  sowohl 
zu  Lande,  wie  zu  Wasser.  Sie  verbürgte  ununterbrochene  Ent- 
wickelung, Anhäufung  von  Reichtümern,  Kulturschätzen  und  Bil- 
dungsmitteln jeder  Art,  selbst  in  Zeiten  des  tiefsten  Niedergangs 
und  völliger  militärischer  Ohnmacht.  Beide,  die  günstige  Ver- 
kehrslage und  die  natürliche  Sicherheit  verleihen  dieser  Erd- 
stelle eine  Lebenskraft,  die  kaum  ihres  gleichen  auf  der  Erde 
hat.  Seit  beinahe  2000  Jahren  blüht  hier  eine  Weltstadt,  die  an 
Dauer  wohl  nur  von  der  „ewigen"  Stadt  übertroflfen  wird,  aber 
keine  Periode  so  tiefen  Niedergangs  gehabt  hat  wie  diese. 
Diese  beiden  Eigenschaften  seiner  Hauptstadt  allein  ermöglichten 
dem  byzantinischen  Reiche  sich  durch  alle  Stürme  der  Völker- 
wanderung hindurch,  ein  Jahrtausend  länger  wie  das  west- 
römische zu  erhalten,  wenn  auch  zuletzt  wie  ein  lebendes  Fossil 
aus  dem  Altertume  und  lange  nur  auf  die  Hauptstadt  beschränkt. 
Diese  selbst  aber  ließ  den  Niedergang  des  Reichs  nur  in  ge- 
ringem Maße  erkennen;   denn  lange  vor  der  Eroberung  von  Kon- 


stantinopel  durch  die  Türken  (1453)  war  die  wirtschaftliche  Kraft, 
die  untilgbar  dieser  Erdstelle  innewohnt,  dem  verkommenen 
Herrschervolke  entglitten  und  wieder  rasch  wachsend,  in  die 
Hände  von  weit  hergekommener  Ansiedler  übergegangen,  die 
zuerst  schüchtern  und  geduldet,  bald  aber  als  die  wahren  Herren 
auftraten  und  den  gesamten  Handel  und  Verkehr  beherrschten : 
die  Italiener.  Wiederum  wie  in  altgriechischer  Zeit  überwog  der 
Seehandel.  Die  Genuesen,  von  deren  Machtstellung  noch  heute 
der  gewaltige  Rundturm  (aus  dem  13.  Jahrhundert)  über  Galata 
zeugt,  beherrschten  lange  Zeit  die  Meerenge  und  das  Schwarze 
Meer.  Nach  dem  Vertrage  von  1353  durfte  kein  byzantinisches 
Schiff  ohne  ihre  Erlaubnis  und  Zoll  in  das  Schwarze  Meer  ein- 
laufen. 

Das  gleiche  Schauspiel  bietet  uns  die  Gegenwart.  Auch 
das  türkische  Reich  ist  verfault  und  verkommen,  aber  Konstan- 
tinopel sinkt  und  entvölkert  sich  darum  nicht.  Im  Gegenteil, 
die  mohammedanischen  Bewohner,  die  Scharen  von  Beamten 
mit  ihren  Familien,  denen  in  den  verlorenen  Landschaften  der 
südosteuropäischen  Halbinsel  der  Aufenthalt  verleidet  wird,  drängen 
sich  vorzugsweise  in  der  Hauptstadt  zusammen,  vermehren  aber 
die  Zahl  der  bettelarmen  Angehörigen  des  in  allen  seinen 
Gliedern  und  Schichten  verarmten  Herrenvolkes.  Was  den  By- 
zantinern die  Italiener  waren,  das  sind  den  Türken,  besonders 
seit  dem  Krimkriege,  die  Kolonien  der  europäischen  Kultur- 
und  Handelsvölker:  Franzosen,  Engländer,  Italiener,  neuerdings 
vor  allem  Deutsche.  Wiederum  ist  das  wirtschaftliche  Leben^ 
ist  aller  Reichtum  und  abendländische  Kultur  nicht  im  alten 
Byzanz,  sondern  an  der  Nordseite  des  Goldenen  Horns,  in 
Galata  und  Pera  zusammengedrängt.  Diese  europäischen  Kolonien 
bilden,  wie  einst  die  Genuesen,  einen  Staat  im  Staate.  Je  mehr 
das  Türkentum  sinkt,  um  so  mehr  wächst  ihre  Zahl,  ihr  Reichtum, 
ihr  Einfluß. 

Die  natürliche  Festigkeit  von  Konstantinopel  ist  noch  heute 
die  gleiche  wie  schon  im  Altertume,  so  sehr  sich  sonst  auch 
die  Verhältnisse  geändert  haben.  Sie  beruht  darauf,  daß  man 
weder  zu  Lande  noch  zur  See  leicht  an  die  Stadt  herankommen 
kann  und  dieselbe  schon  in  größerer  Entfernung  ausgezeichnete 
Verteidigungsstellungen  besitzt,  die  auch  eine  schwächere  Macht 
zu  behaupten  vermag.     In  der  ältesten  Zeit  handelte  es  sich  nur 


—      i6     — 

um  die  Verteidigung  der  eigentlichen  Stadthalbinsel  an  der 
Landseite,  da  das  Meer  fast  zu  allen  Zeiten  hinreichend  Schutz 
gewährte,  namentlich  gegen  Angriffe  von  Asien  her.  Wie  noch 
heute  Groß-Konstantinopel,  war  schon  das  alte  Byzanz,  das 
auch  seinerseits  oft  belagert,  aber  selten  erobert  worden  ist,  nur 
durch  Angriffe  zu  Lande  und  zur  See  zugleich  zu  bewältigen. 
Erst  nachdem  die  Türken  mit  unsäglicher  Mühe  den  Bosporus 
durch  Ketten  gesperrt  hatten,  die  die  noch  heute  stehenden 
gewaltigen  Festen  an  der  engsten  Stelle  verbanden,  konnten  sie 
zur  eigentlichen  Bestürmung  der  Stadt  schreiten.  Als  die  Stadt 
über  die  Stadthalbinsel  hinaus  gewachsen  war  und  die  Macht 
von  Byzanz  zu  sinken  begann,  schien  es  am  besten,  die  ganze 
thrakische  Halbinsel  durch  eine  Mauer  zu  sperren.  Das  war  die 
vom  Kaiser  Athanasius  507  v.  Chr.  gebaute  Mauer,  die  quer 
über  die  Wurzel  der  thrakischen  Halbinsel  vom  Schwarzen  zum 
Marmarameere  führte.  Ihr  entspricht  in  der  Gegenwart  die 
etwas  weiter  zurückgelegene  Linie  von  Tschataldscha,  die  vom 
Liman  von  Bojuk  Tschekmedsche  am  Marmarameere  längs  dem 
Tale  des  dort  einmündenden  Flüßchens  an  den  Liman  von 
Derkos  am  Schwarzen  Meere  führt.  Eine  innere  Verteidigungs- 
linie folgt  den  Höhen  rings  um  Konstantinopel  von  Bojukdere 
am  Bosporus  bis  Makri  Kjöi  am  Marmarameere.  Der  Linie  von 
Tschataldscha  entspricht  auf  der  asiatischen  Seite  die  Linie  des 
Riva  Dere,  dessen  tief  eingeschnittenes,  fast  die  ganze  bithy- 
nische  Halbinsel  querendes  Tal  eine  ausgezeichnete  Verteidigungs- 
stellung bietet,  wenn  eine  kaum  minder  gute,  nur  etwas  längere 
überwältigt  sein  sollte,  die  von  Ismid  aus  längs  dem  unteren 
Sakaria  führt.  Wie  so  zu  Lande  ein  Feind  der  Stadt  leicht  fern 
gehalten  werden  kann,  so  noch  leichter  zur  See  am  Nordeingange 
des  Bosporus  wie  an  den  Dardanellen,  die  daher  beide  zu  beiden 
Seiten  mit  wahren  Musterkarten  von  Festungswerken  aus  den 
allerverschiedensten  Zeiten  besetzt  sind.  Beide  Meerengen  sind 
ja  auch  jetzt  durch  internationale  Verträge  für  Kriegsschiffe  ge- 
sperrt. Solange  der  Herr  von  Konstantinopel  auch  im  Besitz 
der  Meerengen  ist,  stehen  ihm  die  reichen  Gestade  des  Mar- 
marameeres  zur  Verfügung,  ist  das  europäische  Gestade  verloren, 
so  bleibt  das  asiatische,  beherrscht  der  Feind,  von  Norden  kom- 
mend, das  Schwarze  Meer,  so  bleibt  der  Archipel  und  umgekehrt. 
Die   Natur    hat    für   Konstantin opel    den    Schutz    vorbereitet,    den 


—     17     — 

man  einer  modernen  Festung  durch  einen  Kranz  weit  ab- 
gerückter Forts  zu  geben  sucht.  Es  gleicht  einer  befestigten 
Provinz. 

So  hat  sich  Konstantinopel  seit  dem  Altertume  als  Weltstadt 
behauptet,  während  seine  Nebenbuhlerinnen  Antiochien  und  Alexan- 
dria, auch  ihrerseits  im  späteren  Altertum  Brennpunkte  des  Han- 
dels zwischen  dem  mediterranen  und  dem  süd-  und  ostasiatischen 
Kulturkreise  längst  ihre  Bedeutung  verloren  haben.  Von  den 
nahe  gelegenen,  durch  Kunst  und  Gunst  für  kurze  Zeit  empor- 
gebrachten Nikomedien  und  Nikäa  zu  schweigen.  Auch  die 
Brennpunkte  des  italienischen  Handels  am  Schwarzen  Meere,  die 
Endpunkte  der  großen  asiatischen  Karawanenwege  gegen  Ende 
des  Mittelalters,  Sudak  und  Kaffa  in  der  Krim,  hatten  nur  zeit- 
weilig Konstantinopel  geschädigt.  Durch  die  Eroberung  Konstan- 
tinopels seitens  der  Türken  hatte  auch  ihre  Todesstunde  ge- 
schlagen. Konstantinopel  selbst  erhielt  dadurch  allerdings  einen 
ganz  anderen  Charakter.  Die  Seebeziehungen  traten  zurück,  da 
ja  unter  der  Herrschaft  der  Türken,  eines  durchaus  festländischen 
Volkes,  das  nur  vorübergehend  unter  großen  Herrschern  mit 
Hilfe  griechischer  Seemannschaften  auch  das  Meer  beherrscht 
hat,  das  Schwarze  Meer  völlig  verödete.  Konstantinopel  wurde 
die  Hauptstadt  und  der  natürliche  Mittelpunkt  eines  gewaltigen 
Reiches,  das  nicht  nur  die  beiden  Halbinseln  umfaßte,  sondern 
den  größten  Teil  von  Ungarn,  die  Länder  um  das  Schwarze 
INIeer,  Syrien  und  Mesopotamien,  große  Teile  von  Arabien  und 
des  Nordrands  von  Afrika,  bis  nach  Algerien.  Der  politische 
Zusammenschluß  dieses  gewaltigen  drei  Erdteilen  angehörigen 
Ländergebiets  und  die  Behauptung  desselben  Jahrhunderte  hin- 
durch war  nur  möglich  von  einem  so  ausgezeichneten  Mittelpunkte 
aus  wie  Konstantinopel. 

Durch  die  türkische  Eroberung  ist  auch  der  bauliche  Cha- 
rakter der  Stadt  und  die  Zusammensetzung  ihrer  Bevölkerung 
eine  ganz  andere  geworden.  Die  hohen  Minarets  der  zahlreich 
errichteten  gewaltigen  Moscheen,  die  allerdings  vielfach  die 
Sofienkirche  zum  Muster  nahmen,  die  noch  zahlreicheren  Türbes, 
die  Grabmäler  von  Sultanen  und  ihrer  Angehörigen,  die  leichten 
türkischen  Holzhäuser,  welche  an  Stelle  byzantinischer  Steinbauten 
traten,  von  denen  noch  einige  im  Fanar,  dem  Stadtviertel 
der   alten   griechischen    Familien    am    Goldenen,  Hörn,    dazu    die 

Fischer.  Mittelmeerbilder.  2 


—      i8     — 

gewaltigen  Stadtmauern,  Wasserleitungen,  riesige  Zisternen  u.  dgl. 
erhalten  sind  und  vor  allem  die  das  Haus  gegen  die  (Öffentlich- 
keit, gegen  das  Straßenleben  abschließende  Lehre  des  Islam 
gaben  dem  Stadtbilde  ein  völlig  verändertes  Aussehen.  In  den 
türkischen,  wie  überhaupt  in  den  nichteuropäischen  Stadtvierteln 
sind  die  Straßen  meist  eng,  winkelig,  durch  die  fensterarmen  oder 
mit  durch  Holzgitter  verschlossenen  Fenstern  versehenen  kleinen, 
hölzernen  Familienhäuser  unfreundlich,  schlecht  gepflastert,  voll 
Schmutz  und  Unrat,  den  zu  beseitigen  immer  noch  die  herren- 
losen Hunde  vorzugsweise  berufen  sind.  Dazu  kamen  ferner  ganz 
neue  Bevölkerungselemente,  die  das  heutige  Konstantinopel  in 
weit  höherem  Maße  als  die  meisten  Städte  des  Orients  als  ein 
buntes  Mosaik  von  Stadtteilen  erscheinen  lassen,  deren  jeder  von 
einem  andern  Volke  bzw.  Glaubensbekenntnis  bewohnt  wird, 
wenn  auch  die  frühere  scharfe  Abgrenzung  sich  mehr  und  mehr 
verwischt.  Zunächst  zogen  die  neuen  Herrn,  die  ethnisch  so  bunt 
gemischten  osmanischen  Türken,  ein  und  nahmen  die  besten 
Plätze  für  sich  in  Anspruch.  IVIit  dem  Wachsen  des  Reichs,  dem 
ungeheuren  Zuströme  von  Renegaten  aus  den  verschiedensten 
Völkern  —  es  sei  nur  an  die  vorzugsweise  aus  Christenknaben 
ergänzten  Janitscharen  erinnert,  die  vorzugsweise  in  Konstantinopel 
ihr  Standquartier  hatten  —  wuchs  die  mohammedanische  Bevöl- 
kerung. Sie  hat  heute  noch  den  größten  Teil  des  alten  Kon- 
stantinopel inne,  bis  an  die  noch  wohlerhaltene,  zum  Teil  drei- 
fache 6  km  lange  Mauer  an  der  Landseite,  durch  deren  Bresche 
nahe  dem  Nordende  die  Türken  in  die  Riesenstadt  eindrangen. 
Das  älteste  Byzanz  auf  der  Spitze  der  Halbinsel,  später  die  Akro- 
polis  der  Stadt,  wurde  der  Herrschersitz,  das  alte  Serai,  ein 
großer,  noch  heute  von  mächtigen  Mauern  und  Türmen  um- 
schlossener und  abgeschlossener  Stadtteil,  der  aber  auch  viele 
Gärten,  Kasernen  u.  dgl.  enthält,  aber  heute  nicht  mehr  von  den 
Sultanen  bewohnt  wird.  Neben  den  neuen  Herren  behaupteten 
sich  aber  auch  die  Griechen,  wenn  auch  vielfach  unterdrückt, 
durch  Klugheit  und  List,  durch  ihre  alte  Kultur  und  wohl  auch 
ihren  Reichtum,  den  sie  bald  wieder  zu  mehren  verstanden.  In 
der  Neuzeit  hat  eine  bedeutende  Zuwanderung  von  Griechen, 
von  den  Inseln  des  Archipels,  aus  Kleinasien  und  aus  dem 
Königreiche  stattgefunden,  da  eben  Konstantinopel  den  Kindern 
dieses  rührigen  Volks  ein  gutes  Fortkommen  bietet,  so  daß  Kon- 


—     19     — 

stantinopel  wahrscheinlich  noch  heute  die  größte  Griechenstadt  ist. 
Die  Griechen  nannten  sie  auch  schlechthin  „die  Stadt",  wie  noch 
die  türkische  Bezeichnung  Stambul  für  die  eigentliche  Halbinsel- 
stadt erkennen  läßt.  Zu  den  Griechen  kamen  nun  zum  Teil  ge- 
waltsam hier  angesiedelt  christliche  Armenier  hinzu,  die  wohl 
mindestens  zu  150000  Seelen  ganze  Stadtteile  bevölkern.  Ferner 
Juden,  vorwiegend  sogenannte  Spaniolen,  aus  Spanien  vertriebene, 
die  nach  Charakter  und  körperlichen  Eigenschaften  unter  allen 
Juden  wohl  am  höchsten  zu  stellen  sind.  Die  große  christlich- 
abendländische, fast  ganz  italienische  Kolonie,  die  die  Türken 
vorfanden,  dürfte  zum  großen  Teil  vernichtet  worden  sein.  An 
ihre  Stelle  traten  die  sogenannten  Levantiner,  Nachkommen  abend- 
ländischer Christen,  fast  ausschließlich  romanischen  Stammes,  die 
lange  Zeit  als  Vermittler  zwischen  Abendland  und  Morgenland 
eine  wichtige,  wenn  auch  meist  wenig  rühmliche  Rolle  gespielt 
haben,  aber  jetzt  namentlich  seit  dem  Krimkriege  mehr  und  mehr 
gegen  den  frischen  Zustrom  aus  dem  Abendlande  zurücktreten. 
In  dieser  europäischen  Kolonie  überwog  früher  die  italienische 
Sprache,  die  aber  seit  dem  Krimkriege  durch  das  Französische 
etwas  zurückgedrängt  wurde,  neben  dem  aber  jetzt  das  Deutsche 
und  das  Englische  eine  immer  größere  Rolle  spielen. 

Trotz  des  Sinkens  der  türkischen  Macht  ist  Konstantinopel 
durch  Zuwanderung  beständig  gewachsen  und  wächst  es  noch 
immer.  In  welcher  Richtung,  das  schreibt  die  Lebensader  der 
Stadt,  das  Goldene  Hom  und  der  Bosporus  vor.  Schon  in  by- 
zantinischer Zeit,  da  dem  Wachstum  landeinwärts  die  Entfernung 
von  dieser  Lebensader  Grenzen  zog  und  wohl  schon  damals  wie 
heute  außerhalb  der  großen  Mauer  nur  noch  von  Gärten,  mit 
Zypressen  bestandenen  Friedhöfen  und  Einzelhäusern  unterbroche- 
nes offenes,  steppenartiges  Land  sich  ausdehnte,  griff  die  Stadt 
auf  die  Höhen  über  das  Goldene  Hörn  hinüber,  Pera,  heute  der 
Sitz  der  europäischen  Gesandtschaften,  der  europäischen  Gast- 
häuser u.  dgl.,  zu  dessen  Füßen  unten  am  Strande,  in  genuesi- 
scher Zeit  die  Schififslände,  Galata,  sich  zu  einem  wichtigen  Stadt- 
teile, dem  Hauptsitze  des  Verkehrs  entwickelte.  Dazu  erlangte 
die  kleinasiatische  Ergänzung  von  Byzanz,  ChrysopoUs,  heute 
Skutari,  größere  Bedeutung.  Schon  vor  der  Eroberung  durch  die 
Türken  war  also  Konstantinopel  zu  einer  Dreistadt  ausgewachsen, 
allerdings  unter  Überwiegen  der  Halbinselstadt.     Daneben  waren 


—       20       — 

aber  auch  schon  in  byzantinischer  Zeit  die  Ufer  des  Bosporus 
weithin  von  Dörfern  und  Landhäusern  besetzt,  die  in  der  Neuzeit 
mehr  und  mehr  miteinander  verwachsen  sind,  so  daß  man  unter 
Konstantinopel  als  Wohnplatz  jetzt  neben  Stambul  alle  die  Städte, 
ja  zum  Teil  Großstädten  zu  vergleichenden  Ortschaften  am  Gol- 
denen Hom  und  am  Bosporus  verstehen  muß,  die  sich  auf  dem 
europäischen  Ufer  nordwärts  bis  Bujukdere,  auf  dem  asiatischen 
von  KadikjÖi,  das,  neu  und  regelmäßig  gebaut,  nur  von  Euro- 
päern und  Griechen  bewohnt  ist,  bis  Beikos  ausdehnen,  die 
Häuserreihen  kaum  hier  und  da  und  immer  nur  auf  kurze 
Strecken  unterbrochen,  wenn  die  Ufer  zu  steil  sind.  Um  die 
zahlreichen  kleinen  Buchten  und  in  die  Täler  hinein,  die  alle 
weithin  mit  wohlbewässerten  Gärten  gefüllt  sind,  dehnen  sich  die 
Ortschaften  um  so  weiter  aus.  Galata  und  Pera  mit  den  heute 
völlig  damit  verwachsenen  Ortschaften  Beschiktasch,  Pankaldi, 
Hankjiöi,  der  Judenstadt,  und  Halidj  Oghlu  kommen  an  Aus- 
dehnung und  wohl  auch  an  Einwohnerzahl  Stambul  gleich.  Auch 
Skutari  ist  der  Kern  eines  großen  dicht  besiedelten  Wohnplatzes. 
Am  oberen  Bosporus  sind  Therapia  und  Bujukdere,  fast  als 
hätten  sich  an  diesen  herrlichen  Buchten  die  Menschen  vor  be- 
ginn des  unwirtlichen  Engtales  gestaut,  ansehnliche  Städte.  ,,Die 
ganze  20  km  lange  Strecke  von  Konstantinopel  bis  Bujukdere 
bildet  eine  einzige  fortlaufende  Stadt  von  Wohnungen  und  Lust- 
häusem,  Kiosken,  Moscheen,  Springbrunnen,  Bädern  und  Kaffee- 
häusern. Die  Gärten  steigen  in  Terrassen  empor  und  die  mäch- 
tigen Zypressen  der  Begräbnisplätze  krönen  die  Gipfel.  Wenn 
man  längs  der  Ufer  einen  Quai  ausgeführt  hätte,  so  würde  dieser 
gewiß  der  schönste  Spaziergang  in  der  Welt  sein.  Die  Reichen 
und  Mächtigen  haben  aber  ihre  Häuser  und  Gärten  dicht  an  und 
über  dem  Meere  selbst  haben  wollen,  und  die  schlecht  gepflasterte 
Straße    zieht   sich   oft  durch  elende  Hütten,    durch  Torwege  und 

zwischen  hohen  Mauern  hin Oft  nimmt  der  Weg  plötzlich 

eine  Wendung,  du  stehst  vor  einer  Moschee,  neben  einem  Spring- 
brunnen und    unter   mächtigen  Platanen   am  klaren  plätschernden 

Strom  des  Bosporus Und  zehn  Minuten  weiter  von  dieser 

Szene  des  Lebens  und  Überflusses  kannst  du  in  eine  weite, 
menschenleere  Einöde  treten.  Du  darfst  nur  auf  die  höchste 
Höhe  hinaufsteigen,  so  liegt  der  thrakische  Chersones,  ein  Hügel- 
land  vor    dir,    auf  welchem    du    kein  Dorf,    keinen   Baum,    kaum 


21        

einen  Weinberg,  sondern  nur  einen  steinigen  Saumweg  erblickst. 
Der  Fluch  einer  schlechten,  habgierigen  Verwaltung  ruht  auf 
diesen  Fluren,  —  Wie  ein  mächtiger  Strom  windet  die  Meerenge 
sich  durch  lauter  zusammenhängende  Ortschaften,  zwischen  Pa- 
lästen, Moscheen,  Kirchen,  Schlössern  hindurch,  zwei  Meere  ver- 
bindend und  zwei  Weltteile  trennend,  sie  bildet  eigentlich  die 
Hauptstraße  von  Konstantinopel,  wenn  man  unter  dieser  Benennung 
das  ganze  Aggregat  von  Städten,  Vorstädten  und  Ortschaften 
versteht,  in  welchem  800  000  Menschen  beisammen  wohnen."  So 
drückte  sich  Moltke  schon  vor  mehr  als  60  Jahren  aus.  Noch 
heute  gilt  die  Schilderung  im  wesentlichen.  Die  Bevölkerung 
dieses  Groß  -  Konstantinopel  kann  man  heute  auf  etwas  über 
1V4  Millionen  Köpfe  schätzen,  wovon  mehr  als  100  000  auf  das 
asiatische  Ufer  kommen,  ein  Wachstum,  das  zwar  gegenüber  dem 
der  übrigen  Großstädte  Europas  als  langsam,  aber  in  einem  in 
Verfall  befindlichen  Reiche  bedeutungsvoll  ist.  Und  die  bunte 
Mischung  der  sich  auch  schon  im  physischen  Typus  und  in  den 
Trachten  als  überaus  bunt  zusammengesetzt  erweisenden  Bevöl- 
kerung kennzeichnet  auch  ihrerseits  die  Weltstadt  und  die  Haupt- 
stadt eines  noch  immer  über  drei  Erdteile  ausgedehnten  Reichs. 
Die  große  Galata  mit  Stambul  verbindende  Brücke  über  das 
Goldene  Hörn,  über  die  sich  von  Sonnenaufgang  bis  Sonnen- 
untergang ein  Strom  von  Menschen  ergießt,  bietet  die  beste  Ge- 
legenheit,  das  bunte  Bild   auf  sich  wirken  zu  lassen. 

Zu  der  großen  Ausdehnung  der  Stadt  längs  des  Bosporus 
haben  neben  dem  Raumbedürfnis,  den  topographischen  Verhält- 
nissen, der  Verkehrserleichterung  auf  dem  Wasser  vor  allem  auch, 
wie  schon  Moltkes  Schilderung  erkeimen  läßt,  die  wunderbaren 
Reize  beigetragen,  mit  denen  die  Natur  diese  Erdstelle  über- 
schüttet hat.  Deri  Seadet,  die  Pforte  der  Glückseligkeit,  so  nen- 
nen die  Türken  ihr  Konstantinopel.  Diese  Reize,  das  Vorhanden- 
sein zahlreicher  Punkte,  welche  mit  rinnendem  Wasser  zur  Anlage 
von  Springbrunnen,  Bädern,  üppigen,  schattigen  Gärten  herrliche 
Blicke  boten  und  zur  Anlage  von  Villen  unmittelbar  an  dem 
Ufer  des  nicht  von  Wellen  und  Gezeiten  bewegten  Meeres  förm- 
lich einluden,  bestimmten  die  Sultane  ihren  Wohnsitz  aus  Stambul 
an  den  Bosporus  zu  verlegen,  wo  sich  nebeneinander,  heute  nur 
notdürftig  unterhalten,  die  Riesenpaläste  von  Dolmabaghtsche  und 
Tschiragan  aus  den  Fluten   erheben,  während  der  jetzige  Sultan 


—       22       — 

sich  im  Jildis  Kiösk,  inmitten  weit  ausgedehnter,  ummauerter 
Gärten  am  Talgehänge  über  Tschiragan  und  dem  durch  seine 
auf  einem  Landvorsprunge  gelegene  schöne  Moschee  bekannten 
Ortakjiöi  einen  neuen  Wohnsitz  schuf.  Diesem  Beispiele  folgten 
die  Großen  des  Reichs  und  wer  immer  in  der  Lage  war  außer- 
halb der  Stadt,  sei  es  auch  nur  im  Sommer,  zu  wohnen,  vor 
allem  auch  die  zahlreichen  europäischen  Gesandtschaften,  mit 
ihrem  großen  Personal,  deren  jede  neben  einem  Palaste  in  Pera 
einen  meist  inmitten  großer  Gärten  oder  am  Meeresufer  gelege- 
nen Sommerpalast  besitzt,  besonders  in  Therapia  und  Bujukdere. 
Jeder  dieser  großen  Familien  schloß  sich  meist  eine  von  ihr  ab- 
hängige Gefolgschaft  an.  Die  mit  Rücksicht  auf  sie  verbesserten 
Verkehrsverhältnisse  ermöglichten  nun  auch  weniger  Bemittelten 
sich  am  Bosporus  niederzulassen  und  so  sind  einige  dieser  Bos- 
porusortschaften, am  meisten  wohl  Kadikjiöi,  geradezu  zu  Villen- 
städten geworden,  in  denen  die  Familien  untertags  in  Stambul, 
Pera  oder  Galata,  die  dadurch  den  Charakter  von  Geschäfts- 
stadtteilen anzunehmen  beginnen,  beschäftigter  Beamter  oder 
Geschäftsleute  wohnen.  Das  bedingt  natürlich  einen  lebhaften 
Verkehr,  der  sich  nur  in  Stambul  selbst,  in  Pera  und  der  näch- 
sten Umgebung  aus  den  schon  von  Moltke  angedeuteten  Gründen 
mit  Hilfe  von  Pferde-  bzw.  elektrischen  Bahnen  vollzieht,  sonst 
allgemein  zu  Wasser  mit  ganzen  Flotten  kleiner  Dampfer  und 
auf  zahllosen  sogenannten  Ka'iks,  kleinen  Ruderboten  mit  scharfem 
Kiel,  die  den  ganzen  Tag  den  Bosporus  stromauf,  stromab,  von 
Erdteil  zu  Erdteil  durchfurchen.  Aber  zu  ihnen  gesellen  sich, 
um  das  Bild  dieser  einzigartigen,  zugleich  den  herrlichsten  Hafen 
bildenden  Wasserstraße  noch  weiter  zu  beleben,  große  und  kleine 
Segelschiffe,  meist  unter  griechischer  Flagge,  und  die  größten 
Seedampfer,  deren  Ziel  entweder  Konstantinopel  selbst  ist  und 
deren  stets  eine  große  Zahl  am  Eingänge  ins  Goldene  Hörn  vor 
Galata  ankert,  oder  die  die  Meerenge  nach  kurzem  Aufenthalte,  oft 
auch  ohne  solchen  durchfahren,  einem  ferneren  Ziele  zustrebend:  der 
Donaumündung,  Odessa,  Sebastopol,  Taganrog,  Batum  oder  Tra- 
pezunt.  Dazu  ankert  wenigstens  im  Sommer  die  türkische  Kriegs- 
flotte im  Bosporus  den  Sultanspalästen  gegenüber,  heute  freilich 
mehr  ein  kostbares  Spielzeug. 

Die    Stadtteile   am  Ausgange    des  Goldenen  Homs    sind  die 
Hauptsitze  des  geschäftlichen  Lebens.     Dort  liegt  ein  Bazar  und 


—      23      — 

viele  Hans  (Kaufhöfe),  die  Ministerien,  die  Hohe  Pforte,  die  größten 
Moscheen  usw.  Je  weiter  von  ihnen  entfernt,  um  so  toter  er- 
scheint die  Stadt,  ganz  besonders  in  den  abgelegenen  rein  tür- 
kischen Stadtteilen  von  Stambul  längs  der  Stadtmauer.  Weite 
Flächen,  die  Stätten  von  Bränden,  die  bei  dem  Holzbau  rasch 
ganze  Stadtteile  vernichten,  liegen  dort  unbebaut.  Am  Goldenen 
Hom,  ganz  nahe  der  größten  der  drei  nach  Galata  und  auf  die 
Nordseite  des  Goldenen  Homs  führenden  Brücken  liegt  auch  der 
Bahnhof,  der  Endpunkt  der  großen  internationalen  Linie,  die  von 
hier  —  ein  Erfolg,  den  dem  Sultan  abgerungen  zu  haben  ans 
Wunderbare  grenzt  —  durch  das  alte  Serai  und  durch  die  ganze 
Stadt  nahe  dem  Marmarameere  führt  und  an  der  Südwestecke 
der  Stadt  an  dem  Kastell  der  sieben  Türme  aus  derselben 
austritt. 

Der  Anblick  und  der  Eindruck  den  die  dreigeteilte  Welt- 
stadt auf  den  zur  See  von  Süden  Kommenden  macht,  das  Häuser- 
meer von  Stambul  mit  den  zahllosen,  die  Hügel  krönenden  hoch- 
ragenden Kuppeln  und  Minarets  der  Moscheen,  der  von  Schiffen 
aller  ^'ölker  wimmelnde  Bosporus  und  das  Goldene  Hörn,  ist  ein 
einzig  großartiger,  nie  wieder  verwischter.  Einen  Sitz  des  Welt- 
handels kann  man  Konstantinopel  in  der  (Gegenwart  freilich  nicht 
nennen,  wenn  es  auch  noch  der  erste  Einfuhrhafen  der  Türkei 
ist.  Gewiß,  die  Stadt  selbst  und  die  Bedürfnisse  ihrer  Bewohner, 
der  Hof,  das  Heer,  die  Verwaltung  des  zentralisierten  Staates 
beleben  schon  einen  bedeutenden  Handel,  sie  ist  auch  Sitz  und 
Ausgangspunkt  von  Küstendampferlinien,  die  die  Gestade  des 
Marmarameeres ,  des  Archipels  und  des  Schwarzen  Meeres  be- 
dienen, aber  das  Wirtschaftsgebiet,  das  sie  noch  beherrscht, 
Thrakien  und  das  nördliche  Kleinasien,  ist  klein  und  arm,  Smyma 
beeinträchtigt  es  in  Kleinasien,  Saloniki  auch  seinerseits  im  Brenn- 
punkt einer  die  Erdteile  verbindenden  Verkehrslinie  auf  der 
Halbinsel,  Odessa  im  Schwarzen  Meere.  Den  größten  Teil  des 
Handels  nach  dem  Schwarzen  Meere  sieht  es  ohne  Umschlag  zur 
See  vorüber  ziehen.  Freilich  fehlt  es  auch  noch  vielfach  an  den 
Anlagen,  deren  die  Großschiffahrt  der  Neuzeit  nicht  entbehren 
kann.  Die  große  Masse  der  Bevölkerung  von  Konstantinopel, 
besonders  die  türkische,  ist  arm  und  bedürfnislos  bzw.  nicht  in 
der  Lage,  solche  zu  befriedigen.  Es  fehlt  an  Unternehmungsgeist, 
an    Gewerbetätigkeit.      Das    heutige    Konstantinopel    macht    seine 


—       24       — 

Eigenschaft  als  natürlicher  und  Verkehrsmittelpunkt  eines  un- 
geheuren, an  Hilfsquellen  der  verschiedensten  Art  reichen  Länder- 
gebiets wenig  geltend.  Es  vermöchte  sehr  wohl  der  Sitz  einer 
bedeutenden  Gewerbstätigkeit  zu  werden,  denn  Arbeitskräfte 
und  billige  Nahrung  sind  in  Fülle  vorhanden,  die  Zufuhr  von 
Rohstoffen  zur  See  billig,  auch  Brennstoffe  vermöchte  das  nahe- 
gelegene Kohlenvorkommen  von  Bender  Eregli  und  Songoldak 
an  der  Küste  des  Schwarzen  Meerer  in  Bithynien  billig  zu 
liefern. 

So  groß  und  wichtig,  so  vielseitig  anziehend  Konstantinopel  auch 
heute  ist,  seine  relative  Bedeutung  ist  eine  geringere  als  in  verschie- 
denen Perioden  seiner  mehr  als  zweitausendjährigen  Geschichte,  aber 
die  Bedingungen  sind  noch  immer  vorhanden,  daß  seine  Zukunft^ 
aber  gewiß  wieder  in  anderen  Händen  wie  heute,  eine  der  glän- 
zendsten Zeit  der  Vergangenheit  ebenbürdge  werden  kann.  Aber 
wie  sich  diese  Zukunft  in  politischer  Hinsicht  gestalten  wird,  ver- 
mag auch  der  kühnste  Flug  der  Phantasie  nicht  zu  enthüllen. 
Als  Hauptstadt  eines  Bulgarenreiches  ist  es  nicht  zu  denken,  wie 
es  überhaupt  zu  der  südosteuropäischen  Halbinsel  allein  zu  ex- 
zentrisch liegt.  Es  ist  die  natürliche  Hauptstadt  beider  Halb- 
inseln. Wer  immer  diesen  einzigartigen  Erdenfleck  besitzen  wird, 
der  wird  auch  wenigstens  die  benachbarten  Gebiete  beider  Halb- 
inseln und  besonders  die  Gestadeländer  des  Marmarameeres 
besitzen,  oder  die  äußersten  Anstrengungen  machen  müssen,  um 
sie  zu  erwerben. 


2.  Ein  Ausflug  von  Konstantinopel  zur  Höhle 
von  Yarim-Burgas.O 

So  merkwürdige  Gegensätze  die  Zeit  mit  ihrer  rastlos  nach 
allen  Seiten  hin  vordringenden  Kultur  und  ihren  Kulturraitteln 
auch  allenthalben  und  namentlich  im  Orient  geschaffen  hat,  einen 
größeren  und  drastischeren  wird  man  kaum  finden,  als  den  von  der 


i)  Aus:  Die  Natur.  Zeitschrift  zur  Verbreitung  naturw.  Kenntnis. 
Herausgegeben  von  Dr.  Otto  Ule  u.  Dr.  Karl  Müller  von  Halle.  8.  u.  15.  Jan. 
1873.  Nach  Eröffnung  der  ersten  Teilstrecke  der  Eisenbahnlinie  Belgrad — 
Konstantinopel  zu  Konstantinopel  im  Juli    1872  geschrieben. 


—      25       — 

neuen  Eisenbahn  in  Konstantinopel  gebotenen.  Dicht  am  Goldenen 
Hörn  mit  seinem  Mastenwald,  nahe  an  der  großen  Brücke,  auf  der 
vom  Aufgang  der  Sonne  bis  zum  Niedergang  eine  unglaublich  bunte 
Menge,  Vertreter  aller  Nationen  des  Orients  und  Okzidents,  un- 
ermüdlich herüber  und  hinüber  wogt,  unmittelbar  neben  und  zum 
Teil  an  der  Stelle  der  alten,  riesigen  Mauer  des  Sera'i,  des  ehe- 
maligen furchterregenden  Sitzes  der  Sultane,  vor  denen  Europa 
zitterte,  erhebt  sich  jetzt  das  neue  (provisorische)  Bahnhofsgebäude 
von  Sirkedschi  Iskelessi.  Es  ist  einfach  im  Äußern,  aber  be- 
deutungsvoll als  der  Ausdruck  der  abendländischen  Zivilisation, 
die  langsam,  aber  unaufhaltsam  und  mit  immer  beschleunigterem 
Schritt  auch  am  Gestade  des  Bosporus  einzieht.  Schon  sind  ihr 
die  ]\Iauern  des  Herrscherpalastes,  aus  dessen  Toren  einst  die 
Bestürmer  Wiens  auszogen,  den  Waffen  der  Kulturträger  erlegen, 
vielleicht  ein  Fingerzeig  für  das  Schicksal,  das  dem  ganzen  Tür- 
kentum  bevorsteht.  Es  ist  eine  edle  Rache  Europas  an  den 
asiatischen  Barbaren,  die  einst  in  ungebrochener  Naturkraft  und 
in  religiösem  Fanatismus  so  schwere  Leiden  und  furchtbare  Ge- 
fahren über  dasselbe  heraufbeschworen.  Die  Religion  ist  es,  die 
noch  am  zähesten  der  von  Westen  kommenden  friedlichen  Um- 
wälzung widersteht  und  den  Staat  der  Osmanli  aufrecht  erhält. 
Die  alte  und  unscheinbare  ^loschee,  die  noch  immer  mitten  in 
der  Bahnhofsanlage,  der  selbst  die  Türme  des  Serai  nicht  wider- 
standen, ihre  alten  Mauern  trotzig  erhebt,  gibt  dem  deutlich  Aus- 
druck. 

Recht  eigentlich  im  Herzen  des  ungeheuren  und  vielgeglieder- 
ten Städtekomplexes,  der  sich  an  beiden  Ufern  des  Goldenen 
Homes  und  des  Bosporus  wie  an  einem  großen  Kreuzwege  lagert, 
beginnt  die  Linie,  die  einst  Orient  und  Okzident  eng  verbinden 
wird.  In  einer  glücklichen  Stunde  hat  ihr  der  Padischah  den 
Durchgang  durch  die  ausgedehnten  Baulichkeiten  und  Gärten 
gestattet,  die,  eine  Stadt  für  sich,  das  Serai  bilden.  Jetzt  hat  er 
dies  zwar  bereut,  aber  zu  spät;  dafür  muß  jetloch  ein  langer 
Einschnitt,  über  den  jetzt  eine  Brücke  führt,  in  einen  Tunnel 
verwandelt  werden,  damit  der  Großherr,  wenn  er,  von  seinem 
Palast  von  Dolmabaghtsche  kommend,  an  der  Sera'ispitze  landet 
und  durch  das  Kanonentor  in  das  Innere  des  Sera'i  hinaufreitet, 
nicht  von  dem  Rauch  und  dem  Lärm  eines  etwa  durchgehenden 
Zuges    belästigt    werde.      Dieser    Vorgang,     dem    sich    unzählige 


—      26      — 

analoge  anreihen  ließen,  ist  bezeichnend  für  die  „Prinzipien", 
nach  denen  das  osmanische  Reich  regiert  wird.  Dicht  an  der 
Seraispitze  vorbei  zieht  sich  die  Linie  schön  gewunden  durch  das 
Serai,  durchbricht  dessen  Mauern  nochmals  in  der  Nähe  der  Aja 
Sophia  und  geht  dann,  immer  dem  Gestade  des  Marmarameeres 
nahe  bleibend,  um  dessen  Buchten  herum  durch  die  ganze  Stadt, 
die  sie  an  den  „Sieben  Türmen"  erst  verläßt,  eine  Strecke,  die 
man  vom  Goldenen  Hörn  her  zu  Fuß  kaum  in  i^j^  Stunden  zurück- 
zulegen vermag. 

Die  Fahrt  durch  die  Stadt  ist  sehr  interessant;  Geschichte 
und  Altertum,  wie  landschaftliche  Schönheit  tragen  dazu  bei. 
Kaum  hat  man  noch  einen  Blick  auf  das  Gewimmel  des  Hafens 
und  das  bergansteigende  Häusergewirr  von  Galata  und  Pera  ge- 
worfen, so  nimmt  uns  schon  ein  tiefer  Einschnitt  auf,  und  die 
altersgrauen  Bauwerke  des  Serai  schauen  von  der  Höhe  auf  uns 
herab.  Dann  geht  es  vorbei  an  der  Menagerie  des  Sultans,  wo 
man  hundert  der  größten  und  schönsten  Strauße  beisammen  sehen 
kann,  und  zugleich  eröffnet  sich  auch  die  herrlichste  Aussicht 
auf  das  Marmarameer,  das  sich,  von  weißen  Segeln  belebt,  in 
duftiger  Bläue  ausbreitet.  Unfern  erheben  sich  die  lieblichen 
Prinzeninseln,  der  Schaumgeborenen  gleich,  aus  den  Wogen, 
Oxeias  unwirtlicher  Fels  und  Plateias  romantisches  Kastell,  von 
Lord  Bulwer  erbaut;  dahinter,  einer  mächtigen  Kulisse  gleich, 
der  breite,  weiß  schimmernde  Schneerücken  des  Olymp.  Doch 
rasch  entzieht  sich  dem  staunenden  Auge  dies  feenhafte  Panorama, 
denn  schon  sind  wir  aus  dem  Serai  hinaus,  und  Häuser  oder 
auch  die  altersschwachen,  von  den  Wogen  unermüdlich  unter- 
spülten Mauern,  von  denen  einst  griechisches  Feuer  auf  die 
Schiffe  der  stürmenden  Araber  herabregnete,  verdecken  die  Aus- 
sicht. Der  moderne  Bau  des  Finanzministeriums  mit  seiner  mäch- 
tigen Säulenhalle  und  die  schlanken  und  doch  kräftigen  Minarets 
der  Aja  Sophia  und  Achmedje,  wie  Wachen  um  die  hohen 
Kuppelgewölbe  gestellt,  ziehen  rechts  auf  der  Höhe  das  Auge 
an.  Auch  die  hohe,  einst  mit  Goldblech  bekleidete  Säule  des 
Hippodrom,  um  welche  die  blutigen  Kämpfe  der  Zirkusparteien 
wüteten,  ragt,  eine  traurige  Ruine,  über  Häuser  und  Trümmer 
der  Gegenwart  empor. 

Rechts  und  links  erheben  sich  die  hölzernen  Häuser,  die 
mit    ihrer   bloßgelegten   Rückseite   einen    ergötzlichen   Einblick    in 


—       27       — 

die  liebliche  Unordnung  und  Natürlichkeit  eines  türkischen  oder 
armenischen  Hauses  gestatten.  Hier  und  da  kommt  man  an  den 
Trümmern  und  bloßgelegten  Fundamenten  alter  Bauten  vorbei, 
oder  eine  von  der  Eisenbahn  in  die  Mauern  gerissene  Bresche 
gestattet  den  Überblick  über  das  Meer.  Bald  durcheilen  wir 
auch  den  Wlanga-Bostan ,  den  in  Gärten  verwandelten  hom- 
förmigen  Hafen  des  Theodosius,  und  an  der  Stelle,  wo  einst 
Galeeren  ankerten,  fliegt  jetzt  das  Dampfroß  durch  üppige 
Gemüsebeete  dahin.  Der  im  Altertum  Lykos  jetzt  Tschajyr 
genannte  kleine  Bach,  der  unter  der  alten  Stadtmauer  hin- 
durch in  die  Stadt  eintritt  und,  oft  unter  Häusern  versteckt, 
das  flache  Tal  durchfließt,  das  die  wellige  Hochfläche  von  Stam- 
bul  gliedert,  bewässert  dieselben.  Er  hat  wohl  auch  den  Hafen 
verlandet. 

Am  äußersten  Südwestende  von  Stambul,  nahe  an  der  ver- 
fallenen sog.  Veste  der  „Sieben  Türme"  und  nach  ihr  Yedi-Kule 
genannt,  ist  die  Station,  von  der  aus  bereits  seit  Februar  1870 
«ine  Strecke  von  drei  Meilen,  bis  Kutschuk-Tchekmedsche,  dem 
Verkehr  übergeben  war.  Sie  liegt  hoch  auf  dem  steilen  Meeres- 
ufer  und  bietet  eine  herrliche  Aussicht.  Auch  außerhalb  der 
Mauer  geht  die  Fahrt  immer  am  Gestade  entlang;  die  malerisch- 
gigantische Mauer  von  Stambul  zieht  sich  weithin  über  die  Höhe 
zum  Goldenen  Hörn  hinüber,  während  man  am  Meere  an  Ma- 
krykjöi  und  Sankt  Stephano,  den  Sommerfrischen  der  Griechen, 
vorüberkommt.  Sankt  Stephano  (seitdem  durch  den  hier  von 
den  Russen  diktierten  kurzlebigen  Frieden  vom  3.  März  1878 
bekannt  geworden),  ganz  von  Griechen  bewohnt,  liegt  mit  seineu 
stattlichen  Häusern  mitten  in  Gärten,  und  von  den  Türmen 
seiner  ansehnlichen  Kirchen  schallen  die  Glocken,  zur  Messe 
rufend.  Auch  Sankt  Floria,  ein  großes  Landgut  des  Sultans,  ist 
schön  gelegen.  Landeinwärts  ziehen  sich  weite  Getreidefelder, 
schlecht  bearbeitet  wie  man  sieht,  und,  obwohl  wir  erst  den 
15.  Juli  zählen,  nur  noch  die  Stoppeln  zeigend.  Hunderte  von 
Störchen   suchen  auf  ihnen  ihre  Nahrung. 

Bei  Kutschuk-Tschekmedsche  wendet  sich  die  Eisenbahn 
ins  Innere  des  Landes,  dem  Ufer  der  Lagune  entlang,  die  sich, 
einst  der  Jagdgrund  Omer  Paschas,  der  an  ihrem  westlichen 
Gestade  sein  großes  Landgut  AUbeykjöi  hatte,  etwa  sechs  Kilo- 
meter   weit    ins    Land    hineinzieht.     Dieser    Strandsee    ist    einer 


—       28       — 

schmalen  Schublade  gleich  ins  Land  hineingeschoben^)  und  hängt 
durch  einen  so  engen  Kanal  mit  dem  Meer  zusammen,  daß 
eine  ehemals  durch  ein  Tor  gesperrte  Brücke  darüber  führt.  (Es 
ist  ein  echter  Liman-See,  eine  vom  Meere  überflutete  und  durch 
eine  Nehrung,  das  Werk  der  Brandung  und  Küstenversetzung, 
geschlossene  Flußmündung.)  Am  Ende  des  Sees,  wo  ein  nicht 
unbeträchtlicher  Fluß,  von  den  Eingeborenen  kurzweg  Tundschai 
(kaltes  Wasser)  genannt,  einströmt,  liegt  unter  einer  herrlichen 
Baumgruppe  der  einsame  Polizeiposten  von  Yarim-Burgas  (Halb- 
Burgas).  Unser  Zug,  der  erste,  der  zur  Probe  so  weit  fuhr,  hielt, 
und  wir  stiegen  aus,  um  uns  zunächst  für  die  noch  kommenden 
Strapazen  mit  einem  vortreß"Iichen  Mahle  zu  stärken,  das  wir  aus 
unserm  Hotel  in  Pera  mitgeführt  hatten.  Es  reichte  nicht  nur 
für  unsere  aus  sieben  Personen  bestehende  Gesellschaft,  sondern 
auch  für  die  fünf  Saptiehs  des  Postens,  die,  an  Brot  und  Zwie- 
beln gewöhnt,  noch  nie  so  lukullisch  gespeist  hatten.  Bieder 
und  freundlich,  wie  alle  Türken  niederen  Standes,  besonders  in 
der  Provinz,  ließen  sie  sich  trotz  ihrer  zerfetzten  und  schmutzigen 
Uniformen  mit  der  Würde  und  dem  Anstände  eines  Königs  von 
ihren  Gästen,  den  unbekannten  Giaurs,  bewirten,  ihrerseits  mit 
einem  trefflichen  Kaffee  aufwartend,  dem  einzigen  Genuß  neben 
dem  Tschibuk,  den  diese  Naturkinder  kennen.  Im  Schatten  einer 
riesigen  Platane  waren  wir  gelagert,  doch  nicht  allzunahe;  denn 
auf  derselben  hatten  ein  Storchenpaar  und  Tausende  von  Sperlingen 
ihr  Quartier  aufgeschlagen,  deren  Nester  alle  Zweige  bedeckten 
und  sogar  ringsherum  in  das  Storchennest  hineingebaut  waren. 

Der  ganze  Wachtposten  liegt  sehr  einsam  und  befindet  sich 
mit  seinen  Insassen  in  dem  bekannten  verwahrlosten  Zustande, 
der  alle  dem  Staate  gehörige  Einrichtungen  außerhalb  Konstan- 
tinopels auszeichnet.  Ein  steinernes  Wachthaus  und  ein  elender, 
halb  in  Trümmern  liegender  Han  gerade  gegenüber  waren  die 
ganzen   Baulichkeiten.     Ein   gut    erhaltener  Brunnen   fehlte   nicht. 

Es  galt  von  hier  aus  zu  Fuß  das  Ziel  unseres  Ausflugs,  eine 
neuentdeckte  Höhle  zu  erreichen.  Einer  der  Saptiehs  fand  sich 
bereit,    uns    nach    der    eine    halbe    Stunde    entfernten    Höhle    zu 


i)  Daher  der  Name.  Kutschuk  (d.  h.  klein),  im  Gegensatz  zu  Bujuk- 
Tschekmedsche  (große  Schublade),  einem  ganz  ähnlichen  Strandsee  etwas 
weiter  nach  Westen. 


—       29       — 

begleiten.  Es  war  ein  Veteran  von  mindestens  60  Jahren,  ein 
Araber  von  kräftiger,  hoher  Gestalt  und  dem  Anstand  eines 
Königs.  Er  verkürzte  uns  den  Weg  durch  Erzählungen  aus 
seinen  Feldzügen,  namentlich  gegen  die  Ägypter  in  Syrien,  vor 
30  Jahren,  wobei  er  mit  Stolz  des  Aga  Moltke  erwähnte,  den  er 
oft  begleitet  hatte. 

Der  Weg  führte  auf  einer  wohl  noch  der  Römerzeit  an- 
gehörigen  gepflasterten  Straße  im  Tale  des  Tundschai  hinauf, 
das  sich  bei  der  Höhle  ziemlich  verengt  und  mit  seinen  pitto- 
resken Kalkfelswänden  eine  ganz  hübsche  Landschaft  bildet,  der 
nur  der  gänzliche  Mangel  an  Menschen  und  menschlichen  Woh- 
nungen den  Charakter  der  Verlassenheit  gibt.  Dicht  am  Wege 
sprudelt  eine  klare  und  kühle  Quelle  von  beträchtUcher  Stärke 
aus  dem  eozänen  Kalkgebirge,  das  hier  beginnt.  Sie  dürfte  der 
zutage  tretende,  in  ein  tieferes  Niveau  getretene  unterirdische 
Wasserlauf  sein,  der  die  Höhle  erzeugt  hat.  Omer  Pascha,  der 
Feldherr  des  Krimkrieges,  hat  sie  in  ein  Becken  fassen  lassen, 
und  Mustapha,  unser  alter  Araber,  war  sofort  mit  der  Volkssage 
bei  der  Hand,  die  er  natürlich  als  unzweifelhafte  Wahrheit  vor- 
trug, daß  das  Wasser  aus  der  Donau  komme  und  unter  dem 
ganzen  Balkan  durchgehe.  Derartige  Sagen  gehen  übrigens  in 
Thrakien  von  fast  allen  mit  größerer  Stärke  aus  dem  Kalkgebirge 
hervorbrechenden  Quellen. 

Nahe  dabei  an  der  rechten  Talwand  und  am  linken  Ufer 
der  Tundschai  sind  die  beiden  Eingänge  zu  der  Höhle,  der  eine 
in  geringer  Höhe  über  der  Talsohle,  der  andere  etwas  höher, 
etwa  25  m  über  derselben.  Ein  breiter  und  hoher  Gang  führt 
geradeaus  in  den  Berg  hinein,  etwa  40  m  lang,  verengt  sich 
dann,  während  ein  breiter  Eingang  rechts  in  einen  großen,  min- 
destens 4  m  höher  liegenden  Saal  hinaufgeht.  Derselbe  hat  in 
der  größten  Breite  nach  meiner  ungefähren  Messung  12  m ,  ist 
30  m  lang  und  in  der  Mitte  13  bis  14  m  hoch;  er  ist  fast  bis 
in  den  Hintergrund  hell  erleuchtet,  da  er  vom  eine  8  bis  9  m 
breite  und  6  m  hohe  Öffnung  gegen  das  Tal  hat.  Diese  große 
Halle  ist  im  ganzen  ein  Werk  der  Natur;  aber  in  ihrem  vorderen 
Teile  finden  sich  überall  Spuren  von  Menschenhand,  so  nament- 
lich an  der  Südseite,  dem  unterirdischen  Eingang  schräg  gegen- 
über, drei  in  den  weichen  Kalkfelsen  gehauene  Nischen.  Die 
erste    und    größte,    deren  Öffnung  an  der  Basis  etwa  5  m  Weite 


—     30     — 

hat,  hat  ganz  die  Form  einer  Apsis,  und  im  Hintergrunde  der- 
selben sind  drei  Sitzreihen  eingehauen,  die  amphitheatralisch  auf- 
steigen, aber  so  niedrig  und  schmal  sind,  daß  15  Personen,  für 
die  der  Platz  hinreichen  würde,  höchst  unbequem  sitzen  mußten. 
In  der  Mitte  befindet  sich  ein  größerer  und  höherer  Sitz.  Neben 
dieser  Nische  und  mit  ihr  durch  einen  i  m  breiten,  2  m  hohen 
und  ebenso  langen  Gang  verbunden,  befindet  sich  eine  kleinere 
viereckio-e  Nische,  in  deren  Hintergrunde  eine  Art  Altar  aus  dem 
Felsen  gehauen  ist.  In  der  Wand  sieht  man  Löcher,  worin  viel- 
leicht Balken  zum  Verschluß  der  Nischen  befestigt  waren,  wäh- 
rend andere  ähnliche  Löcher  höher  oben,  sowie  breite  Einschnitte 
bis  gegen  die  Decke  hinauf  darauf  hindeuten,  daß  die  Grotte 
durch  Scheidewände  in  mehrere  Abteilungen  zerfiel.  Auch  an 
der  Decke  erkennt  man  Spuren  menschlicher  Arbeit,  da  dieselbe 
vier  Aushöhlungen  in  der  Gestalt  eines  Kuppelgewölbes  zeigt, 
während  die  Grotte  in  der  Mitte  sich  zu  einer  hohen,  offenbar 
aber  natürlichen,  ziemlich  spitz  zulaufenden  Kuppel  emporschwingt. 
Eine  fünfte,  den  vier  kleineren  entsprechende  Wölbung  ganz  an 
der  weiten,  vorderen  Öffnung  ist  mit  der  Decke,  wie  es  scheint, 
gewaltsam  zerstört. 

Ganz  im  Hintergrund  der  Halle  ist  in  einiger  Höhe  und 
durch  Stufen  zugänglich  ein  viereckiger  Block  oder  Sitz  aus- 
gehauen, und  ein  tiefes  und  enges  Loch  führt  in  den  Felsen 
hinein.  Der  Boden  ist  dick  mit  altem  Schafmist  bedeckt,  und 
die  Decke  hier  und  da,  namentlich  vorn,  von  Rauch  geschwärzt, 
von  Inschriften  jedoch  keine  Spur. 

Auch  außerhalb  der  Höhle  sieht  man  an  den  Felsen  mannig- 
fach, am  häufigsten  nach  der  Quelle  hin,  Spuren  von  mensch- 
licher Arbeit:  ausgehauene  Terrassen,  Reste  von  Treppen,  Riste 
und  Balkenlöcher,  als  ob  ein  Haus  schräg  an  den  Felsen  angebaut 
gewesen  wäre  u.  dgl. 

Wozu  nun  das  Ganze  gedient,  dürfte  schwer  zu  bestimmen 
sein;  vielleicht  gelingt  es  einmal  einem  Archäologen  von  Fach, 
der  ohne  Lieblingsideen  und  Vorurteile  die  Grotte  untersucht, 
das  Rätsel  zu  lösen.  Dieselbe  war  bisher  den  Konstantinopler 
wie  den  abendländischen  Gelehrten,  soviel  ich  weiß,  unbekannt, 
und  ich  kenne  daher  nur  zwei  Meinungen  über  ihre  Bedeutung. 
Die  eine  ist  die  des  Herrn  von  Hochstetter,  der  im  Sommer 
1869,  als  er  für  die  Zwecke  der  türkischen  Eisenbahngesellschaft 


—     31     — 

die  Balkanhalbinsel  durchreiste,  auch  der  Sankt  Georgshöhle,  so 
nennen  die  Griechen  dieselbe,  einen  flüchtigen  Besuch  abstattete. 
Er  vermutet,  sie  habe  als  geheime  Kultstätte  der  ersten  Christen 
gedient.  Dem  widerspricht  aber  der  Umstand,  daß  unsere  ganze 
Reisegesellschaft,  obwohl  sie  Ähnliches  erwartet  und  daher  eifrig 
danach  gesucht  hat,  auch  nicht  das  geringste,  darauf  hindeutende 
Abzeichen,  ein  Kreuz  oder  dergleichen,  entdeckt  hat.  Die  ganze 
Anlage  hat  durchaus  keinen  christlichen  Charakter.  Die  andere 
mir  bekannte  Ansicht  ist  die  des  Dr.  Dethier,  eines  seit  30  Jah- 
ren in  Konstantinopel  ansässigen  deutschen  Gelehrten,  der  um 
die  Erforschung  der  dortigen  Altertümer  manches  Verdienst  hat, 
in  diesem  Falle  aber  die  Neigung  erkennen  läßt,  gewisse  Lieb- 
lingsideen überall  verwirklicht  zu  sehen.  Er  findet  nämlich  in 
dieser  Grotte,  die  er  in  unserer  Gesellschaft  besucht  hat,  eine 
Opferstätte  von  Phalbauern,  die,  zu  den  von  Troja  an  den  Stry- 
mon  auswandernden  Päoniern  gehörig  (so  interpretiert  er  Hero- 
dots  Angabe),  auf  dem  Durchzuge  an  der  nahen  Lagune  von 
Kutschuk-Tschekmedsche  sitzen  blieben.  Es  bedarf  wohl  zur 
Würdigung  dieser  Theorie  kaum  noch  der  Bemerkung,  daß  man 
von  dortigen  Pfahlbauten  noch  nicht  die  geringste  Spur  ent- 
deckt hat. 

So  viel  scheint  mir  indessen  klar  zu  sein,  daß  man  in  der 
Tat  eine  Kult-  und  Opferstätte  vor  sich  hat,  und  zwar  eine  heid- 
nische, vielleicht  sogar  einen  Orakelsitz  der  Thraker.  Darauf 
mag  der  erhöhte  Sitz  im  Hintergrunde  der  Höhle  mit  dem  Loch 
im  Felsen  hinweisen,  während  in  der  amphitheatralischen  halb- 
runden Nische  die  Priesterschaft  ihre  Sitze  hatte,  den  Oberpriester 
in  der  Mitte,  und  durch  den  Gang  mit  den  in  der  viereckigen 
Nebengrotte  Opfernden  in  Verkehr  stehend. 

Dies  möge  über  die  große  Halle  genügen.  Ich  hatte  schon 
erwähnt,  daß  der  untere  Gang  an  der  Stelle,  wo  man  rechts  in 
jene  hinaufsteigt,  sich  bedeutend  verengt,  und  zwar  zu  einer 
Breite  von  2  und  einer  Höhe  von  i\'^  m.  Gleich  darauf  er- 
weitert er  sich  aber  wieder,  und  die  eigentliche  innere  Höhle 
beginnt  mit  einer  imposanten,  16  bis  17  m  breiten  und  etwa 
25  m  hohen  Wölbung,  deren  Stalaktiten,  von  bengalischem  Feuer 
beleuchtet,  magisch  erglänzten.  ^lit  allem  zu  einer  solchen  Ex- 
pedition Nötigen  versehen,  drangen  wir  vor;  ein  Matrose  des  in 
Konstantinopel    stationierten    französischen    Kriegsschiffs,    dessen 


—      32      — 

Kommandeur  in  unserer  Gesellschaft  war,  war  mit  Feuerwerk, 
Tauen  und  langen  Leinen  beladen,  während  wir  selbst  Signal- 
pfeifen und  Wachskerzen  führten. 

Nach  dieser  ersten  Erweiterung  nahe  am  Eingang  verengt 
sich  die  Galerie  sofort  wieder  und  wird  so  eng,  daß  die  frag- 
lichen Benutzer  der  Höhle,  wenn  nicht  erst  Omer  Pascha,  in  der 
Mitte  einen  zwei  Fuß  tiefen  und  ebenso  breiten  Gang  in  den 
Boden  gehauen  haben,  um  aufrecht  gehen  zu  können.  Der  Weg 
steigt  mehr  und  mehr,  und  an  einer  Stelle,  etwa  ^4  Stunde  vom 
Eingange,  war  ich  überrascht,  an  einer  Seitenwand  neben  einer 
etwas  älteren,  völlig  unleserhch  gewordenen  lateinischen  Inschrift 
mit  deutschen  Buchstaben  in  den  weichen  Kalkstein  eingekratzt 
zu  lesen:  ,, Ziegler  181 1".  So  weit  ist  also  schon  in  diesem 
Jahre  allem  Anschein  nach  ein  Landsmann  vorgedrungen.  Nach 
40  Minuten  Gehens  zweigte  sich  links  steil  abwärts  ein  unzugäng- 
licher Hühlenraum  ab,  gleich  darauf  ein  zweiter.  Nach  einigem 
Steigen  erreichten  wir  eine  große  Halle,  wo  der  Weg  sich  gabelt, 
imd  wir  die  Galerie  rechts  einschlugen.  Bis  hierher  war  unser 
biederer  Mustapha  an  der  Spitze  marschiert,  fast  unaufhörUch 
mit  sonorer,  klangvoller  Stimme  Gebete  aus  dem  Koran  singend, 
zur  Verscheuchung  der  bösen  Geister.  So  weit  kannte  er  das 
Terrain;  als  wir  aber  noch  weiter  vordrangen,  verzichtete  er  auf 
die  Führerschaft  und  schloß  sich  dem  Ende  des  Zuges  an, 
um  dem  Padischah  das  Leben  seines  besten  Saptiehs  nicht  zu 
gefährden.  Schöne  Tropfsteinbildungen  zeigten  sich  an  den 
Wänden  und  an  der  Decke,  Säulen  ragten  empor,  eine  mitten 
in  der  Galerie  und  gegen  8  m  hoch,  i  bis  2  Fuß  stark,  bis  zur 
Decke  reichend.  Bald  hörten  wir  in  der  Ferne  ein  schrilles 
Pfeifen,  das,  je  mehr  wir  vorrückten,  immer  lauter  ertönte,  und 
schließlich  umschwärmten  uns  Tausende  von  Fledermäusen,  welche 
Wände  und  Decke  schwarz  bedeckten.  Der  Glanz  unseres  ben- 
galischen Feuers  scheuchte  sie  noch  mehr  auf,  und  so  zahlreich 
umschwärmten  sie  uns,  daß  man  nur  die  Hand  auszustrecken 
brauchte,  um  eine  zu  fassen.  Schon  war  unserm  Vordringen  ein 
Ziel  gesetzt,  denn  die  Höhle  verengte  sich  plötzlich  so,  daß  man 
auf  Händen  und  Füßen  hätte  weiterkriechen  müssen.  Dazu 
war  niemand  von  der  Gesellschaft  geneigt,  obwohl  ich  überzeugt 
bin,  daß  der  Gang  sich  bald  wieder  erweiterte,  denn  viele  Fleder- 
mäuse   kamen   aus    der    engen   Öffnung    hervor.      Außerdem   war 


—      33     ~ 

aber  der  Rauch  so  dick  geworden,  daß  man  nur  noch  mit  Mühe 
atmete.  Ein  schneller  Rückzug  war  daher  unvermeidlich,  und  wir 
konnten  nicht  feststellen,  ob  die  Höhle,  wie  Mustapha  mit  ernster 
Miene  erzählte,  wirklich  bis  Stambul  geht.  Bald  erreichten  wir  den 
Kreuzweg  wieder  und  schlugen  nun  den  anderen  Gang  ein,  der, 
beständig  aufwärts  steigend,  der  allgemeinen  Richtung  der  Höhle 
nach  Süden  folgt.  Nach  kurzem  Wandern  erreichten  wir  das 
Ende  desselben,  das  nur  kriechend  erreichbar  war,  und  wo  ich 
eine  durch  den  Felsen  sich  drängende  abgestorbene  Baumwurzel 
fand,  also  ein  sicheres  Zeichen,  daß  wir  der  Erdoberfläche  an 
diesem  höchsten  Punkte  der  Höhle  nicht  fern  waren.  Die  Tem- 
peratur war  auch  überall  eine  hohe  und  nie  unter   1 5  **  R. 

Nachdem  wir  Vaterland  und  Jahreszahl  mit  unsern  Kerzen 
an  die  Decke  gemalt,  traten  wir  den  Rückweg  an,  auf  dem 
deutsche  Volkslieder,  von  einem  jungen  englischen  Diplomaten 
angestimmt,  Mustaphas  Geistergesänge  ersetzten.  Auch  an  Zwi- 
schenfällen hatte  es  nicht  gefehlt;  denn  oft  genug  fiel  man  in  ein 
tiefes,  mit  Wasser  oder  Schlamm  gefülltes  Loch  oder  rutschte 
auf  dem  schlüpfrigen  Fledermausguano,  der  dicht  den  Boden 
bedeckte,  einen  Abhang  hinab.  Omer  Pascha,  als  erfahrener 
Landwirt,  hat  viel  davon  hinausschaffen  und  als  Dünger  ver- 
wenden lassen;  man  sah  noch  hier  und  da  zusammengeworfene 
Haufen. 

Bis  zum  fernsten  Punkte,  den  wir  erreicht,  mochten  es  etwa 
50  Minuten  Weges  sein,  und  nach  zweistündigem  Aufenthalt  im 
Innern  der  Höhle  traten  wir  wieder  an  das  Tageslicht.  Wir 
kehrten  nach  Yarim-Burgas  zurück,  wo  auch  unser  Zug,  der  noch 
bis  ans  Ende  der  fertiggestellten  Linie,  nach  Tschataldsche,  ge- 
fahren war,  nicht  lange  auf  sich  warten  ließ  und  uns  nach  Kon- 
stantinopel zurückbrachte. 


3.  Landschaftsbilder  von  der  bithynischen  Riviera.^) 

Will  man  im  Grient  das  Schöne  suchen,  so  gibt  es  nur  zwei 
Wege,  entweder  man  muß  sich  an  die  dürftigen  Reste  des  Alter- 
tums halten,  soviel  ihrer  Zeit   und  Barbaren  gelassen,   oder  aber, 


l)  Das   Ausland.     Hersg.    von   Fr.  von   Hellwald.     Augsburg    14.  Okt. 
1874.     Es  ist  anziehend  mit  der  vorliegenden  die  Schilderung  zu  vergleichen, 
Fischer,  Mittelmeerbilder.  3 


—     34     — 

und  das  ist  das  sicherere,  an  die  Natur,  die  hier  so  prächtig  wie 
nur  irgendwo  ihre  Tempel  erbaut  hat.  Die  Menschen  der  Neu- 
zeit haben  nichts  zu  dem  Bau  beigetragen,  nur  zu  seiner  Zer- 
störung. Jahrhunderte  lang  haben  sie  daran  gearbeitet,  täglich 
noch  arbeiten  sie  daran,  und  der  an  den  Anblick  sorgfältiger 
Pflege  und  Unterstützung  der  Natur  gewöhnte  Nordländer  hat 
Mühe  sich  über  die  tägliche  Vernichtung,  die  nie  etwas  Neues, 
selbst  wenn  es  nicht  besser  und  schöner  wäre,  dafür  schafft, 
hinwegzusetzen,  und  der  Freude  an  dem  noch  vorhandenen  Ein- 
gang zu  verschaffen. 

Und  es  ist  noch  herrlich  genug  was  übrig  geblieben!  Füge 
hinzu,  was  die  Vergangenheit  auf  jedem  Schritt  dem  Kundigen 
erzählt,  und  die  Gegenwart  an  Neuem,  Ungewohntem  bietet,  und 
der  Orient  wird  vor  deinem  erstaunten  Auge  liegen  wie  ein 
offenes  Buch  in  mächtigen  halbverwischten  und  schwer  zu  deuten- 
den Charakteren,  die  mit  jedem  neuen  Aufschlagen  immer  ver- 
ständlicher werden,  immer  neue  Geheimnisse  enthüllen,  neue  Ge- 
nüsse bringen. 

Einen  der  schönsten  und  anziehendsten  Ausflüge,  die  man 
von  Konstantinopel,  das  jemand  eine  vor  die  Säue  geworfene 
Perle  genannt  hat,  aus  machen  kann,  ist  der  in  den  Golf  von 
Ismid.  Schreiber  dieses  hat  denselben,  da  er  bislang  nur  zu 
Wasser  möglich  ist,  auf  der  „Sefa",  einem  kleinen  einem  Italiener 
gehörigen  Dampfer  in  einer  internationalen  Gesellschaft  gemacht, 
wie  sie  Konstantinopel  in  allen  Schichten  der  Bevölkerung  kenn- 
zeichnet, was  den  Reiz  einer  solchen  Fahrt  nur  erhöhen  kann. 

Aus  dem  Bosporus  ausgelaufen,  hielten  wir  uns  immer  nahe 
an  der  asiatischen  Küste,  wo  jenseits  Skutari  auf  der  Höhe  des 
Ufers  der  Riesenbau  der  Selimieh  Kischla,  wohl  die  größte  Ka- 
serne der  Welt,  von  vier  hohen  schlanken  Türmen  flankiert,  sich 
erhebt.  Ihr  gegenüber  das  große  Militärhospital  von  Haider 
Pascha,  und  vor  demselbem  der  englische  Friedhof  mit  dem 
schönen  Obelisken,  der,  ein  Denkmal  des  während  des  Krim- 
krieges hier  ihren  Wunden  erlegenen  englischen  Soldaten,  uns 
auch  an   manchen  verlorenen  Sohn  Deutschlands    erinnert.      Eine 


welche  General  v.  d.  Goltz  ein  Vierteljahrhundert  später  von  der  bithynischen 
Riviera  und  dem  Golfe  von  Ismid  gegeben  hat,  auf  dessen  noch  immer  nicht 
gewürdigte  Naturschönheiten  auch  er  nachdrücklich  hinweist.  Anabolische 
Ausflüge.     Berlin    1896.     S.   73 ff.  u.   372 ff. 


OD       

geräumige  Bucht  wird  jetzt  durchschnitten,  in  deren  Hintergrund 
man  die  Arbeiten  zu  der  Anlage  eines  Hafens,  und  unter  Bäumen 
versteckt  das  noch  nicht  ganz  beendete  Stationsgebäude  der 
neuen  Eisenbahn  erblickt.  Jenseits  zieht  sich  die  Höhen  hinauf 
der  düstere  Zypressenwald  des  großen  Friedhofes  von  Skutari. 
Doch  nicht  lange  haftet  das  Auge  an  diesem  Totenhaine,  denn 
schon  liegt  auf  einem  hohen  Plateau  weit  ins  ]\Ieer  vorgestreckt 
Kadi-kjöi  vor  uns,  das  alte  Chalkedon,  jetzt  wieder  zur  schönsten 
Stadt  am  Marmarameer  emporgeblüht,  fast  ganz  von  Griechen 
bewohnt,  deren  schmucke,  luftige  Häuser  freundlich  herüber- 
schauen, der  letzte  Vorort  von  Konstantinopel  nach  Süden  hin. 
Dann  eine  neue  Bucht  und  ein  neues  Vorgebirge,  Fener  Burnu 
(Leuchtturmspitze)  von  seinem  hohen  Leuchtturm  so  genannt,  der 
sich  vor  einem  Wald  von  Platanen,  Therebinten,  Zypressen  und 
Pinien  erhebt,  dem  Belustigungsort  der  Chalkedonier.  Hier  stand 
einst  ein  römischer  Kaiserpalast  und  ein  Tempel  der  Aphrodite. 
Hier  kann  man  noch  heute  an  einem  Sonn-  oder  Festage  Grie- 
chinnen sehen,  die,  wie  einst  eine  ihrer  Ahnen,  würdig  wären 
als  Modell  einer  Aphrodite  zu  chenen.  Denn  was  man  auch 
immer,  und  meist  mit  Recht,  von  der  Entartung  der  Griechen  am 
Bosporus  (wenn  man  diese  Byzantiner  Grieclien  nennen  darf) 
anführen  mag,  das  eine  wird  man  nicht  leugnen  können,  daß  sie 
wohl  infolge  der  beständigen  und  starken  Zuwanderung  von  Insel- 
griechen noch  immer  die  hohen  Körpervorzüge  der  Hellenen  zu 
Phidias'  Zeit  besitzen,  und  an  geistiger  Begabung  alle  übrigen 
Völkerschaften  des  türkischen  Reiches  weit  hinter  sich  lassen. 

Das  ganze  Ufer  von  Skutari  an  bietet  einen  herrlichen  An- 
blick. Üppig  grüne  Gärten,  wo,  neben  Aprikose  und  Pfirsich, 
Mandeln  und  köstliche  Feigen  reifen,  wechseln  ab  mit  reich  ge- 
segneten Rebengeländen  und  gelben  Getreidefeldern,  bis  fem  auf 
den  Höhen  steiniger  Boden  und  Mangel  an  Wasser  jeden  Acker- 
bau unmöglich  machen.  (Die  Eisenbahn  hat  hier  ganze  Villen- 
siedelungen  entstehen  lassen.)  Buchten  schneiden  in  das  Land 
ein,  und  mehrere  kleine  Eilande  unfern  der  Küste,  steil  aus  der 
Flut  emporsteigend,  und  schon  in  ihren  Fundamenten  unter- 
waschen, deuten  darauf  hin,  daß  hier  die  Wellen  eine  reiche 
Beute  gemacht  haben.  Bis  nach  den  Prinzeninseln  bemerkt  man 
geringe  Tiefe  und  aufragende  Klippen.  Das  größte  dieser  Land- 
trümmer   —    es    sind    die    Fortunas    genannten    Klippen    —   war 

3* 


—     36     - 

bebaut,  und  sein  sanft  nach  Norden  abgedachter  Rücken  trug 
einen  Wein-  und  Obstgarten,  in  dessen  Mitte  sich  ein  Erdhügel 
erhob,  die  Wohnstätte  des  einsamen  Menschenkindes,  das  auf 
dieser  Klippe  haust;  unten  unter  dem  überhängenden  Felsen  lag 
ein  kleiner  Nachen,  ein  schwaches  Brett,  das  den  Einsiedler  mit 
der  Welt  verbindet. 

Wald  findet  man  an  dieser  Küste  nicht;  die  einst  hier  hau- 
sende Zivilisation  hat  ihn  schon  vor  einem  Jahrtausend  vielleicht 
verschlungen,  und  die  Trägheit  und  Beschränktheit  der  Bewohner 
läßt  keinen  wieder  aufkommen.  Aber  üppiges  Buschwerk  von 
Eichen,  Arbutus,  Lorbeer  und  Myrthen,  und  andern  aromatischen 
Sträuchem  der  mediterranen  Buschvegetation  (Macchien)  bedeckt 
die  unbebauten  Hänge.  Nur  zu  oft  wird  es  niedergehauen, 
um  als  einziges  dürftiges  Feuerungsmaterial  zu  dienen.  Nur  von 
Obstbäumen  umgeben  strecken  sich  die  Ortschaften  am  Ufer  hin, 
Kartal  und  Pendik  die  bedeutendsten ,  die  Höhen  dahinter  sind 
kahl  und  verbrannt.  Pendik  ist  das  alte  Panteichion,  der  Lieb- 
lingsaufenthalt Belisars,  der  hier  ein  Landgut  hatte,  und  von 
seinen  Feldzügen  ausruhte,  wie  uns  Prokop  von  Cäsarea  erzählt. 
Etwas  nördlich  davon,  der  Insel  Proti  gerade  gegenüber,  erhebt 
sich  über  dem  gleichnamigen  Städtchen  unten  am  Strande  der 
400  m  hohe  Maltepe,  nächst  dem  nahen  Kaisch  Dagh  der  letzte 
hohe  Berg  der  bithynischen  Halbinsel  gegen  Konstantinopel  hin, 
bei  den  Byzantinern  Auxeneis  genannt,  nach  einem  Einsiedler, 
der  hier  ein  Kloster  errichtete,  dessen  Trümmer  man  noch  am 
Nordwestabhang  erblickt.  Zugleich  war  aber  diese  Höhe  auch 
die  letzte  Station  des  berühmten  Feuertelegraphen,  den  unter 
dem  Kaiser  Theophilos  (833  —  842)  der  große  Mathematiker  und 
Astronom  Leo  einrichtete,  und  der  auf  einer  Höhe  bei  Tarsus 
in  Kilikien  beginnend,  in  kurzer  Zeit  nach  Konstantinopel  meldete, 
wenn  die  Araber  die  Reichsgrenzen  überschritten. 

Von  Pendik  südostwärts  beginnt  eine  reichere  Gliederung 
der  Küste,  kleine  Halbinseln,  Tuz  Burnu,  Ütsch  Burnu,  strecken 
sich  vor  und  am  Yelken  Kaya  Burnu  nimmt  die  bis  dahin  Süd- 
ost streichende  Küste  Ostrichtung  an  und  man  fährt  in  den 
Busen  von  Ismid,  den  Sinus  Astacenus  der  Alten  ein,  der  sich 
in  einer  Länge  von  gegen  48,  und  einer  Breite  von  etwa  5  km, 
sich  aber  zuletzt  auf  2 — 3  verengend,  genau  von  Westen  nach 
Osten   in    das  Land   hinein  erstreckt;   jetzt   so   genannt  nach  der 


—     37     — 

dürftigen  und  von  Fiebern  heimgesuchten  Stadt  Ismid  oder  Is 
kimid,  dem  alten  prächtigen  Nikomedia,  dem  Sitze  der  Auguste 
und  Cäsaren  des  Ostens,  mit  dessen  Glänze  Kriege,  Barbaren, 
Perser  und  Türken  gründlich  aufgeräumt  haben. 

Dieser  Golf,  fast  einem  Binnensee  gleich,  ist  einer  der 
schönsten  der  Welt,  und  die  Herrscher  von  Byzanz  wußten  ihn 
wohl  zu  schätzen,  denn  sie  bauten  sich  hier  Lustschlösser  und 
hielten  sich  oft  dort  auf.  Biegt  man  um  das  Kap  Yelken  Kaya, 
wo  ein  mächtiger  Felsblock,  einem  zertrümmerten  Turm  nicht 
unähnlich,  sich  aus  den  Fluten  als  VVogenbrecher  erhebt,  so 
öifnet  sich  eine  herrliche  Aussicht  in  das  Innere  des  Meerbusens. 
Auch  die  Natur  nimmt  einen  andern  Charakter  an;  der  Hang 
des  langsam  aufsteigenden,  dem  Süden  zugekehrten  Gebirges, 
auf  der  letzten  Strecke  jenseits  des  Vorgebirges  ohne  alle  Kultur, 
ist  gut  angebaut  und  prangt  im  Grün  der  Reben,  untermischt 
mit  graugrünen  Olivengärten,  die  hier  herrlich  gedeihen  und 
reichen  Ertrag  liefern.  Bald  erreicht  man  den  Ort  Aritsu,  von 
den  Türken  Daridja  genannt,  der  sich  am  Ufer  malerisch  hinauf- 
zieht, einzelne  Häuser  förmlich  am  Felsen  hängend,  der  Hafen 
von  zahlreichen  Küsten-  und  Fischerfahrzeugen  belebt.  Nur 
Griechen  wohnen  hier,  und  die  ehemalige  ^Moschee  liegt  in 
Trümmern,  ihr  Minareh,  halb  zerfallen,  schimmert  zwischen  dem 
Grün  der  Platanen  und  Nußbäume  hervor.  Ohne  viele  Arbeit 
nährt  der  Ertrag  der  Öl-  und  Weingärten  die  Bewohner.  Das 
Obst  und  die  Trauben  von  Aritsu  sind  berühmt  und  werden 
nach  Konstantinopel  und  im  ganzen  Marmarameer  versandt;  nur 
wenig  wird  gekeltert,  obwohl  der  Wein  einen  sehr  angenehmen 
Geschmack  und  Feuer  hat,  dem  am  Neusiedlersee  wachsenden 
ähnlich.  Eine  reiche  Einnahmequelle  ist  auch  der  Fischfang, 
namentlich  im  Mai,  wo  große  Massen  StavTiden,  ein  der  Makrele 
ähnlicher,  aber  weit  kleinerer  Fisch,  in  den  Golf  kommen,  und 
zu  Millionen  mit  leichter  Mühe  gefangen  werden.  Eingesalzen 
und  getrocknet  bilden  sie  überall  am  Marmarameer  und  im 
Archipel  einen  gangbaren  Handelsartikel. 

Nicht  weit  nach  Nordosten  von  Daridja,  im  Innern  des 
Landes,  liegt  der  kleine  Ort  Ghebisseh,  Lybissa  bei  den  Alten, 
Dakivyza  bei  den  Byzantinern,  einst  ein  wichtiger  Rastpunkt  des 
Karawanenhandels.  Hier  fand  Hannibal,  der  unermüdliche  Kämpfer 
für  seines  Vaterlandes   Größe    und  Freiheit,    den    selbstgewählten 


-      38     - 

Tod,  der  ihn  endlich,  fern  von  der  Heimat,  der  unerbittlichen 
Rache  der  Römer  entzog.  Hier  fristete  auch  der  arme  Knabe 
Johannes  Laskaris,  der  Erbe  von  Byzanz,  sein  trauriges  Dasein, 
nachdem  Michael  Paläologos  für  sich  selbst  die  Stadt  den  Latei- 
nern entrissen  und  ihn  geblendet  hierher  verwiesen  hatte.  Unten 
am  Gestade,  weiter  ostwärts,  lagen  die  berühmten  warmen  Bäder 
von  Polopythia.  Warme  Quellen  sind  zu  beiden  Seiten  des  Golfs 
Ismid,  wohl  an  die  Bruchlinien  gebunden,  auf  welchen  der  Golf 
liegt,  häufig  genug.  Die  Quellen  sind  im  Laufe  der  Zeit  ver- 
schwunden, und  es  ist  schwer  die  Lage  von  Polopythia  zu  be- 
stimmen. Nach  Stephan  von  Byzanz  lag  es  aber  an  der  Nord- 
küste, nicht  weit  vom  Eingang  in  den  Busen,  und  Prokop 
berichtet,  daß  sich  Justinian  nahe  dabei  einen  Palast  erbaute. 
Trümmer  eines  solchen  finden  sich  nun  in  der  Tat  auf  einem 
Hügel  am  Meeresufer,  4  km  östlich  von  Daridja,  an  einem  Orte, 
der  noch  heute  von  den  Türken  Eski  Serai  oder  Eski  Hissar 
(alter  Palast,  altes  Schloß),  bei  den  Griechen  Paläokastro  genannt 
wird.^)  Es  ist  ein  großes  Viereck  aus  einem  äußern,  dem  Meere 
zugeneigten  Teile,  und  einem  inneren,  höher  liegenden  bestehend. 
Das  Ganze  zeigt  feste  Mauern,  mit  viereckigen  und  runden  Tür- 
men, die  noch  immer  10  bis  13  ra  hoch  sind  und  sehr  wohl  auf 
die  Zeit  Justinians  zurückgehen  können.  In  der  Nähe  der  Ruine, 
an  der  Mündung  eines  Tales,  liegt  jetzt  ein  kleiner  Ort  von 
wenigen  Häusern,  aber  es  ist  um  so  wahrscheinlicher,  daß  hier 
die  Bäder  von  Polopythia  und  der  Palast  Justinians  zu  suchen 
sind,  da  die  Gegend  in  der  Tat  schöner  ist  als  irgend  ein  Punkt 
der  Nordküste  vom  Yelken  K^ya  Bumu  bis  Ismid.  An  der  West- 
seite des  Ruinenhügels  öffnet  sich  nämlich  ein  ziemlich  weites 
von  Ghebisseh  herabkommendes  Tal,  durch  das  sich  ein  Bach 
schlängelt  und  das  noch  heute  üppige  Vegetation  und  gute  Kul- 
tur zeigt.  Weit  zieht  es  sich,  allmählich  flacher  werdend,  in  das 
Land  hinein,  und  im  Hintergrunde  erhebt  sich  auf  einer  Anhöhe 
das  Landhaus  des  Großveziers  Edhem  Pascha.  Einen  neuen, 
eigentümlichen,  mit  Hannibal  und  Justinian  nicht  recht  zu  ver- 
einigenden Reiz  gewinnt  die  Gegend  durch  eine  schöne  Brücke,  die 
noch  im  Bau  ist  und  über  welche  die  Eisenbahn  von  Skutari  nach 
Ismid  führen  wird.    Auf  festen,  schlanken  Pfeilern,  aus  rotem  und 


l)  V.  d.  Goltz  gibt  S.  375   ein  Bild  der  Ruine. 


—     39     — 

grauem  Marmor,  der  sich  hier  überall  in  Masse  findet,  über- 
schreitet sie  das  Tal  in  kühner  Höhe,  um  sich  jenseits  in  einem 
Einschnitt  zu  verlieren. 

Verfolgt  man  die  Linie,  so  kommt  man  nach  einem  zwei- 
stündigen, bei  der  Gluthitze  eines  Mittags  im  Juni  in  dieser 
Gegend  nicht  gerade  erquickenden  Spaziergange  an  einen  Punkt, 
welcher  der  schwierigste,  aber  auch  der  schönste  des  ganzen 
Baues  ist.  Die  Eisenbahnlinie  zieht  sich  nämlich  von  ihrem  An- 
fang, zwischen  Skutari  und  Kadi-kjöi  an  immer  am  Meere  ent- 
lang, was,  beiläufig  bemerkt,  nicht  gerade  von  ungewöhnlicher 
Klugheit  zeugt,  insofern  sie  Orte  verbindet,  die  zur  See  schon 
durch  eine  regelmäßige  Dampferlinie  dem  Verkehr  erschlossen 
sind,  während  bei  ebenso  geringen  Bauhindemissen  im  Innern 
weit  größere  Vorteile  erreicht  werden  würden.  Hinter  Kartal 
zieht  sie  sich  etwas  ins  Innere,  bis  sie  hinter  Daridja  den  Golf 
von  Ismid  erreicht  und  an  demselben  in  bedeutender  Höhe 
hinzieht. 

An  dem  erwähnten  Punkte  schiebt  sich  ein  breiter  Rücken 
ins  Meer  vor,  der  durch  einen  Einschnitt  von  15  m  Tiefe  durch- 
schnitten wird.  Hier  hatte  ich  ein  unerwartetes  Zusammentreffen 
mit  einem  englischen  Ingenieur,  einem  alten  Bekannten,  mit  dem 
ich  ein  paar  Monate  früher  auf  der  Donau  gereist  war,  und  der 
den  Bau  dieser  Strecke  leitete.  Er  kehrte  damals  gerade  von 
einer  großen  Weltreise  zurück,  auf  der  er  auf  der  Überfahrt  von 
Buenos  Aires  Schiffbruch  gelitten  und  sich  im  Rettungsgürtel 
anderthalb  Tage  auf  dem  Meere  herumgetrieben  hatte.  Jetzt 
fand  ich  ihn  hier  wieder,  wie  er  eben  beschäftigt  war,  an  diesem 
schönen  Punkte  seine  Baracke  zu  bauen,  die  zugleich,  ein  sonder- 
bares Zusammentreffen,  das  Hauptquartier  des  Bauabschnitts 
Deutschland  ist.  Die  Strecken  der  Linie  sind  nämlich  nach  den 
einzelnen  Staaten  benannt  und  durch  Zufall  oder  Spielerei  grenzen 
auch  hier  Frankreich  und  Deutschland  aneinander.  Und  unter 
den  Beamten  und  Arbeitern  welches  Völkergemisch!  Der  erste 
Aufseher  meines  Bekannten  war  ein  Korse,  der  zweite  ein  Ita- 
liener; in  einer  Baracke,  die  als  Schmiede  diente,  befand  sich 
ein  alter  Grieche,  der  seine  Familie  mitgebracht  und  mit  seinem 
Kinde,  einem  reizenden  kleinen  Mädchen,  spielte,  ein  merk- 
würdiger Kontrast  zu  dieser  Umgebung.  Gruppen  von  Arbeitern 
standen    und    lagen   umher,    denn    es    war   Sonntag,    wo    nur   die 


—     40     — 

wenigen  Türken  arbeiteten.    Die  meisten  Arbeiter  waren  Kroaten, 
aus    dem    türkischen    Kroatien,    knochige,    sonnenverbrannte    Ge- 
stalten,   mit   verschlagenen    Gesichtern,    den  Fez    oder  die  Mütze 
aus  Schaffell  auf  dem  Kopfe,  in  ihrer  grauen,  aus  dem  bekannten 
filzartigen  Stoffe  gefertigten  nationalen  Kleidung.    Andere  Gruppen 
waren   von  Türken    gebildet,    die  während   ihrer  Mittagsruhe   ihre 
Zigarette  oder  ihren  Tschibuck  rauchten,  wieder  andere,  Griechen, 
unterhielten  sich  mit  Diskuswerfen,  wobei  ihnen  ein  glatter,  runder 
Stein  als  Diskus  diente,  den  sie  mit  großer  Geschicklichkeit  und 
Treffsicherheit  handhabten:    ein  Spiel,    das,  wie   das  Ringen,  bei 
den  Griechen  am  Bosporus  noch  viel  geübt  wird.     Noch  andere 
waren    dabei,    aus  Steinen  und  Reisig  Hütten  zu  bauen,   die  bei 
dem  schlechten  Material  elend  genug  ausfielen,  oder  sie   stellten 
die    durch    einen    heftigen    Regen    in   der   letzten    Nacht    durch- 
weichten  wieder   her.     Die   trockneten  ihre    durchnäßten    Kleider 
und  Decken,  die  kochten  ihr  aus  Bohnen  und  anderem  Gemüse, 
ohne  Fleisch,  bestehendes  Mahl,  und  nicht  wenige  lagen,  je  nach 
dem    Geschmack,    in    ihren   Löchern   oder    in    der   Mittagssonne, 
und    schliefen    den    Schlaf  des  Gerechten,    der   einem   Menschen 
zu   gönnen   ist,    der   in    diesem   Klima  von  4Y2  Uhr  morgens    bis 
7  Uhr   abend   mit    2^3  Stunde   Ruhe    dazwischen    gearbeitet   hat. 
Alle    aber   verhielten    sich    still   und   friedlich,    keine    Spirituosen, 
kein  Lärm  und  Geschrei,  so  daß  dieses  Lager  von  gar  nicht  oder 
halb  zivilisierten  Pionieren  der  Kultur   an  dieser  einsamen  Küste 
Asiens  ein  interessantes  und  angenehmes  Bild  darbot. 

Und  nun  die  Umgebung!  Auf  der  einen  Seite,  landeinwärts, 
ein  langsam  aufsteigender  Hang,  Gestrüppe  von  Myrthen  und 
Kirschlorbeer,  mit  Felsblöcken  durchsäet,  hier  und  da  eine  Gruppe 
von  Ölbäumen,  aber  nirgends  ein  Dorf  oder  eine  feste  mensch- 
liche Wohnung.  Die  ganze  Küste  ist  hier  weithin  menschenleer. 
Den  Hang  zum  Meere  hinab  bedeckt  ein  Weingarten  mit  saftig- 
grünen Reben  voller  Trauben,  daneben  senkt  sich  eine  Schlucht 
zum  Meere,  das  hier  eine  kleine  Bucht  bildet,  in  der  unser 
Dampfer  unser  harrt.  Zu  unsern  Füßen  der  Golf,  den  hier  zwei 
Vorgebirge  noch  mehr  zum  Binnensee  machen.  Das  eine,  Kaba 
Bumu,  fällt  von  Norden  als  steiler  Felsen  ins  Meer,  das  andere, 
eine  schmale  Landzunge,  die  sich  von  Süden  als  ein  grüner 
Streifen  weit  in  die  blauen  Wogen  hineinstreckt  und  auf  der 
äußersten    Spitze    ein    weiß    schimmerndes   Leuchthaus    trägt,    Dii 


—     41      — 

Bumu,  der  Schuttkegel  des  Yalak  Dere,  der,  aus  einem  Engtale 
hervorbrechend,  einen  dreieckigen  sumpfigen  Halbinselvorsprung 
so  weit  vorgeschoben  hat,  daß  sich  der  Golf  hier  auf  2y,  km 
verengt.  Unabsehbar  zieht  sich  der  Golf  nach  Osten,  am  Hori- 
zont sich  blau  in  blau  mit  dem  Himmel  vermischend.  Im  Süden 
und  Südosten  aber  erheben  sich  mächtige  Berge,  die  westlichsten 
Ausläufer  der  westpontischen  Ketten,  die,  vom  Sakaria  (dem 
Sangarius  der  Alten)  durchbrochen,  sich  am  Boz  Burnu,  dem 
alten  Posidium,  ins  Marmarameer  stürzen,  an  ihrem  Nordhange 
vom  Golf  von  Ismid  und  dem  Marmarameere,  am  Südhange  vom 
Isnik  Göl  (See  von  Askania)  und  dem  Busen  von  INIudania  (von 
Kius)  bespült.  Es  ist  der  Samanly  Dagh  und  der  Göl  Dagh 
(Arpanthanius)  nach  ungefährer  Schätzung  mindestens  3 — 4000 
Fuß  hoch,  hinter  denen  sich  jenseits  des  von  den  Quellen  durch- 
rieselten paradiesischen  Tales  von  Brussa  der  schneeige  breite 
Rücken  des  Olymp  erhebt,  eine  Landschaft,  die  sich  mit  solchem 
Hintergrunde,  mit  ihren  Wellenlinien,  ihren  Tälern  und  Wäldern, 
ihren  stürzenden  Bächen  im  Inneren,  ihren  schönsten  Farben- 
mischungen mit  mancher  unserer  Alpenansichten  und  Landschaften 
messen  kann. 

In  der  Tat,  schon  dieser  eine  Punkt  würde  die  Reise  von 
Konstantinopel  hierher  lohnen,  aber  die  ganze  Gegend  ist  dem 
entsprechend,  und  die  Fahrt  nach  Ismid  wird,  sobald  die  Eisen- 
bahnlinie beendet  ist,  durch  ihre  Naturschönheiten  reichlichen 
Genuß  bieten.  Auf  der  ersten  Strecke  bietet  sie  den  Blick  auf 
die  Prinzeninseln,  das  Marmarameer  und  seine  südlichen  Gestade, 
auf  der  andern  über  den  Golf  und  die  blauen  Gebirge. 

Schon  sind  umfassende  Vorarbeiten  durch  unsern  verdienst- 
vollen Landsmann  Pressel,  jetzt  im  Dienste  der  türkischen  Regie- 
rung, und  seine  geschickten  Ingenieure,  zum  Weiterbau  der  Bahn 
bis  Angora  gemacht,  wunderbar  ausgeführte  Pläne  der  haupt- 
sächlichsten Städte  im  Iimem  Kleinasiens  sind  fertig  und  werden 
bei  ihrer  künftigen  Veröffentlichung  von  der  deutschen  Wissen- 
schaft mit  Freuden  begrüßt  werden.  Nicht  lange  mehr  wird  es 
dauern,  bis  der  Schienenweg  den  eilenden  Reisenden  von  den 
Ufern  des  Bosporus  in  das  Herz  der  Halbinsel  führt,  und  ein 
neues  Glied  der  eisernen  Kette  angefügt  ist,  die  Europa  mit 
Indien  verbinden,  verwahrloste  Länder  der  Kultur  zurückgeben 
Avird.     Dann    wird    der    Okzidentale,    nachdem   er    den   Bosporus 


—     42      — 

bei  Skutari  auf  einer  Brücke  überschritten,  die  dauernder  sein 
wird  als  die  des  Dareios  bei  Rumeli  Hissar,  am  Golfe  von  Ismid 
mit  Staunen  seinen  Einzug  halten  in  das  Märchen-  und  Wunder- 
land  Asien. 

Therapia  am  Bosporus,  im  Juli    1872. 


4.  Die  geographische  und  ethnographische  Unterlage 
der  orientalischen  Frage.') 

Als  Oskar  Peschel,  den  wir  nach  A.  von  Humboldt  und 
K.  Ritter  als  den  Neubegründer  der  geographischen  Wissenschaft 
in  Deutschland  verehren,  im  Frühjahr  1871  seine  Vorlesungen 
über  europäische  Staatenkunde  auf  dem  neu  begründeten  Lehr- 
stuhle für  Geographie,  dem  ersten  in  Deutschland,  an  der  Uni- 
versität Leipzig  eröffnete,  stellte  er  als  letztes  Ziel  derselben  hin: 
das  Verständnis  der  Zeitgeschichte,  Er  sprach  die  Hoffnung  aus, 
daß  seine  Zuhörer,  namentlich  etwaige  zukünftige  Staatsmänner 
oder  Volksvertreter  unter  ihnen,  alle  aber  als  Wähler  und  Zei- 
tungsleser der  Zeitgeschichte  besseres  Verständnis  entgegenbringen 
und  beispielsweise  die  orientalische  Frage  mit  ganz  anderen 
Augen  ansehen  würden  als  vorher,  so  daß  sie,  wenn  sie  den 
Beruf  dazu  fühlten,  als  Publizisten  —  Peschel  war  selbst  jahr- 
zehntelang ein  hervorragender  und  einflußreicher  Publizist  ge- 
wesen —  ein  ernstes  Wort  mitsprechen  könnten.  Peschel  war 
also  der  Meinung,  daß  für  einen  Staatsmann,  für  einen  Volks- 
vertreter, für  einen  Zeitungsschreiber,  ja  für  jeden  gebildeten 
Zeitungsleser  eine  gründlichere  geographische  Vorbildung  nötig 
sei.  Heute,  nach  zwanzig  Jahren,  ist  dies  Wort  noch  weit  zu- 
treffender, denn  die  Welt  ist  seitdem  noch  viel  kleiner  geworden, 
die  Wege  des  Weltverkehrs  kürzer,  seine  Mittel  wirkungsvoller; 
unterseeische  Kabel  verbinden  uns  heute  nicht  nur  mit  den  ver- 
schiedenen Teilen  der  Neuen  Welt,  der  Ostrand  der  Alten,  die 
Südspitze  Afrikas,  das  antipodische  Neu-Seeland  sind  uns  auf 
Stunden  nahe  gerückt;  die  innersten  Geheimnisse  der  gewaltigsten 
Festlandsmassen  von  Asien  und  Afrika  sind  uns  erschlossen;  ja 
der  bis  vor  kurzem  dunkle  Erdteil  spielt  in  der  europäischen 
Politik    eine   große,    geradezu    gefährliche   Rolle!      Er    beschäftigt 

l)  Erschienen  in  der  Deutschen  Rundschau  Oktober   1891 


—     43      — 

seit   jähren  die  Staatsmänner  fast  ganz  Europas  und  hat  die  ein- 
sichtsvollsten, vaterlandsliebendsten  Kreise  einzelner  Länder  schon 
wiederholt   in   die   höchste   Erregung   versetzt.     Nicht   nur    fließen 
heute   Nachrichten    der    verschiedensten    Art    und    von    den    ent- 
legendsten  Erdgegenden,  oft  von  entscheidender  Wichtigkeit,  täg- 
lich dem  gebildeten  Zeitungsleser  zu  und  bleiben  bei  ungenügen- 
den    geographischen     Kenntnissen     gänzlich     ohne     Verständnis, 
nein,    auf  jeden    einzelnen  von  uns  üben   jene  Länder  mit  ihren 
Stoffen    und  Kräften,   häufig    ohne    daß  wir   es  merken,  bei  dem 
riesig    entwickelten    Weltverkehr    ihren    Einfluß    aus;    die    Völker 
schaffen    sich    heute    in    Gegenden,    die   vor    kurzem   kaum    dem 
Namen  nach  bekannt  waren,  neue  Machtmittel,  die  bei  der  Ent- 
scheidung europäischer  Fragen  in  die  Wagschale  geworfen  werden. 
Täglich  tritt  daher  an  uns  die  Mahnung  heran,   unsere  Kenntnis 
der  Erde  und  ihrer  Völker  zu  erweitem  und  zu  vertiefen!    Aber 
nicht    bloß    etwa    die    Kenntnis    fremder    Erdteile,    wie    dies   vor 
Icurzem  noch  mit  Vorliebe  geschah.     Beim  Zunächstliegenden,  bei 
der  Heimat,  beim  eigenen  Vaterlande  muß  man  beginnen;  denn 
der  Staat  stellt  heute  Anforderungen  an  die  Person  und  das  Gut 
jedes  Staatsbürgers,  denen  zu  entsprechen  es  einer  großen,  nicht 
nur  im  Herzen,  sondern  auch    im  Verstände  begründeten   Vater- 
landsliebe   bedarf.     Und    ohne    Kenntnis    des    \'aterlandes,    nicht 
nur    seiner   Geschichte,    sondern    seiner    ganzen    Landesnatur    ist 
eine  tiefer  begründete  Vaterlandsliebe    nicht    denkbar.     Um  aber 
die  Geschichte  unseres  Vaterlandes  zu  verstehen,  bedarf  es  auch 
einer   Kenntnis    seiner   Weltstellung,    seiner   Beziehungen    zu    fast 
allen   Ländern   und  Völkern   Europas,    denn   fast   alle    haben  wir 
zu  unmittelbaren  Grenznachbam.     Genau  aus  denselben  Gesichts- 
punkten,   aus    denen    mit   Recht    bei    den   Beratungen    über    die 
Verbesserung  des  preußischen  Unterrichtswesens  größeres  Gewicht 
auf  die  Pflege  unserer  Sprache  und  der  Geschichte  unseres  Vater- 
landes   gelegt  worden   ist,   müßte    dies    auch   mit  der  Geographie 
der  Fall  sein.    Leider  scheint  diese  Überzeugung  aber  bis  heute 
noch  nicht  durchgedrungen  zu  sein. 

Wie  vor  zwanzig  Jahren  ist  auch  heute  noch  die  von  Peschel 
als  Beispiel  angeführte  orientalische  Frage  die  brennendste  Frage 
der  europäischen  Politik.  Die  seitdem  ganz  außerordentlich  fort- 
geschrittene Kenntnis  der  südosteuropäischen  Halbinsel,  die  darum 
als   wichtigster    Gegenstand    der  Verhandlungen    auf  der   neunten 


—     44     — 

Tagung  der  deutschen  Geographen  zu  Wien  in  der  Osterwoche 
1891  angesetzt  worden  war,  hat  auch  unser  Verständnis  der 
orientalischen  Frage  wesentlich  vertieft,  und  wir  wollen  daher  ver- 
suchen auf  Grund  jener  auch  unseren  Lesern  dieses  näher  zu 
rücken. 

Man  versteht  gewöhnlich,  um  es  kurz  zu  sagen,  unter  der 
orientalischen  Frage  die  Gestaltung  der  Geschicke  der  südost- 
europäischen und  der  kleinasiatischen  Halbinsel  und  ihrer  Be- 
wohner, namentlich  des  türkischen  Staats  und  Volks.  Vor  allem 
gibt  es  eine  orientalische  Frage  nicht  erst  seit  hundert  Jahren, 
fast  jede  Periode  der  Geschichte  hat  eine  solche  gehabt.  Die 
Eroberung  Konstantinopels  durch  die  Türken,  die  unter  den  Er- 
eignissen aufgezählt  wird,  von  welchen  an  man  den  Beginn  der 
neuen  Zeit  datiert,  was  ist  sie  anders,  als  die  nach  Jahrhunderte 
langen  Kämpfen  für  ein  halbes  Jahrtausend  gelöste  orientalische 
Frage?  Der  Umstand,  daß  dieselben  Gegenden  immer  erneut 
den  Hauptbrennpunkt  der  europäischen  Politik  bilden,  muß  sofort 
die  Vermutung  wachrufen,  daß  bei  dieser  Erscheinung  geographische 
Gesetze  mitspielen,  die  der  Mensch  wohl  zeitweilig  außer  Kraft 
setzen,  aber  niemals  ganz  aufheben  kann.  In  der  Tat  herrschen 
in  jener  Erdgegend  geographische  und,  durch  sie  bedingt,  ethno- 
graphische Verhältnisse,  welche  dieselbe  naturnotwendig  immer 
wieder  zu  einem  Herde  bald  nur  die  Umgebung,  bald  weitere 
Kreise  in  Mitleidenschaft  ziehender  Beunruhigung  machen  müssen. 

Die  südosteuropäische,  oder  wie  man  sie  meist  noch  immer, 
einen  seit  einem  halben  Jahrhundert  widerlegten  Irrtum  verewigend, 
nennt:  die  Balkanhalbinsel  steht  zu  Kleinasien  in  den  engsten 
geographischen,  geschichtlichen  und  politischen  Beziehungen.  Keine 
der  beiden  Halbinseln  besitzt  für  sich  eine  zentrale,  beherrschende 
Landschaft,  einen  Punkt,  an  welchem  sich  die  natürliche  Haupt- 
stadt, geographisch  begünstigt,  entwickeln  könnte;  beiden  ist  Kon- 
stantinopel die  gemeinsame  natürliche  Hauptstadt,  neben  welcher 
nur  noch  Mittelpunkte  kleiner  Sonderlandschaften  in  Betracht 
kommen;  keine  der  beiden  vermag  für  sich  allein  eine  politische 
Einheit  zu  bilden  und  hat  jemals  in  der  Geschichte  eine  solche 
gebildet.  Nur  als  Glied  des  großen  Weltreichs  der  Römer  ist 
die  europäische  Südosthalbinsel  politisch  geeint  gewesen  und  sonst 
nie  mehr.  Der  Grund  dazu  ist  in  geographischen  Verhältnissen 
zu  suchen.    Sie  besteht,  die  Grundzüge  ihrer  beiden  südeuropäischen 


—      45      — 

Schwesterhalbinseln  in  sich  vereinigend,  aus  zwei  nach  Entstehung, 
innerem  Bau,  Oberflächengestaltung  und  Beziehungen  zu  den  Be- 
wohnern grundverschiedenen  Teilen:  dem  illyrisch-griechischen 
Faltenland  im  Westen,  dem  rumelischen  Schollenland  im  Osten. 
Die  kleinere  schmale  Westhälfte,  Griechenland,  Albanien,  Monte- 
negro, Herzegowina,  Bosnien  und  Dalmatien,  besteht  aus  lauter 
langgestreckten,  schmalen,  einander  parallelen  Bergzügen,  welche 
in  südöstlicher  und  südsüdöstlicher  Richtung  streichen  und  noch 
in  den  drei  Spitzen  der  Peloponnes  zu  erkennen  sind.  Dieselben 
sind  dadurch  entstanden,  daß  durch  seitlichen  Druck  die  ober- 
sten, vorwiegend  aus  Kalksteinen  der  Kreide-  und  der  älteren 
Tertiärformation  bestehenden  Schichten  der  festen  Erdkruste  zu- 
sammengeschoben, zusammen-  oder  eraporgefaltet  wurden.  Dies 
ganze  Gebiet  trägt  überall  mehr  oder  weniger  den  Charakter 
eines  Karstlandes;  arm  an  Wasser  und  Ackererde,  felsig,  rauh, 
schwer  zugänglich,  bildet  es  einen  breiten  Wall,  welcher  die  Adria 
vom  Innern  und  Osten  der  Halbinsel  scheidet.  Montenegro,  das 
sog.  Sandschak  Novipazar,  ein  Teil  von  Bosnien  und  der  Herze- 
gowina bilden  dort  ein  im  Mittel  etwa  looo  m  hohes  rauhes, 
von  tiefen  Flußtälern  zerschnittenes  Karsthochland  von  etwa 
30000  qkm  Flächeninhalt,  das  ausgedehnteste  Hochland  von 
dieser  Höhe  in  Europa.  Wenig  anlockend,  verschlossen  nach 
außen,  wenig  wegsam  im  Innern,  arm  an  Hilfsquellen  und  Be- 
wohnern, reich  an  kleinen  Sonderlandschaften  und  natürlichen 
festen  Zufluchtsstätten  bildet  das  ganze  illjTisch-griechische  Falten- 
land bis  nach  Atollen  und  Arkadien  südwärts  ein  Gebiet  des 
Verharrens,  ein  Gebiet  geringer  Veränderlichkeit  der  Zustände, 
wo  sich  besiegte  Völker,  wie  die  Serben  in  Montenegro,  die 
Albanesen  und  Zinzaren  zu  behaupten  und  ihre  nationale  Eigen- 
art in  die  Gegenwart  hinein  zu  retten  vermochten.  Nur  dem 
Schutz  ihrer  unwirtlichen  Berge  verdanken  es  die  bis  heute  kultur- 
losen Albanesen,  die  Nachkommen  der  alten  Illyrier  und  wohl 
neben  Basken  und  Kelten  das  älteste  Volk  Europas,  daß  sie  in 
römischer  Zeit  nicht  romanisiert,  im  Mittelalter  nicht  slawisiert, 
seitdem  nicht  turkisiert  wurden.  Urväterliche  Sitten  und  Ein- 
richtungen haben  sich  bei  ihnen  erhalten;  wie  vor  dreitausend 
Jahren  befahren  sie  noch  heute  ihren  nationalen  Fluß,  den  Drin,  auf 
aufgeblasenen  Ziegenhäuten ;  noch  heute  besitzen  sie  keine  nationale 
Schrift.      Albanien  ist  heute  das  unbekannteste  Land  Europas. 


-     46     - 

Diesem  illyrisch-griechischen  Faltenlande  steht  die  größere 
Osthälfte  der  Halbinsel  mit  ganz  anderen  Verhältnissen  gegen- 
über, Sie  bildet,  der  iberischen  Halbinsel  vergleichbar,  mit  vor- 
wiegend westöstlicher  Erstreckung  zwischen  der  Donau  und  dem 
Archipel  den  ältesten  Teil  der  Halbinsel,  eine  alte  Urgebirgs- 
scholle,  deren  Oberfläche  in  späteren  geologischen  Zeiten  durch 
Bildung  zahlreicher  Bruchlinien,  welche  die  ganze  Scholle  zer- 
stückten, reicher  ausgestaltet  worden  ist.  Faltung  spielt  hier  eine 
ganz  untergeordnete  Rolle.  Durch  solche  Bruchlinien  und  auf 
denselben  erfolgende  Vertikalverschiebungen  der  einzelnen  Schollen- 
trümmer bildeten  sich  die  Gebirge  dieses  Teiles  der  Halbinsel, 
die  Rhodope,  ein  um  looo  m  über  die  Umgebung  aufragendes 
Urgebirgsmassiv ,  die  Gebirge  Makedoniens  und  Serbiens.  Nur 
im  Balkan  tritt  uns  ein  wenn  auch  600  km  langer,  so  doch  nur 
30  km  breiter  gefalteter  Landgürtel  entgegen,  dessen  Faltenzüge 
aber  auch  nach  Norden  in  die  ungefaltete  bulgarische  Kreidetafel 
übergehen.  Wie  in  Bulgarien,  so  sind  auch  in  Thrakien  und 
anderwärts  Teile  der  Scholle  später  wieder  vom  Meer  und  den 
sich  in  demselben  ablagernden  Sedimenten  bedeckt  worden,  wäh- 
rend auf  den  Bruchlinien  lange  Zeit  eine  große  vulkanische 
Tätigkeit,  von  welcher  noch  heute  zahlreiche  heiße  Quellen 
zeugen,  Trachytgesteine,  bald  in  großen  Decken,  bald  in  Kegeln, 
an  zahlreichen  Punkten  und  in  großer  Ausdehnung  zutage 
förderte. 

Ganz  anders  geartet  ist  also  die  geologische  Geschichte 
dieses  Teiles  der  Halbinsel,  ganz  anders  daher  sein  innerer  Bau, 
ganz  anders  demnach  sind  auch  seine  Oberflächenformen,  seine 
Bodenarten  und  Wasseradern,  demnach  auch  die  Beziehungen 
des  Landes  zum  Menschen,  seine  Geschichte.  Das  rumelische 
Schollenland  ist  aufgebaut  aus  einer  überaus  großen  Mannigfaltig- 
keit der  Formationen  und  Felsarten,  von  den  ältesten  eruptiven 
und  sedimentären  bis  zu  den  jüngsten;  es  wird  daher  gekenn- 
zeichnet durch  eine  große  Mannigfaltigkeit  der  Bodenarten  unter 
Vorkommen  fruchtbarster  junger  vulkanischer  und  jüngster  Schwemm- 
gebilde. Auch  an  inneren  Schätzen  ist  es  reich;  im  Mittelalter 
gehörte  es  zu  den  reichsten  Bergbaugebieten  Europas  und  hat 
vielleicht  als  solches  noch  eine  große  Zukunft.  Vorwiegend  ge- 
birgig, aber  mit  Gebirgen  von  mäßiger  Höhe,  ist  es  doch,  im 
wesentlichen,    weil    Faltung     hier    nur     als    Nebenerscheinung    in 


—     47     — 

Betracht  kommt,  überall  wegsam,  reich  an  offenen  Landschaften, 
fast  überall  bewohnbar,  ja  dichter  Besiedlung  fähig.  Die  Auf- 
geschlossenheit nach  allen  Seiten,  die  Leichtigkeit  des  Verkehrs, 
die  ^Möglichkeit  der  Verdichtung  der  Bevölkerung  und  der  Bil- 
dung von  Großstädten,  raschere  und  höhere  Kulturentwicklung, 
größere  geschichtliche  Bedeutung  kennzeichnen  das  ruraelische 
Schollenland  gegenüber  dem  illyrisch-griechischen  Faltenlande. 
Dasselbe  ist  ein  Gebiet  der  Bewegung,  der  Veränderlichkeit  der 
Zustände,  ja  selbst  der  ethnographischen  Verhältnisse  wie  kein 
anderes  Gebiet  Europas.  Dort  im  Westen  verharrt  alles  in  Ruhe, 
hier  ist  alles  in  beständigem  Fluß  und  Bewegung;  dort  findet 
sich  —  selbst  vom  Westen  des  durch  spätere  Bewegungen  der 
festen  Erdkruste  zertrümmerten,  reicher  ausgestalteten  und  da- 
durch individualisierten  Griechenland  gilt  dies  —  keine  geschicht- 
lich wichtigere,  keine  Großstadt;  von  dort  ist  keine  die  Mensch-^ 
heit  beeinflussende  Leistung  ausgegangen;  hier  dagegen  ent- 
wickelten sich  in  Vergangenheit  und  Gegenwart,  noch  mehr 
gewiß  in  einer  überaus  verheißungsvollen  Zukunft,  mehrere  Punkte 
zu  Brennpunkten  geschichtlichen  Interesses  und  der  Gesittung: 
Belgrad,  Nisch,  Salonichi,  Philippopel,  Adrianopel,  Konstantinopel. 
Alle  großen  geschichtlichen  Ereignisse  der  Halbinsel  vollziehen 
sich  auf  dem  Boden  des  rumelischen  Schollenlandes. 

Der  wichtigste  geographische  Faktor  jenes  Landes  ist  seine 
Oberflächengestaltung.  Diese  wird  hier  gekennzeichnet  durch  das 
Auftreten  einer  großen  Zahl  von  Kesseltälern,  tiefen  mit  jüngerem 
Schwemmland  gefüllten,  meist  elliptischen  Becken,  die  von  hohen 
Bergen  umwallt  diesem  Teile  der  Halbinsel  ein  schachbrettartiges 
Ansehen  geben.  Diese  Kesseltäler  sind  wohl  meist  als  auf  jenen 
Bruchlinien  entstandene,  nur  in  einzelnen  Fällen  als  auf  Aus- 
laugung zurückzuführende  Einsturzkessel  aufzufassen;  viele  von 
ihnen  besitzen  noch  heiße  Mineralquellen,  künftige  Badeörter. 
Die  meisten  waren  lange  Zeit  von  Seen  gefüllt,  die  aber  heute 
bis  auf  wenige  in  Makedonien  von  den  Flüssen  entwässert  sind, 
die  sich  in  engen,  meist  ungangbaren  Schluchten,  wie  der  Isker 
aus  dem  Becken  von  Sofia  durch  den  Balkan,  einen  Ausweg  ge- 
bahnt haben.  Doch  sind  manche  noch  sumpfig,  und  in  einigen 
stauen  sich  in  regenreichen  Zeiten  die  Gewässer  vor  den  engen 
Ausflußschluchten  zu  Seen  an.  Bei  ihrer  großen  Zahl  kann  keines 
von  hervorragender  Größe  sein;   schwer  über  Gebirge  miteinander 


-     48     - 

verkehrend,  kann  auch  keines  die  Rolle  einer  zentralen  beherr- 
schenden Landschaft  spielen.  Eine  solche  fehlt  also  der  Halb- 
insel und  damit  auch  eine  Grundbedingung  einer  großen  politischen 
Einheit.  Es  fördern  diese  Kesseltäler,  indem  sie  der  Entwicklung 
zahlreicher  Punkte  als  Mittelpunkte  kleiner  Sonderlandschaften 
günstig  sind,  vielmehr  die  politische  Zersplitterung.  Das  Kessel- 
tal von  Sofia  z.  B.,  der  jetzt  so  viel  genannten,  rasch  aufblühen- 
den Hauptstadt  Bulgariens,  eines  der  größeren  und  begünstigteren, 
hat  bei  der  immerhin  beträchtlichen  und  ein  im  Winter  recht 
rauhes  Klima  hervorrufenden  Meereshöhe  von  550  m  eine  Größe 
von  nur  290  qkm,  so  viel  wie  das  Gebiet  von  Lübeck!  Dabei 
unterhält  dasselbe  leichteren  Verkehr,  aber  auch  da  noch  über 
Pässe  von  726  bzw.  745  m  Höhe,  nur  nach  Nordwest,  gegen 
Serbien  und  die  Donau,  und  nach  Südost,  gegen  Thrakien,  den 
Archipel  und  den  Bosporus.  Durch  jene  Bruchlinien  und  Kessel- 
täler sind  nun  aber  auch  die  Flüsse  in  ihrer  Entwicklung  und 
Laufrichtung  beeinflußt,  und  ihnen  müssen  naturnotwendig  in 
einem  Gebirgslande,  als  welches  die  Halbinsel  in  ihrer  Gesamt- 
heit erscheint,  auch  die  Verkehrswege  folgen.  In  dieser  Hinsicht 
ist  von  entscheidender  Wichtigkeit  das  Vorhandensein  von  zwei 
die  ganze  Halbinsel,  aber  innerhalb  des  rumelischen  Schollen- 
landes, durchsetzenden  Furchen,  die  eine  in  meridionaler,  die 
andere  in  diagonaler  Richtung.  Der  großen  Meridionalfurche 
folgen  die  Morawa  zur  Donau,  der  Vardar  zum  Archipel,  in  der 
Diagonalfurche  entwickelt  sich  der  größte  selbständige  Fluß  der 
Halbinsel,  die  Maritza,  die  an  Lauflänge  unserm  Main  entspricht. 
Beide  Furchen  vereinigen  sich  im  Becken  von  Nisch,  das  daher 
eines  der  wichtigsten  Knotenpunkte  des  Verkehrs  und  eines  der 
Hauptschlachtfelder  der  Halbinsel  ist.  Die  Meridionalfurche,  in 
welcher  man  in  der  Talwasserscheide  von  Preschowo,  ohne  es 
zu  merken,  in  nur  500  m  Meereshöhe  aus  dem  Gebiet  der 
Donau  in  das  des  Archipels  gelangt,  folgt  heute  schon  die  wich- 
tige Eisenbahnlinie  Belgrad-Saloniki,  die  sich  in  Dampferlinien 
nach  Kleinasien,  Syrien,  Ägypten  und  durch  den  Suezkanal  nach 
Süd-  und  Südostasien  wie  nach  Ostafrika  fortsetzt,  heute  schon 
die  kürzeste  Linie  von  Mitteleuropa  nach  jenen  Ländern,  die  zu 
ihrer  vollen  Entwicklung  nur  noch  größere  Schnelligkeit  der  Eisen- 
bahnzüge und  Hafenbauten  in  Saloniki  erfordert.  Sie  wird  da- 
nach   in    kurzem    eine    der   wichtigsten   Verkehrslinien    der   Erde 


—     49     — 

werden,  namentlich  für  unser  Vaterland.  Der  Diagonalfurche 
folgt  die  Eisenbahn  Belgrad-Konstantinopel,  die  in  weiterer  Zu- 
kunft, wenn  sie  durch  Kleinasien  fortgesetzt  sein  wird  —  deutscher 
Unternehmungsgeist  und  deutsches  Geld  schaffen  bekanntlich  eben 
diese  Fortsetzung  —  der  kürzeste  Weg  nach  Indien  sein  wird. 
Beide  Linien  setzen  sich  längs  der  Donau  über  Pest  und  Wien 
bis  in  das  Herz  von  Mitteleuropa  fort,  und  die  südosteuropäische 
Halbinsel  erscheint  so  mit  Kleinasien  als  eine  große  Landbrücke, 
welche  die  Festlandsmassen  von  Europa  und  Asien  mit  ihren 
dicht  gedrängten  Volksmassen  verbindet.  Nur  durch  den  Salz- 
wasserstrom des  Bosporus,  der  an  seiner  engsten  Stelle  wenig 
breiter  ist  als  der  Rhein  bei  Mainz,  voneinander  getrennt,  bilden 
die  beiden  Halbinseln  Hälften  eines  Ganzen;  beide,  und  in  höhe- 
rem Maße  die  europäische  Südosthalbinsel,  tragen  so  den  Cha- 
rakter von  Durchgangsbrücken  des  Weltverkehrs,  d.  h.  von  Län- 
dern, auf  welche  Einfluß  auszuüben,  alle  Kulturvölker  bemüht 
sein  müssen.  Damit  ist  eine  der  geographischen  Grundlagen  der 
orientalischen  Frage  gegeben,  welche  sofort  erkennen  läßt,  daß 
auch  das  Deutsche  Reich,  trotz  eines  gegenteiligen  Ausspruches 
unsers  großen  Staatsmannes,  in  hohem  Grade  von  der  Lösung 
derselben  berührt  wird. 

Die  Wichtigkeit  jener  beiden  Verkehrswege  prägt  sich  auch 
darin  aus,  daß  alle  eben  genannten  Großstädte  der  Halbinsel  an 
derselben  hegen.  Außer  jenen  beiden  bildet  aber  an  der  Nord- 
grenze entlang  die  Donau  eine  dritte  große  Verkehrslinie,  die 
von  dem  hohen  bulgarischen  Ufer  völlig  beherrscht  wird,  ja  in 
der  abkürzenden  Eisenbahnlinie  Rustschuk-Varna  die  Halbinsel 
selbst  schneidet.  Eine  vierte  internationale  Verkehrslinie  lief  im 
Altertum,  zum  Teil  auch  noch  im  Mittelalter,  als  Via  Egnatia 
der  Donaulinie  am  Südrande  der  Halbinsel  parallel  von  Kon- 
stantinopel über  Saloniki  nach  Durazzo  und  von  da  über  die 
Adria  nach  Italien.  Heute  verödet,  wird  auch  diese  Linie  in 
nicht  femer  Zukunft  wieder  große  Bedeutung  erlangen;  dieselbe 
deutsche  Gesellschaft,  welche  die  kleinasiatischen  Bahnen  baut, 
hat  auch  bereits  den  Bau  der  Linie  Saloniki-Monastir  in  Angriff 
genommen,  d.  h.  die  Umwandlung  des  auch  für  den  örtlichen 
Verkehr  wichtigsten  Stückes  der  Via  Egnatia  in  einen  Verkehrs- 
weg der  Neuzeit.  Schließlich  ist  darauf  hinzuweisen,  daß  die 
große  Verkehrslinie   von  Triest    und  Venedig   nach   Ägypten   und 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  4 


—     50     — 

weiter  unter  der  hohen  Westseite  der  Halbinsel  hinläuft,  wie  die 
Linie  Odessa-Konstantinopel  an  der  Ostseite.  Vor  allem  aber: 
diese  zuletzt  genannte  Linie,  die  Linie  Belgrad-Konstantinopel, 
die  alte  Via  Egnatia,  die  Donaustraße  mit  der  Seitenstraße  Rust- 
schuk-Varna,  ja  alle  Verkehrswege  des  Schwarzen  und  Kaspischen 
Meeres  von  Südrußland  bis  nach  Turkestan  und  Nordpersien  am 
Nordrande  Kleinasiens  entlang,  alle  Wege  nach  und  durch  Klein- 
asien nach  Persien,  Mesopotamien,  Syrien,  Indien  und  Arabien 
verknoten  sich  radienförmig  zusammenlaufend  in  dem  einen  Kon- 
stantinopel, das  für  sich  allein  manches  Königreich  aufwiegt.  Seit 
griechischer  Zeit  ist  Konstantinopel  durch  alle  geschichtlichen 
Wechselfälle  hindurch  eine  der  größten  Welthandelsstädte  ge- 
wesen und  wird  es  in  Zukunft  in  höherem  Maße  als  jemals  wer- 
den. Die  ungeheure  Lebenskraft  dieses  Punktes  prägt  sich  am 
besten  darin  aus,  daß  der  tiefe  Verfall  des  byzantinischen  und  in 
der  Gegenwart  des  türkischen  Reiches,  die  Volkszahl,  die  Han- 
delstätigkeit, die  ganze  Bedeutung  von  Konstantinopel  nicht  zu 
beeinflussen  vermocht  hat.  Als  die  Tatkraft  der  Byzantiner  zu 
erlahmen  begann,  traten  an  ihre  Stelle  in  ihrer  Hauptstadt  selbst, 
fast  als  Herren  des  Staates,  die  Italiener.  Byzanz  gegenüber 
blühte  die  italienische  Schiffslände  Galata  empor,  deren  gewaltige 
Mauern  und  Türme  es  noch  heute  als  eine  Stadt  in  der  Stadt 
erkennen  lassen.  Genau  so  ist  mit  dem  Verfall  der  Türkenmacht 
in  unserm  Jahrhundert,  aber  namentlich  seit  dem  Krimkriege, 
Stambul  gegenüber  das  europäische  Pera  über  dem  mittelalter- 
Galata  emporgewachsen.  Aller  Handel  und  Verkehr,  alle  Geld- 
mittel liegen  in  den  Händen  der  1 30  000  dort,  und  heute  schon 
über  Pera  hinaus,  angesiedelten  Angehörigen  fast  aller  Nationen 
Europas,  die  gleich  den  Genuesen  des  Mittelalters  auf  ihre  Vor- 
rechte und  ihre  politischen  Vertreter  gestützt,  einen  Staat  im 
Staate  bilden. 

In  herrlicher  Umgebung,  an  einem  Salzwasserstrome  gelegen, 
der,  zwei  Meere  und  ihre  Gestadeländer  verbindend,  unserm 
Rheine  vielfach,  auch  an  landschaftlichen  Reizen  ähnlich  ist,  im 
buchtenreichen  Bosporus  und  im  Goldenen  Hörn  im  Besitz  eines 
Hafens,  welcher  alle  Flotten  der  Welt  aufzunehmen  vermöchte, 
ist  die  Lage  dieser  Stadt  auf  der  Grenze  zweier  Erdteile  geradezu 
einzig.  Dazu  kommt  noch  die  natürliche  Festigkeit  dieses  Punk- 
tes, der  mitten  zwischen  Meer-  und  Landengen  gelegen  ist.    Die 


_     51      — 

Engen  des  Bosporus  im  Norden,  der  Dardanellen  im  Süden  sind 
leicht  zu  sperren;  im  Osten,  von  wo  bisher  die  Gefahr  seltener 
gedroht  hat,  gilt  das  gleiche  von  dem  Eingange  in  die  bithy- 
nische  Halbinsel  bei  Ismid;  noch  größer  ist  die  natürliche  Festig- 
keit im  häufiger  und  heftiger  bedrohten  Westen  auf  der  Wurzel 
der  thrakischen  Halbinsel,  die  sich  dort  zwischen  den  von  Nor- 
den und  von  Süden  eingreifenden  Strand-  (Liman-)  Seen  von  Ter- 
kos  und  Groß-Tschekmedsche  auf  25  km  verengt.  Dort  liegt  die 
Wasserscheide  nahe  dem  Schwarzen  Meere,  und  von  derselben 
rinnt  in  tief  eingeschnittenem,  steilwandigem  Tale  trägen  Laufes 
mit  versumpften  Ufern  ein  danach  benanntes  Schwarzwasser  (Ka- 
rasu)  zu  dem  letztgenannten  See,  mit  diesem  eine  natürliche  Ver- 
teidigungsstellung schaffend,  die  unser  Landsmann  Blum  Pascha 
1877  durch  eine  Reihe  1879  noch  verstärkter  Vesten  fast  un-» 
bezwinglich  gemacht  hat.  So  fast  unnahbar,  hat  Konstantinopel 
an  den  Gestaden  des  Marmarameeres  ein  ausgedehntes,  an  Hilfs- 
quellen reiches  Gebiet  zur  Verfügung,  das  lange  Zeit  seine 
800000  (jetzt  1V4  Mill.)  Einwohner  zu  ernähren  vermag.  Auch 
darin  prägen  sich  die  engen  Beziehungen  beider  Schwesterhalb- 
inseln aus,  daß  ihre  gemeinsame  Hauptstadt  in  Europa  gelegen 
ist,  ihre  unmittelbaren  Lebensadern  aber  in  Kleinasien  hat;  denn 
von  Thrakien  ist  sie  durch  weite  Steppe  getrennt,  die  dort  das 
neue  Rom  menschenleer  und  öde  umschließt,  faßt  wie  die  Cam- 
pagna  das  alte.  Konstantinopel  ist  ein  überaus  wertvoller,  aber 
schwer  zu  erringender  Besitz;  es  vermag  sich  dort,  wie  die  Ge- 
schichte des  byzantinischen  Reichs  zeigt,  auch  eine  schwache 
Macht,  selbst  wenn  beide  Halbinseln  bis  an  jene  Verteidigungs- 
stellungen verloren  sind,  noch  lange  Zeit  zu  behaupten;  in  den 
Händen  einer  starken  aber  bedeutet  es  die  Herrschaft  über  beide 
Halbinseln  und  das  östliche  Mittelmeer,  über  ein  ungemein  wich- 
tiges Netz  von  Verkehrswegen  und  bildet  einen  Machtfaktor  von 
ganz  unschätzbarer  Größe. 

Der  Westen  und  Nordwesten  der  Halbinsel,  ja  fast  das 
ganze,  auch  von  innen  schwer  zugängliche  Faltenland,  sind  aller- 
dings dem  Machtbereiche  von  Konstantinopel  etwas  entrückt,  und 
nur  in  Zeiten  starker  Machtentfaltung  vermag  der  Herr  von  Kon- 
stantinopel auch  den  Westen  zu  erobern  und  zu  behaupten. 
Das  durch  die  dinarischen  Faltenzüge  vom  Innern  abgeschlossene 
Küsten-   und    Inselland  Dalmatien   haben   die  Türken  niemals  zu 

4* 


—     52     — 

erobern  vermocht,  ebensowenig  die  felsige  Gebirgsfeste  von  Monte- 
negro; auch  in  Albanien  hat  ihre  Macht  immer  auf  schwachen 
Füßen  gestanden,  obwohl  gerade  dort  die  einzigen  beiden  ver- 
hältnismäßig leicht  gangbaren  Wege  quer  durch  das  Faltenland 
an  die  Adria  führen,  die  Via  Egnatia  im  Süden  von  Makedonien 
her  durch  die  Becken  der  dessaretischen  Seen,  eine  andere  im 
Norden  vom  Amselfelde  her  durch  das  Dringebiet  nach  Skutari. 
Griechenland  schließlich,  ein  zerstücktes  Gebirgsland  mit  mari- 
timem Charakter,  ähnlich  Norwegen,  vermochten  sie  nur  zu  er- 
obern und  zu  behaupten,  solange  sie  auch  zur  See  mächtig 
waren.  Einige  Teile  Griechenlands  sind  sehr  lange,  andere 
(Ionische  Inseln)  dauernd  im  Besitze  Venedigs  geblieben,  eine  in 
der  Landesnatur  begründete  Tatsache,  die  für  die  Geschicke  des 
griechischen  Volkes  von  allergrößter  Tragweite  gewesen  ist;  denn 
dadurch  blieb  dasselbe  stets  in  Beziehungen  zur  abendländisch- 
christlichen Gesittung;  es  konnte  durch  die  türkische  Zwingherr- 
schaft nicht  so  völlig  aus  der  Reihe  der  geistig  lebenden  Völker 
gestrichen  werden,  wie  z.  B.   die  Bulgaren. 

Die  nordwestlichen  Teile  der  Halbinsel  dagegen,  Bosnien 
und  Serbien,  öffnen  und  neigen  sich  nach  dem  großen  Donau- 
becken, wie  ja  auch  namentlich  Bosnien  schon  wiederholt  von 
Ungarn  abhängig  gewesen  ist.  Wenn  sich  die  türkische  Herrschaft  in 
Bosnien  so  lange  zu  behaupten  vermochte,  so  beruhte  dies  ledig- 
lich darauf,  daß  es  dort,  wie  ähnlich  in  Albanien,  gelungen  war, 
den  einflußreichsten  Teil  der  Bevölkerung  zum  Islam  zu  bekehren. 
Beide  Länder  sind  mit  ihrem  ganzen  wirtschaftlichen  Dasein, 
wohin  immer  ihre  nationalen  und  politischen  Neigungen  auch 
gehen  mögen,  auf  den  Donaustaat  angewiesen,  wie  sich  dies  bei 
Serbien  vor  kurzem  in  dem  sogenannten  Schweinekriege  gezeigt 
hat,  in  welchem  dasselbe,  Ungarn  gegenüber,  eine  schwere  Nieder- 
lage erlitten  hat.  Gegen  Nordosten  streckt  sich  die  Halbinsel 
an  der  unteren  Donau,  die  ganz  Bulgarien  mit  Südrußland  ver- 
bindet, halbinselartig  gegen  letzteres  hin;  selbst  die  Landesnatur 
nimmt  in  der  Dobrudscha  südrussischen  Charakter  an.  Von  dort 
sind  auch  einst  die  Bulgaren  eingewandert.  Die  Beziehungen 
Bulgariens  zu  Rußland  erscheinen  als  ethnographisch  und  geo- 
graphisch beeinflußt;  nur  das  ganz  besondere  Ungeschick  russi- 
scher Diplomaten  hat  hier  geographische  Gesetze,  hoffentlich  für 
lange  Zeit,  außer  Kraft  zu  setzen  vermocht.     Einen  vierten  halb- 


—     53     — 

inselartigen  Zipfel  streckt  schließlich  die  Halbinsel  im  Südosten 
Kleinasien  entgegen,  zu  welchem  sich  auch  die  Täler  der  größten 
selbständigen  Flüsse,   Maritza  und  Vardar,   breit  öffnen. 

Fassen  wir  die  wichtigsten  geographischen  Charakterzüge 
der  Südosthalbinsel  zusammen,  so  lernten  wir  als  solche  kennen: 
die  Gegensätze  der  Oberflächengestaltung  des  Westens  und  des 
Ostens  mit  den  sich  daraus  ergebenden  Folgen,  den  Mangel 
einer  zentralen  Landschaft  und  eines  natürlichen  Mittelpunktes, 
dagegen  das  Vorhandensein  zahlreicher  abgeschlossener,  schwer 
zugänglicher  Sonderlandschaften  und  eines  geographisch  wunder- 
bar bevorzugten  Punktes,  eines  Punktes  von  erdrückender  Wichtig- 
keit, der  aber  exzentrisch  liegt  und  der  natürliche  Mittelpunkt 
eines  größeren,  mindestens  Kleinasien  mit  umfassenden  Gebietes 
ist;  schließlich  die  Vielseitigkeit  der  Beziehungen,  die  sich  aus 
dem  Charakter  als  ausgezeichnetes  Durchgangsland  des  Weltver- 
kehrs und  aus  der  wagerechten  Gliederung  ergeben. 

Diese  geographischen  Charakterzüge,  namentlich  letzterer,, 
spiegeln  sich  am  deutlichsten  in  der  großen  ethnographischen 
Mannigfaltigkeit  der  Südosthalbinsel  wider,  die,  weil  geographisch 
bedingt,  zu  allen  Zeiten  bestanden  hat  und  selbst  von  den  Rö- 
mern, diesen  Meistern  in  der  Aufsaugung  und  Anähnlichung 
noch  so  verschieden  gearteten  Volkstums,  nicht  bewältigt  werden 
konnte.  Auch  in  der  römischen  Zeit  wurden  mindestens  drei 
Sprachen  dort  gesprochen,  wahrscheinlich  mehr:  Lateinisch, 
Griechisch  und  Illyrisch.  Die  Nähe  und  leichte  Zugänglichkeit 
von  Asien  her,  der  Wiege  der  Völker,  führte  immer  neuen  Zuzug 
herbei;  die  Oberflächengestaltung,  namentlich  im  westlichen  Falten- 
lande,  bewirkte,  daß  sich  selbst  schwache  Volker,  die  Buntheit 
der  Karte  mehrend,  zu  erhalten  vermochten.  So  die  Albanesen, 
bei  denen  bis  auf  den  heutigen  Tag  das  Bewußtsein  nationaler 
Eigenart  und  Zusammengehörigkeit  kaum  zu  dämmern  beginnt; 
so  die  Griechen,  die  sich,  wenn  auch  durch  übermächtige  Feinde 
überwältigt  und  anscheinend  dem  Untergange  als  Nation  ver- 
fallen, immer  wieder  emporrangen,  wie  heute  nach  der  Türken- 
zeit, so  im  Mittelalter  nach  der  slawischen  Überflutung;  so  die 
romanisch  redenden  Wlachen,  die  sich  in  den  Gebirgen  als 
Hirten,  wenn  auch  an  Zahl  geschwächt  und  nur  verstreute 
Trümmer  des  einst  auf  der  Halbinsel  so  weit  verbreiteten  romanisch 
sprechenden  Volkstums,    doch    durch    mehr    als    ein   Jahrtausend 


—     54     — 

ihre  nationale  Eigenart  und  Sprache  zu  wahren  vermocht  haben. 
Zu  diesen  drei  ältesten  Völkern  der  Halbinsel,  von  denen  Grie- 
chen und  Wlachen  als  ethnisch  überaus  gemischte  anzusehen 
sind  und  nur  durch  die  Sprache  als  Nation  erscheinen,  kommen 
nun  Einwanderer  mit  Beginn  des  Mittelalters  hinzu,  die  un- 
gehindert durch  die  breiten,  offenen  Eingänge  im  Nordwesten, 
Nordosten  und  Südosten  hereinströmen  konnten.  Non  Nord- 
westen kamen  die  Slowenen  und  Serben,  von  Nordosten  die  ur- 
sprünglich nicht  slawischen  Bulgaren,  von  Südosten  die  osma- 
nischen  Türken,  in  ihrem  Gefolge,  zum  Teil  gewaltsam  angesiedelt, 
Tataren,  Armenier,  Tscherkessen,  dann  Zigeuner,  deren  Zahl  sehr 
groß  ist;  seit  dem  vorigen  Jahrhundert  auch  Rumänien,  noch  früher 
spanische  Israeliten,  im  neunzehnten  Jahrhundert  auch  polnische. 

Bei  einer  Bevölkerung  von  etwa  14Y2  {'^l^U  ^^^^'  iQOo)  Mil- 
lionen auf  490  000  qkm  der  ganzen  Halbinsel  —  dieselbe  steht 
also  dem  Deutschen  Reich  an  Größe  beträchtlich,  an  Volksdichte 
um  das  Dreifache  nach  —  zählt  man,  nur  diejenigen  gerechnet, 
welche  mit  mindestens  200000  Köpfen  vertreten  sind,  elf  ver- 
schiedene Völker,  zu  denen  aber  noch  mehrere  andere  hinzu- 
kommen, von  den,  wenigstens  in  der  Weltstadt  Konstantinopel, 
nach  Tausenden  zählenden  Vertretern  fast  aller  Kulturvölker 
Europas  abgesehen.  Wie  Konstantinopel  noch  heute  aus  tür- 
kischen, griechischen,  armenischen,  jüdischen  und  europäischen 
Stadtvierteln  besteht,  von  denen  namentlich  jedes  der  vier  erste- 
ren  in  der  Mehrzahl  auftritt,  jedes  meist  schon  seinem  äußeren 
Charakter  nach  unterschieden  und  gesondert,  so  fast  jede  größere 
Stadt  der  Halbinsel.  Überall  herrscht  das  bunteste  Völker-  und 
Sprachengemisch. 

Erhöht  wird  aber  diese  Zersplitterung  dadurch,  daß  bis  auf 
die  Griechen  —  von  denen  nur  wenige  Mohammedaner  —  und 
die  Türken  alle  übrigen  Völker  noch  durch  Religion  und  Kon- 
fession gespalten  sind,  die  im  Orient  eine  fast  größere  Scheide- 
wand bilden,  als  verschiedene  Nationalität.  Nach  Religion  und 
Konfession  richten  sich  auch  die  politische  Zu-  und  Abneigung 
und  die  politischen  Beziehungen.  Die  Serben,  abgesehen  davon, 
daß  Teile  dieses  Volkes  dem  ungarischen,  dem  österreichischen 
(Dalmatien),  dem  serbischen,  dem  montenegrinischen  und  tür- 
kischen Staate  angehören,  Bosnier  und  Herzegowiner  auch  noch 
provinziell  geschieden  sind,  zerfallen  in  griechische  und  römische 


—     55     — 

Katholiken  und  in  Mohammedaner.  Ähnlich  sind  die  Albanesen 
dreifach  religiös  gespalten.  Bei  den  Bulgaren  tritt  dies  weniger 
hervor,  da  die  Zahl  der  römischen  Katholiken  und  der  Moham- 
medaner (Pomaken)  bulgarischer  Nationalität  beschränkt  ist.  Die 
Zahl  der  Mohammedaner  ist  noch  in  diesem  Jahrhundert  auf 
Kosten  der  Albanesen,  Bulgaren,  Serben  und  Makedonier  ge- 
wachsen. Die  Bekenner  des  Islam  halten  sich  und  rechnen  sich 
fast  immer  zu  den  Osmanli.  Keines  dieser  Völker  ist  so  zahl- 
reich oder  den  andern  an  Gesittung  und  Tüchtigkeit  so  über- 
legen, daß  es  die  übrigen  zu  beherrschen  vermöchte;  ja,  bis  auf 
Albanesen  und  Bulgaren  hat  jedes  einen  großen  Bruchteil  seiner 
Volksgenossen  außerhalb  der  Halbinsel  und  in  derselben  nicht 
angehörigen  Staatsverbänden.  Es  ist  klar,  daß  in  allen  diesen 
Verhältnissen  von  dem  Augenblicke  an,  wo  die  Türken  nicht 
mehr  imstande  waren,  mit  roher  Gewalt  die  übrigen  Völker  zur 
arbeitenden  und  steuerzahlenden  Herde  herabzudrücken,  inneren 
Reibungen  der  verschiedensten  Art  und  Eingriffen  von  außen 
Tür  und  Tor  geöffnet  war.  Während  bis  zu  Beginn  unseres 
Jahrhunderts,  von  Dalmatien,  Kroatien,  den  ionischen  Inseln  und 
etwa  Montenegro  abgesehen,  noch  die  ganze  Halbinsel  der  tür- 
kischen Gewaltherrschaft  gehorchte,  begannen  seitdem  die  Em- 
pörungen gegen  dieselbe,  zum  Teil  durch  Hilfe  von  außen,  Er- 
folge zu  erzielen;  Serben  und  Griechen,  schließlich  auch  die 
Bulgaren  gelangten  zu  eigener  Staatenbildung.  Wie  Lage,  Welt- 
stellung, wagerechte  und  senkrechte  Gliederung  jene  große  ethno- 
graphische Mannigfaltigkeit  hervorgerufen  hatte,  so  hat  diese  im 
neunzehnten  Jahrhundert  wieder  die  heutige  Staatenbildung  ver- 
ursacht. Nicht  weniger  als  vier  selbständige  Nationalstaaten  be- 
stehen heute  auf  der  Halbinsel:  Serbien,  Bulgarien,  Montenegro, 
Griechenland;  drei  andere,  die  Türkei,  Rumänien,  Österreich- 
Ungarn  besitzen  größere  oder  kleinere  Teile  derselben.  Die 
Albanesen  haben  auch  ihrerseits  eine  gewisse  Selbständigkeit  er- 
langt. Alle  diese  Staaten  und  Völker,  abgesehen  von  der  Wichtig- 
keit der  Halbinsel  für  alle  europäischen  Mächte  und  der  sich 
daraus  ergebenden  gegenseitigen  Überwachung,  stehen  einander 
eifersüchtig  uud  mißtrauisch  gegenüber;  jeder  hegt  ungemessene 
Ansprüche  und  Ausdehnungsgelüste;  ja,  heute  streiten  sich  sogar 
Bulgaren  und  Serben  um  die  Nationalität  der  slawischen  Be- 
wohner  von   ^Makedonien,    die    die    Bulgaren    für    Bulgaren,    die 


-     56     - 

Serben  für  Serben  erklären,  die  die  fortschreitende  ethnographische 
Erforschung  aber  als  einen  dritten  slawischen  Stamm  mit  wesent- 
lich slowenischer  Grundlage  erweisen  dürfte.  Wir  bezeichnen  sie 
daher  als  Makedonen.  Zu  der  großen  orientalischen  Frage  kom- 
men daher  noch  verschiedene  Fragen  zweiter  Ordnung  hinzu, 
jede  geeignet,  in  jedem  Augenblick  einen  Brand  zu  entzünden, 
der  sofort  zu  einem  europäischen  werden  muß.  Jedes  dieser 
Völker  trachtet  auch  im  Frieden  dem  anderen  Boden  abzuringen; 
Serben,  Griechen  und  Bulgaren  machen  in  jeder  Weise  nationale 
Propaganda  und  suchen  namentlich  durch  Schulgründungen,  für 
welche  die  beiden  letzteren  Völker  große  Opfer  bringen,  sich  die 
Zukunft  zu  sichern,  während  die  Albanesen,  ihrer  Volksart  und 
ihrem  Gesittungsstande  entsprechend,  die  Serben  gewaltsam  zu- 
rückdrängen. So  hoch  ist  die  nationale  und  religiöse  Abneigung 
gestiegen,  daß  jeder  Krieg,  abgesehen  von  einer  gewaltigen 
INIinderung  der  Volkszahl,  durch  den  Krieg  selbst  und  die  ver- 
heerenden Seuchen,  die  ihm  hier  unfehlbar  zu  folgen  pflegen, 
wenn  er  eine  Änderung  der  politischen  Karte  zur  Folge  hat, 
auch  eine  völlige  Verschiebung  der  ethnographischen  Verhältnisse 
hervorruft.  Seit  der  doch  friedlich  erfolgten  Abtretung  von 
Thessalien  an  Griechenland  hat  eine  so  rasche  Auswanderung 
der  dort  seit  dem  zehnten  Jahrhundert  schon  angesiedelten  Tür- 
ken begonnen,  daß  in  wenigen  Jahren  die  ethnographische 
Einheit  wieder  hergestellt  sein  wird.  In  noch  größerem  Maß- 
stabe, zu  Hunderttausenden,  wandern  Türken  und  Tataren  aus 
Bulgarien  aus,  wo  ganze  Städte  und  Landschaften  dadurch  ent- 
völkert werden.  Eine  ethnographische  Karte  von  Donau-Bulgarien 
wird  in  Zukunft  wohl  nur  noch  Reste  jener  ausgedehnten  tür- 
kischen und  tatarischen  Gebiete  der  östlichen  Landesteile  zeigen. 
Sehr  viele  der  verdrängten  Türken  sind  nach  Kleinasien  hinüber- 
gewandert, viele  aber  haben  sich  in  der  Hauptstadt  und  in  dem 
noch  türkischen  Drittel  der  Halbinsel  niedergelassen  und  das 
mohammedanische  Element,  auf  welchem  allein  der  Bestand  der 
türkischen  Herrschaft  beruht,  so  weit  verstärkt,  daß  heute,  eine 
politisch  hoch  bedeutsame  Tatsache,  die  Bekenner  des  Islam  dort 
etwa  53  Prozent  der  Bevölkerung  bilden. 

Die  Beseitigung  der  türkischen  Herrschaft  in  dem  heute  noch 
türkischen  Teile  der  Halbinsel  wird  daher  wesentlich  schwieriger 
sein.     Freilich  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,   daß  diese  Rückzugs- 


—     57     — 

bewegung  der  Türken,  oder  richtiger  der  Mohammedaner,  schon 
seit  langem  begonnen  hat.  Aus  Ungarn,  aus  Serbien,  aus  Grie- 
chenland mußten  sie  nach  Abschüttelung  des  türkischen  Joches 
auswandern,  weil  sich  in  ihnen  die  furchtbare  Zwingherrschaft 
verkörperte;  ja,  in  Bulgarien  selbst  war  dieser  Vorgang  schon  vor 
dem  letzten  Kriege  eingeleitet.  Städte,  welche  zu  Beginn  des 
Jahrhunderts  ganz  türkisch  waren,  sind  allmählich  bulgarisch  ge- 
worden; in  heute  völlig  bulgarischen  Landschaften  des  oberen 
jMaritzabeckens  zeugen  alle  Namen  der  Dörfer,  Felder,  Waldungen, 
Bäche  usw.  von  den  ehemaligen  türkischen  Bewohnern,  Das 
Dahinschwinden  der  türkischen  Bevölkerung,  das  selbst  in  Klein- 
asien so  schreckenerregend  rasch  vor  sich  geht,  hatte  in  Europa 
schon  vor  dem  letzten  Kriege  begonnen.  Die  ungeheure  Last 
des  Kriegsdienstes  lag  allein  auf  den  Türken,  sie  allein  zahlten 
die  furchtbare  Blutsteuer.  Seit  Aufhebung  der  Janitscharen,  die 
sich,  wie  bekannt,  meist  aus  bekehrten  Christenknaben  selbst  er- 
gänzten, den  Niederlagen  im  Felde  und  dem  gesunkenen  An- 
sehen des  türkischen  Namens,  womit  ein  bedeutender  Rückgang 
des  Zustromes  von  Renegaten  eintrat,  wurden  diese  Lasten  dem 
Volke  selbst  immer  fühlbarer.  Die  kräftige  junge  Mannschaft 
wurde  dem  Lande  und  dem  Erwerbe  entzogen;  die  unaufhör- 
lichen Kriege  rafften  sie  dahin;  die  Überlebenden  kehren  erst 
nach  Jahren,  oft  als  Kranke  oder  Krüppel,  zurück  und  finden  ihr 
Gut  in  materiellem,  ihre  Familie  in  sittlichem  Rückgang.  Die 
ungleiche  und  ungerechte  Besteuerung,  die  Willkürherrschaft,  die 
heillose  Verderbtheit  der  türkischen  Verwaltung  trifft  das  eigene 
Volk  am  empfindlichsten,  das  wenig  rührig,  bieder  und  ehrlich 
in  den  unteren  Schichten,  sich  nicht  dagegen  zu  schützen  vermag. 
Die  Verarmung  gerade  der  Türken  ist  allgemein.  Dumpfe  Ver- 
zweiflung hat  den  größten  Teil  des  türkischen  Volkes  ergriffen; 
eine  natürliche  Vermehrung  findet  fast  nicht  mehr  statt;  die  früher 
überaus  wichtige,  mehr  oder  weniger  gewaltsame  Einverleibung 
fremden  Volkstums,  die  wir  jetzt  die  Stammverwandten  der  Tür- 
ken, die  Magyaren,  auch  in  Ermangelung  eigener  natürlicher  Ver- 
mehrung, so  erfolgreich,  namentlich  auf  Kosten  des  Deutschtums, 
betreiben  sehen,  hat  fast  aufgehört.  Es  erscheint  das  türkische 
Volk  unaufhaltsam,  nicht  nur  in  Europa,  sondern  überhaupt  dem 
Untergange  geweiht.  Die  Verstärkung,  welche  dasselbe  seit  dem 
vorigen  Jahrhundert    durch   Zuwanderung   mohammedanischer  Ta- 


—     5«     — 

taren  aus  Südrußland  und  der  Krim,  dann  wieder  durch  Tscher- 
kessen  aus  dem  Kaukasus  erhalten  hat,  war  bedeutungslos,  beide 
teilen  die  Geschicke  der  Türken.  An  ihre  Stelle  treten  nament- 
lich Bulgaren,  im  Süden  auch  Griechen.  Diese  steigen  aus  den 
Gebirgen,  in  die  sie  früher  zurückgedrängt  worden  waren  oder 
sich  geflüchtet  hatten,  immer  mehr  herab.  Im  Gebiet  von  Vama 
sind  seit  dem  letzten  Kriege  135  bulgarische  Dörfer  neu  ent- 
standen, und  schon  1881  zählte  man  im  Fürstentum  vierzigtausend 
neue,  ackerbauende  Ansiedler.  Auch  aus  den  noch  türkischen 
Gebieten  findet  Zuwanderung  statt,  namentlich  diese  Tausende 
von  makedonischen  Arbeitern,  Maurern  und  dergleichen,  die  all- 
sommerlich nach  Bulgarien  strömen  und  hier  den  Unterschied  der 
Verhältnisse  in  noch  türkischem  Gebiet  und  im  Fürstentum  be- 
obachten körmen,  dienen  als  freiwillige,  bulgarische  Agitatoren. 
Wenn  wir  noch  darauf  hinweisen,  daß  nach  den  russischen 
Kriegen,  namentlich  181 2  und  1829,  eine  starke  Auswanderung 
von  Bulgaren  nach  Südrußland,  schon  früher  nach  dem  ungarischen 
Banat,  nach  den  österreichischen  Kriegen  1690  und  1740  eine 
sehr  starke,  serbische  Auswanderung  nach  Ungarn  stattfand  — 
Albanesen  setzten  sich  an  Stelle  der  Auswanderer  und  machten 
Altserbien  vorwiegend  albanesisch  —  so  sehen  wir,  wie  veränder- 
lich in  der  Tat  im  Schollenland  der  südosteuropäischen  Halbinsel 
selbst  die  ethnographischen  Verhältnisse  sind,  wie  dort  alles  in 
Fluß  und  Bewegung  ist.  Einwanderungen,  Auswanderungen,  An- 
siedelungen aus  den  offenen,  fruchtbaren  Landschaften  in  die 
Gebirge  und  umgekehrt,  waren  dort  zu  allen  Zeiten  an  der  Tages- 
ordnung. 

Es  ergibt  sich  aus  diesen  Betrachtungen,  daß  die  große 
ethnographische  Mannigfaltigkeit  der  Halbinsel  durch  die  Gesamt- 
heit der  eigenartigen  geographischen  Verhältnisse  bedingt  ist. 
Sie  ihrerseits  bedingt  oder  begünstigt,  im  Verein  mit  jenen,  staat- 
liche Zersplitterung  und  gegenseitige  Eifersucht  der  einzelnen 
kleinen  Nationalstaaten.  Jeder  derselben,  außer  den  Bulgaren, 
hat  Nationsgenossen  außerhalb  seiner  Grenzen,  ja,  außerhalb  der 
Halbinsel.  In  der  Vielseitigkeit  ihrer  Beziehungen,  in  ihrer  Eigen- 
schaft als  wichtiges  Durchgangsland  des  Weltverkehrs,  im  Besitz 
eines  der  geographisch  am  meisten  begünstigten  Punkte  an  der 
Erdoberfläche,  schließUch  in  dem  großen  Reichtum  an  natürUchen, 
wenn  auch  unentwickelten  Hilfsquellen,  liegen  dann  noch  weitere 


—     59     — 

Gründe,  welche  die  Aufmerksamkeit  der  Mächte  und  die  Neigung 
zur  Einmischung  wach  erhalten  müssen,  zunächst  die  des  an- 
greifenden Rußland,  andrerseits  Österreich- Ungarns  und  Englands, 
welche  große  Interessen  zu  verteidigen  haben.  Nur  in  Zeiten, 
wo  die  Halbinsel  Glied  eines  sich  über  beide  Erdteile  erstrecken- 
den Weltreichs,  Konstantinopel  dessen  Hauptstadt  ist  und  die 
ethnographische  Mannigfaltigkeit  zurücktritt,  sei  es  weil  die  natio- 
nale Idee  überhaupt  in  der  betreffenden  Periode  wenig  Bedeutung 
hat,  oder  das  herrschende  Volk  alle  übrigen  durch  überlegene 
Gesittung  ihrer  Eigenart  entkleidet,  oder  durch  alles  niedertretende 
Gewalt  zur  völlig  recht-  und  willenlosen  Herde  herabdrückt  — 
nur  in  solchen  Zeiten  wird  es  keine  orientalische  Frage  geben. 
Sobald  die  Macht  des  herrschenden  Volks  zu  schwinden  beginnt, 
wie  die  byzantinische  im  spätem  Mittelalter,  die  türkische  seit 
dem  vorigen  Jahrhundert,  treten  jene  geographischen  und  ethno- 
graphischen Faktoren  wieder  in  Wirksamkeit,  und  entwickelt  sich 
eine  orientalische  Frage,  die  Europa  so  lange  in  Atem  erhalten 
wird,  bis  die  Südosthalbinsel  und  Kleinasien  mit  Konstantinopel 
wieder  in  einer  starken  Hand  vereinigt  sind.  Diese  wird  dann 
aber,  wie  sich  die  Verhältnisse  in  der  Neuzeit  entwickelt  haben, 
einen  erdrückenden  Einfluß  auf  einen  großen  Teil  der  Alten 
Welt  ausüben. 

Daß  Rußland  den  Besitz  von  Konstantinopel  und  damit 
beider  Halbinseln  anstrebt,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Zu  ver- 
hindern, daß  es  dieses  Ziel  erreiche,  wäre  am  besten  gelungen 
durch  möglichste  Aufrechterhaltung  der  Türkei,  natürlich  unter 
allmählicher  Überführung  derselben  in  die  europäische  Staaten- 
und  Fürstenfamilie.  Nur  dem  flüchtigen  Beobachter  kann  der 
Eindruck  werden,  als  sei  die  deutsche  Politik  bemüht,  eine  Wieder- 
belebung der  Türkei  herbeizuführen;  denn  eine  solche  ist,  so 
sehr  man  sie  wünschen  mag,  nach  dem  Urteil  aller  Kenner  völlig 
ausgeschlossen.  So  viel  rohe  Kraft  in  den  unteren  Schichten  des 
osmanischen  Volkes,  so  reiche,  unentwickelte  Hilfsquellen  auch 
noch  in  den  türkischen  Ländern  schlummern:  die  dumpfe  Ver- 
zweiflung, das  Dahinschwinden  der  Massen,  die  Verkommenheit 
der  oberen  Schichten  ist  zu  weit  vorgeschritten,  um  ein  wirkliches 
Wiederaufleben  als  denkbar  erscheinen  zu  lassen,  um  so  weniger, 
als  zu  viele  Faktoren  vorhanden  sind ,  die  ein  Interesse  haben, 
dies    zu   verhindern.      Auch    der    tüchtigste   Herrscher   wäre   dazu 


—     6o     — 

nicht  imstande,   da  es  ihm  völlig  an  brauchbaren  Werkzeugen  zur 
Ausführung    seiner   Pläne    und    an    Verständnis   für   dieselben    im 
Volke  fehlen,   ja  die   berufenen  Werkzeuge   ihm  vielfach  absicht- 
lich entgegenarbeiten  würden.     Immerhin  ist  die  Widerstandskraft 
des  türkischen  Reiches  noch  eine  sehr  große,  und  die  Auflösung 
desselben  wird  bei  weitem  nicht  so  rasch  erfolgen,  wie  der  nach 
dem   äußeren  Schein  Urteilende   glauben   mag.     Da   zugleich  die 
nationale  Idee,  heute  fast  allein  der  entscheidende  Faktor  in  der 
Politik,  wie  sich  die  Dinge  gestaltet  haben,  Rußlands  Bestrebungen 
hier  feindlich  sein  muß   und  eine   gemeinsame  Niederhaltung  der 
zahlreichen  kleinen  Störenfriede,   die   hier  die  nationale  Idee  ge- 
schaffen   hat,    seitens    der   Mächte    undenkbar    ist,    so    wird    die 
Lösung    der    orientalischen   Frage    des   neunzehnten   Jahrhunderts 
noch  auf  lange  Zeit  die  Völker  Europas  in  Atem  erhalten;  noch 
Generationen    werden    durch     die    Ausbrüche    des    orientalischen 
Kraters    in   Mitleidenschaft    gezogen   werden.     Zwischen   Rußland 
und    Konstantinopel    liegen   heute    der    erstarkte    rumänische    und 
der   sich   rasch    entwickelnde    bulgarische  Nationalstaat;    ein  Weg 
dahin    ist    heute    leichter    durch    Kleinasien.     Eine    Lösung    der 
orientalischen  Frage,  die  wohl  allen  Mächten,  außer  Rußland  und 
vielleicht  Bulgarien,   genehm    sein   und    am  weitesten  den  Forde- 
rungen   der    europäischen    Gesittung    entsprechen    dürfte,    scheint 
sich    jetzt    ethnographisch    anzubahnen    und    muß    auch    als    geo- 
graphisch begünstigt  erscheinen:   die  Schaffung  eines  großen  Grie- 
chenlands,   in   welchem   Konstantinopel   eine    durch  Verträge   ge- 
sicherte, besondere  Stellung   einzunehmen   hätte.     Dasselbe  hätte, 
außer  dem  heutigen  Königreiche,  Epirus,  vielleicht  unter  Anschluß 
Albaniens  durch  Personalunion,  die  Inseln  des  Archipels  mit  Chal- 
kidike    und    den    Westrand   Kleinasiens    nebst    dem   europäischen 
Ufer  des  Marmarameeres  zu  umfassen.    Dieser  durchaus  maritime 
Staat  würde  in  hohem  Grade    geeignet  sein,  als  neutrale  Schicht 
zwischen  den  sich  widerstreitenden  Interessen  zu  dienen.    Ethno- 
graphisch bahnt  sich    diese  Lösung  insofern  an,    als  schon  heute 
das  Fünf-Millionen-Volk  der  Griechen  in  dem  solchergestalt  um- 
schriebenen Gebiete  bei  weitem  das  Übergewicht  hat,  Konstanti- 
nopel und  Smyrna  die  größten  Griechenstädte  sind.    Jugendfrisch 
sich    vermehrend,    an    Besitz    und    Gesittung   wachsend,    wird    in 
fünfzig   Jahren    das    dann   zehn    Millionen   zählende    Griechenvolk 
ohne   Eingriffe    von    außen    jenes    Gebiet    allein    bewohnen.     Die 


—     6i      — 

Enkelin  des  ersten  deutschen  Kaisers  auf  dem  Throne  von  By- 
zanz !  Freilich  für  das  deutsche  Volk  würde  dieser  vom  Fluge 
der  Phantasie  getragene  Ausblick  in  die  Zukunft  kaum  irgend- 
welche spezielle  und  praktische  Bedeutung  haben.  Jedenfalls 
aber,  wie  immer  sich  die  Dinge  im  Orient  gestalten  werden,  das 
erkennt  man  schon  heute,  daß  dort  drei  Völkern,  Griechen,  Bul- 
garen und  Rumänen,   eine  größere  Zukunft  blühen  wird. 


5.  Die  Dattelpalme  im  Kultur-  und  Geistesleben 
des  Orients.  0 

Die  Dattelpalme,  von  welcher  zu  uns  nur  die  weniger  guten 
Früchte  gelangen,  weil  die  besseren,  weicheren  Sorten  nicht  gut 
transportabel  sind  und  auch  bei  uns  nur  als  Naschwerk  dienen,  spielt 
im  großen  Wüstengebiet  der  Alten  Welt,  zwischen  dem  Indus  und 
dem  Atlantischen  Ozean  eine  so  außerordentliche  Rolle  wie  sonst 
kein  Baum  in  außertropischen  Erdräumen.  Sie  ist  in  so  hohem 
Grade  der  Charakterbaum  dieses  ungeheuren  Ländergebiets,  ja 
meist  der  einzige  Baum,  daß  dasselbe  auf  den  mittelalterlichen 
Seekarten  der  Italiener,  auf  denen  Flaggen,  Legenden  oder  ein- 
gezeichnete Bilder  unser  politisches  Kolorit  ersetzen,  treffend 
durch  das  Bild  dieses  Baumes  bezeichnet  zu  werden  pflegt. 
Dort  ist  derselbe  der  Ernährer  von  Millionen  Menschen,  er  allein 
hat  erst  die  Wüste  bewohnbar  gemacht  und  seine  Kultur  reicht 
so  weit  zurück  als  eben  noch  historische  Zeugnisse  reichen.  Wir 
begreifen  daher,  daß  die  Dattelpalme  im  gesamten  materiellen 
und  geistigen  Leben  der  Bewohner  jener  Länder  eine  ganz  be- 
sondere Rolle  spielt,  daß  er  denselben,  fast  möchte  ich  sagen, 
menschlich  nahe  steht. 

In  dem  alten  Kulturlande  Ägypten,  das  noch  heute  in  ein- 
zelnen Gegenden  einem  lichten  Palmenwalde  gleicht  und  wo  die 
Steuerregister  jetzt  nicht  weniger  als  6  Millionen  Dattelpalmen 
zählen  (gegenüber  nur  etwa  i^j^  Millionen  sonstiger  Fruchtbäume), 
ist  die  Dattelpalme  als  Kulturbaum  und  als  Faktor  im  Kultur- 
leben beim  Beginn  unserer  historischen  Kenntnis  selbst  vorhanden. 
Isis,    die    Göttin    der    Fruchtbarkeit,    erscheint    stets    mit    einem 


l)  Erschienen  in  der  Deutschen  Revue  Februar   i88r. 


—       62       — 

Palmenzweige  zur  Seite  und  bei  ihren  Festen  treten  Palmträger 
in  der  Prozession  auf.  Aus  den  Inschriften  von  Denderah  er- 
sehen wir,  daß  die  Opferstiere  mit  Palmbast  gereinigt  und  auf 
einer  Schlachtbank  aus  Palmenholz  abgetan  wurden.  Die  noch 
heute  bei  den  Völkern  des  Islam  herrschende  (nicht  ganz  richtige) 
Anschauung,  daß  die  Palme  jählich  zwölf  neue  Blätter  ansetze, 
in  jedem  Monat  eines,  war  auch  den  alten  Ägyptern  geläufig  und 
sie  diente  ihnen  daher  als  Symbol  zur  Bezeichnung  des  Jahres- 
zyklus mit  den  zwölf  Monaten.  Unter  den  Dingbildern  der  ägyp- 
tischen Hieroglyphik  ist  die  Datteltraube  oft  verwendet  und  unter 
den  Lautbildern  erscheint  ein  Mann  mit  Palmzweigen  in  jeder 
Hand  oder  einem  solchen  auf  dem  Kopfe.  Nach  den  Forschungen 
von  Joharmes  Dümichen  ist  unter  dem  in  den  hieroglyphischen 
Texten  häufig  genannten  und  stets  mit  ganz  bestimmten  charak- 
teristischen hieroglyphischen  Zeichen  wiederkehrenden  Baume  (am) 
nur  die  Dattelpalme  zu  verstehen  und  für  den  Baum  tritt  zu- 
weilen die  Dattel  (bäner),  ebenfalls  mit  charakteristischem  hiero- 
glyphischen Zeichen  ein.  Dies  läßt  darauf  schließen,  daß  der 
Baum  schon  in  sehr  alter  Zeit,  in  einer  Zeit,  aus  welcher  uns 
direkte  historische  Überlieferung  kaum  erhalten  ist,  tief  im  3.  Jahr- 
tausend vor  Christus  schon  edler  Fruchtbaum  war.  Dement- 
sprechend sehen  wir  auf  zahlreichen  bildlichen  Darstellungen  auf 
den  Denkmälern  von  Theben,  deren  Zeit  freilich  nicht  genügend 
feststeht,  Dattelpalmen  mit  mächtigen  Fruchttrauben  beladen  von 
den  Ägyptern  gepflegt  und  bewässert.  Wasserbecken  und  Wein- 
gärten sind  dargestellt,  umgeben  von  Reihen  von  Dattel-  und 
Dumpalmen.  Dattelbrote  und  getrocknete  Datteln  sind  in  den 
Gräbern  von  Theben  gefunden  worden,  eines  der  ersteren  wird 
im  britischen  Museum  aufbewahrt.  Auf  dem  Pyramidenfelde  von 
Sakarrah  finden  wir  auf  der  Wand  des  wohl  mindestens  bis  zum 
Jahre  2000  v.  Chr.  zurückreichenden  Grabtempels  eines  vornehmen 
Ägypters  namens  Ti,  die  ihm  gehörigen  Ortschaften  durch  Frauen- 
gestalten dargestellt,  welche  die  Todtenopfer  für  Ti  an  Speisen 
und  Getränken  herbeibringen,  der  Name  jedes  Ortes  durch  Zu- 
sammensetzung mit  dem  des  verstorbenen  Besitzers  gebildet. 
Darunter  erscheint  auch  das  Palmen-Ti,  also  wohl  der  Ort,  welcher 
Tis  Haushalt  mit  Datteln,  vielleicht  auch  mit  Palmenwein  zu  ver- 
sehen hatte.  Wir  sehen  also,  daß  die  Dattelpalme  als  Volks- 
nahrung   in   Ägypten   in   sehr   alter   Zeit   schon   eine    große   Rolle 


-     63     - 

spielte.  Doch  müssen  wir  uns  hüten,  mit  dem  geistvollen,  aber 
allzusehr  an  vorgefaßten  Anschauungen  festhaltenden  Thomas 
Buckle  diese  ihre  Bedeutung  zu  überschätzen  und  etwa  auf  diese 
massenhafte  und  billige  Nahrung  allein  die  Verdichtung  der  Be- 
völkerung und  die  ganze  eigentümliche  Kulturentwicklung  der  Nil- 
oase zurückzuführen.  So  wichtig  im  ganzen  Wüstengebiet  noch 
heute  die  Dattel  als  Volksnahrung  ist,  so  bildet  sie  doch  nur 
ausnahmsweise  und  höchstens  auf  Monate  die  einzige  Nahrung, 
überall  ist  daneben  Getreidenahrung,  Milch,  Fleisch  oder  Fisch, 
je  nach  der  Gegend,  notwendig,  in  den  Saharaoasen  verlangt 
auch  der  Ärmste  daneben  Getreidenahrung  und  meist  ist  diese, 
nicht  die  Dattel  die  Basis  der  Ernährung.  Genau  so  war  es  im 
alten,  genau  so  ist  es  im  modernen  Ägypten:  Weizen,  Gerste  und 
Bohnen,  in  Oberägypten  und  Nubien  mehr  Durrah  bildeten  die 
Hauptnahrung,  die  Dattel  ergänzte  dieselbe  nur.  Dementsprechend 
bestanden  die  Einkünfte,  welche  Tuthmosis  III.  um  1600  v.  Chr. 
dem  von  ihm  erbauten  Tempel  zu  Semneh  in  der  Thebais  an- 
wies, der  Gegend,  welche  von  jeher  die  vorzüglichsten  Datteln 
hervorbrachte,  in  Durrah  und  Stieren.  Der  biblische  Joseph  sam- 
melte auch  in  den  sieben  fetten  Jahren  nicht  etwa  Datteln  in  den 
Vorratshäusern  Pharaos,  sondern  Weizen;  auch  ließ  Jakob  seine 
Söhne  nicht  etwa  Datteln  aus  Ägypten  holen.  Und  als  beim 
Auszug  der  Kinder  Israel  aus  Ägypten  die  Plagen  über  Ägypten 
verhängt  wurden,  zerstörte  ein  Hagelschlag  nicht  etwa  die  Dattel- 
haine, sondern  die  Gerste  und  den  Leinen,  verschonte  aber  die 
anderen  Saaten,  offenbar  weil  sie  in  der  Entwicklung  noch  so 
weit  zurück  waren,  daß  ihnen  der  Hagelschlag  nicht  schadete. 

Wie  noch  heute  die  Dattelpalme  im  holzarmen  Ägypten 
mannigfach  für  Bauzwecke  verwendet  wird,  so  war  das  jedenfalls 
auch  in  den  ältesten  Zeiten  schon  der  Fall  und  so  mußte  die- 
selbe einen  tiefgreifenden  Einfluß  auf  die  Entwicklung  der  ägyp- 
tischen Baukunst  ausüben.  Es  liegt  so  nahe,  daß  man  zuerst 
den  Palmenstamm  als  Stütze  des  Daches  anwendete  und  dann 
bei  vervollkommneter  Technik  an  Stelle  dieser  immerhin  gebrech- 
lichen Säule  eine  solche  aus  Stein  setzte,  der  man  aber  die  For- 
men des  herrlichen  Baumes  zu  wahren  suchte.  Ist  uns  ja  von 
Mohammed  direkt  bezeugt,  daß  er  als  die  ersten  Säulen  der 
Moschee  zu  Medina  Palmstämme  in  einer  Erdmauer  aufrichtete, 
die  erst  vom  Khalifen  Omar  durch  Erd-  (wohl  Luftzies-el-)  Pfeiler 


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ersetzt  wurden.  Vielleicht  verlockten  auch  die  herrlichen  Kronen 
der  Palmen,  welche  sich  neben  einem  Tempel  und  neben  den 
doch  wohl  noch  älteren  Lotussäulen  erhoben,  zur  Nachbildung 
in  Stein,  Jedenfalls  sehen  wir  den  Palraenstamm  und  das  Pal- 
menkapitäl  schon  sehr  früh  in  der  ägyptischen  Baukunst  ver- 
wendet, und  merkwürdigerweise  kommen  in  der  Natur  wirklich 
so  kurzstämmige,  dicke  Palmstämme  vor,  wie  diejenigen,  welche 
die  ägyptischen  Säulen,  gewiß  nur  infolge  der  schwierigen  Be- 
handlung des  Steinmaterials,  darstellen.  Fern  im  Westen,  im 
algerischen  Oasenarchipel  des  Wed  Suf,  erlangt  der  Palmbaum 
infolge  der  höchst  eigentümlichen  Kultur  desselben  in  bis  8  m 
tiefen  einem  auf  die  Spitze  gestellten  Kegel  ähnlichen  Gruben 
nicht  die  bekannte  schlanke  Gestalt,  sondern  setzt  auf  wenige 
Meter  hohem,  starkem  zylindrischen  Stamme,  der  nach  unten 
konisch  verdickt  ist,  eine  gewaltige  Blätterkrone  an,  so  daß  er 
überraschend  den  ägyptischen  Palmensäulen  gleicht.  Am  herr- 
lichsten und  großartigsten  finden  wir  dieselben  angewendet  in 
dem  großen  Tempel  von  Edfu  (Apollinopolis  magna),  wo  die 
Krone  des  Baumes  als  wahrhaft  nationales  Säulenkapitäl  vom 
Künstler  in  wunderbarer  Treue  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten 
an  Kapitalen  dargestellt  ist,  welche  den  riesigen  Umfang  von 
öYj  m  haben.  Außerordentlich  zierlich  sind  die  Schuppen  des 
Stammes,  die  Datteltrauben  und  die  graziöse  Krümmung  wieder- 
gegeben, welche  dem  Palmenzweige  an  seinem  obersten  Ende 
eigen  ist.  Überraschend  ist  namentlich  auch  der  Eindruck,  wel- 
chen noch  heute  die  Palmen  und  Palmengruppen  hervorrufen, 
welche  in  und  um  die  Ruinen  des  Tempels  von  Qäu  (Antaeo- 
polis)  und  oft  dicht  neben  den  noch  wohl  erhaltenen,  aufrecht 
stehenden  Säulen  mit  Palmenkapitälen  stehen.  Dort  kann  man 
die  Natur  und  ihre  steinere  Nachbildung  am  besten  studieren. 
Die  Palmenkapitäle  von  Qäu  bestehen  aus  neun  langen  Palm- 
zweigen, welche  kühn  emporstrebend  oben  mit  graziösen  Krüm- 
mungen enden.  Die  Spitzen  der  Blätter  sind  durch  ein  in  ihnen 
entsprechenden  neun  Teilen  zierlich  ausgeschnittenes  Massiv  ver- 
einigt. Ihre  Anordnung  ist  eine  verschiedene  mit  Rücksicht  auf 
den  viereckigen  Würfel,  welcher  das  Kapital  trägt.  Diese  an- 
scheinende Unregelmäßigkeit  wird  durch  die  ungleiche  Zahl  der 
Palmenzweige  hervorgerufen,  die  nur  bei  den  Kapitalen  von  Qäu 
vorkommt.     Sie   bewirkt,    daß    die   Kapitale   von   vom   immer   ein 


-     65     - 

en  face  gesehenes  Blatt  darstellen,  von  rückwärts  vom  entgegen- 
gesetzten Ende  des  Durchmessers  eine  von  den  Flächen  zweier 
anderer  Blätter  gebildete  Kante.  Der  Schnitt  der  Vorderseiten, 
der  Kanten  und  der  Krümmungen  der  Kapitale  ist  von  herrlicher 
Durchführung.  Auf  den  trefflichen  Tafeln,  welche  die  ägyptischen 
Denkmäler  nach  den  Forschungen  der  Bonaparteschen  Expedition 
darstellen,  finden  wir  im  I.  und  IV.  Bande  auch  diese  Tempel 
und  ihre  prächtigen  Säulenkapitäle  abgebildet.  (Description  de 
l'Egypte,  Antiquit6s  sec.  ed.,  Bd.  I  Planche  5,  6,  8  Fig.  8  u.  18, 
55^  75  Fig.  2  u.  5,  76  Fig.  9,  89  Fig.  5,  Band  IV  Taf.  39,  40, 
41  Fig.  4  u.  5  A.)  Auch  in  den  berühmten  Tempeln  von  Philae 
und  anderwärts  kehren  diese  Palmenkapitäle  wieder  und  Herodot 
erzählt  uns,  daß  in  dem  aus  Stein  erbauten  Tempel  von  Sais  die 
Säulen  der  Gestalt  des  Palmbaums  nachgebildet  waren. 

In    ägyptischen    Denkmälern    finden    wir    auch    die    ältesten 
chronologisch    sicher    gestellten    Zeugnisse    dafür,    daß    auch    bei 
Babyloniem   und  Assyriern   die  Dattelpalme   sehr   früh  eine  Rolle 
im  Kulturleben  spielte.    Die  Inschriften  von  Karnak  berichten  uns 
nämlich   von   den   kulturhistorisch    so   wichtigen   ältesten  Kämpfen 
zwischen  Ägyptern   und  Assyriern   seit   dem  Ende    des    17.  Jahr- 
hunderts V.   Chr.    unter   Tuthraosis  III.    (XVIII.  Dynastie),    welche 
eine   erste   Berührung    ägyptischer   Kultur    mit    den   Kulturvölkern 
Asiens   herbeiführten,   durch  welche   sich  Ägypten   um  eine  Fülle 
von  Erzeugnissen   der   Natur   und    des    Gewerbfleißes    bereicherte 
und  unter  anderen  zuerst  Pferde  und  Kriegswagen  kennen  lernte. 
Unter    der    Beute    und    den    den   Assyriern    auferlegten   Tributen 
befinden  sich  auch  ungeheure  Mengen  Palmwein.    Wie  in  Ägypten 
hat  man  auch  in  Mesopotamien  und  speziell  dem  alten  Chaldaea 
Spuren  gefunden,  daß  auch  hier  die  Dattel  als  Volksnahrung  ins 
Gewicht    fiel.      Oberst    Taylor    hat    in    den    chaldäischen   Ruinen 
von  Mugheir,  dem  biblischen  Ur,    einem  der  ältesten  Sitze  chal- 
däischer  Kultur,    Reste   von   Palmenstämmen,    welche    als    Balken 
gedient  haben  mochten,  und  Reste  von  Dattelkernen  in  den  Grä- 
bern  gefunden,    so    daß   man    anscheinend    auch  hier   den  Toten 
noch  etwas  von  ihrer  Lieblingsspeise  mit  in  das  Grab  gab.    Diese 
Dattelkerne   kommen   nur   mit    Stein-   und   Bronzewerkzeugen    zu- 
sammen vor,    man   möchte   ihnen  daher  ein   hohes  Alter,  Anfang 
des  2.,  wenn  nicht  des   3.  Jahrtausend  v.  Chr.,  zuschreiben.     Aus 
beträchtlich    späterer   Zeit   finden   wir   Datteln    pflückende  Frauen 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  5 


—     66     — 

auf  babylonischen  Denkmälern  dargestellt.  Zahlreicher,  aber  aus 
noch  jüngerer  Zeit  sind  die  Darstellungen,  welche  die  Dattel- 
palme in  der  assyrischen  Kunst  gefunden  hat,  namentlich  in  den 
in  Kujundschik  ausgegrabenen  Palästen.  Dort  finden  wir  Früchte 
dargestellt,  welche  zu  einem  Gastmahle  aufgetragen  werden,  unter 
ihnen  auch  Büschel  reifer  Datteln.  Ein  Basrelief  von  Kujundschik 
stellt  dar  die  Unterwerfung  einer  an  einem  Flusse  anscheinend 
in  sumpfiger,  wohl  von  unbotmäßigen  arabischen  Stämmen  be- 
wohnter Gegend  gelegenen  Stadt  und  Landschaft,  die  wir  nach 
der  überraschenden  Ähnlichkeit,  welche  die  dargestellte  Land- 
schaft mit  der  heutigen  am  unteren  Euphrat  hat,  dort  zu  suchen 
haben.  Zahlreiche  assyrische  Krieger  sind  eben  beschäftigt,  die 
fruchtbeladenen  Dattelpalmen  umzuhauen.  Da  Henry  Layard 
nachgewiesen  hat,  daß  Sennacherib  der  Erbauer  dieses  Palastes 
war,  so  reichen  diese  Skulpturen  nicht  weiter  als  ins  Ende  des 
8.  Jahrhunderts  v.  Chr.  zurück.  Etwas  weiter  bis  gegen  das 
Jahr  looo  mögen  andere  rohere  Darstellungen  der  Dattelpalme, 
von  solchen  umgebene  assyrische  Tempel  u,  dgl.  zurückreichen. 
König  Asshur-bani-pal  ist  in  seinem  Palaste  zu  Kujundschik  dar- 
gestellt in  einem  Dattelhaine  und  auf  einer  anderen  Skulptur  er- 
heben sich  zwei  große  mit  Früchten  beladene  Dattelpalmen  neben 
dem  Streitwagen  des  aus  der  Schlacht  heimkehrenden  Königs. 
Schilderungen  aus  den  letzten  Jahrhunderten  vor  Beginn  unserer 
Zeitrechnung  und  den  ersten  nach  derselben  lassen  uns  Meso- 
potamien als  einen  ungeheuren  Palmenwald  erscheinen.  Dennoch 
ist  uns  sicher  genug  bezeugt,  daß  auch  hier  Weizen  und  Gerste 
die  Grundlage  der  Ernährung  bildeten.  Nicht  anders  war  es 
jedenfalls  zur  Zeit  der  arabischen  Herrschaft,  wo  hier  die  Dattel- 
kultur so  hohe  Blüte  erlangte,  daß  die  Dattelgärtner  aus  Basra 
im  12.  Jahrhundert  die  Palmen  mit  Guano,  wohl  die  älteste  Ver- 
wendung desselben,  düngten,  den  sie  um  hohen  Preis  von  den 
Felseninseln  im  Persischen  Meerbusen  bezogen.  Auch  in  Meso- 
potamien scheint  die  Dattelpalme  auf  die  Entwicklung  der  Archi- 
tektur, wenn  auch  in  anderer  Weise  wie  in  Ägypten,  eingewirkt 
zu  haben.  Man  benutzte  dort,  wo  die  Häuser  aus  Luftziegeln 
erbaut  wurden,  die  Palmstämme  als  Balken,  wobei  sich  bald  die 
Beobachtung  aufdrängte,  daß  sich  der  belastete  Palmstamm  nach 
oben,  der  Last  entgegen,  krümmt.  Xenophon  vergleicht  diese 
Krümmung  derjenigen  eines  belasteten  Eselrückens.      Stellte  man 


-     67     - 

nun  zwei  gekrümmte  Palmstämme  gegeneinander,  so  hatte  man 
die  Rippe  des  gothischen  Spitzbogens,  die  dann  in  Luftziegeln 
nachgeahmt  wurde,  wie  sich  Spuren  davon  in  den  antiken  baby- 
lonischen wie  in  den  modernen  Backsteinbauten  von  Bagdad 
finden.  Und  sogar  auf  den  Schiffsbau  ist  hier  in  Mesopotamien 
wie  am  Persischen  Meerbusen  die  Dattelpalme  von  Einfluß  ge- 
wesen und  Vergleiche  von  sonst  und  jetzt  zeigen,  wie  sich  darin 
seit  Jahrtausenden  nichts  geändert  hat.  Dieselben  Boote  von  kreis- 
runder Form,  von  beiden  Seiten  geteert  und  sich  drehend  fort- 
bewegend, die  wir  schon  auf  assyrischen  Denkmälern  dargestellt 
finden,  werden  noch  heute  auf  dem  Tigris  verwendet.  Es  sind 
die  sogenannten  Kuffeh,  die  nur  aus  Blättern  der  Dattelpalme 
gemacht  werden.  An  der  Mündung  des  Schat-el-Arab  werden 
noch  heute  Schiffe  gebaut  aus  Palmenholz,  mit  Datteln  als  Pro- 
viant und  Kaufmannsgut  beladen.  Auch  in  den  zahlreichen  klei- 
nen Küstenfahrern,  welche  im  persischen  Bender  Abbas  gebaut 
werden,  besteht  nur  der  Hauptbalken,  der  alles  zusammenhalten 
muß,  aus  indischem  Teakholz,  alles  andere  ist  von  der  Dattel- 
palme genommen. 

Weit  inniger  noch  als  in  Ägypten  und  Mesopotamien  ist  die 
Dattelpalme  mit  der  Kultur,  dem  Kultus  und  dem  gesamten 
geistigen  Leben  der  Araber  verwachsen.  Arabien  entbehrt  so 
befruchtender  Ströme,  wie  der  Nil,  der  Euphrat  und  Tigris  sind; 
es  erzeugt  nicht  wie  jene  Länder  ungeheure  Mengen  von  Cerea- 
lien,  die  Dattelpalme  ist  dort  in  höherem  Maße  Ernährerin,  dort 
bricht  in  der  Tat  Hungersnot  aus,  wenn  etwa  Heuschreckenplage 
die  Dattelernte  fehlschlagen  macht.  So  wurden  denn  dem  Baume 
in  den  verschiedenen  Gegenden  des  Landes  göttliche  Ehren  er- 
wiesen. In  Nedschran,  einer  alten  Dattellandschaft,  die  wir  neuer- 
dings zuerst  durch  Joseph  Hal6\y  etwas  kennen  gelernt  haben, 
in  welcher  sich  aber  schon  die  römischen  Legionen  unter  Aelius 
Gallus  (24  V.  Chr.)  von  Datteln  nährten,  verehrten  die  Bewohner 
einen  heiligen  Palmbaum,  der  außerhalb  ihrer  Stadt  stand  und 
zu  dem  sie  an  einem  gewissen  Tage  in  Prozession  hinauszogen 
und  ihn  mit  reich  gestickten  Teppichen  behingen,  weil  dann  aus 
diesem  Idole  ein  Dämon  zu  ihnen  sprach,  dem  sie  so  ihre  Ehr- 
furcht bezeugten.  Ebenso  verehrte  der  Stamm  der  Takif,  der 
bei  Taif  wohnte,  die  Göttin  Allat  in  einem  großen  mit  Weihe- 
geschenken   begabten    Baume,    welcher    unter    den    Palmen    des 


—     68     — 

Tales  von  Nachiah  hervorragte.  Auch  in  Oman  wurden  der 
Dattelpalme  als  heiligem  Baume  alljährlich  Feste  gefeiert  und 
Opfer  gebracht.  Eine  besonders  heilige  Stätte  der  Palmenkultur 
war  der  Palmenhain  im  Wadi  Firan,  auf  der  Sinaihalbinsel,  der 
mit  seinen  reichen  Quellen  und  davon  genährter  reicher  Vege- 
tation inmitten  öder  Felsenwüste  von  jeher  den  Menschen  an- 
gezogen hat  und  selbst  von  den  Barbaren  heilig  gehalten  wurde. 
Ein  uralter  Altar  aus  festem  Stein  war  in  dem  Haine  errichtet, 
bedeckt  mit  altertümlichen  unbekannten  Schriftzügen.  Ein  Mann 
und  eine  Frau  standen  als  Priester  und  Priesterin  auf  Lebenszeit 
dem  Heiligtume  vor  und  die  dort  Lebenden  wurden  zu  den 
Seligen  gerechnet.  Alle  fünf  Jahre  wurde  in  dem  Palmenhaine 
ein  Fest  gefeiert,  zu  welchem  von  allen  Seiten  die  Umwohner 
zusammenströmten,  um  den  Göttern  des  Heiligtums  fette  Kamele 
zu  opfern  und  heilbringende  Wasser  aus  den  dort  sprudelnden 
Quellen  mit  nach  Hause  zu  nehmen.  Eine  andere  Quelle  be- 
richtet ergänzend,  daß  das  priesterliche  Paar  sich  in  Felle  kleidete 
und  von  den  Datteln  nährte,  der  wilden  Tiere  wegen  jedoch  die 
Nächte  in  Hütten  auf  den  Wipfeln  der  Palmen  zubrachte.  Es 
erinnert  uns  dies  Paar  an  den  einsamen  unsterblichen  Mönch, 
welcher  jetzt  in  dem  dem  Sinaikloster  gehörigen  Palmenhaine 
etwas  landeinwärts  von  Tor  im  Tale  El  Wadi  wohnt  und  den 
Hain  für  sein  Kloster  bewacht.  Serb-Baal,  der  Palmenhain  des 
Baal,  so  wurde  dieser  heilige  Hain  genannt  und  nach  ihm  der 
Berg,  an  dessen  Nordseite  er  liegt.  Baal,  der  von  den  Stämmen 
des  nordwestlichen  Arabiens  besonders  verehrt  wurde,  war  der 
Gott,  welcher  Frucht  und  Wasser  in  die  Wüste  spendete,  und 
so  nannte  man  später  alle  in  Arabien  nicht  von  Menschen  ge- 
pflanzten und  gepflegten,  sondern  lediglich  auf  Regen  und  Boden- 
feuchtigkeit angewiesenen  Dattelpalmen  Allahs  Datteln.  Allah 
selbst  hatte  wie  das  Kamel,  so  auch  die  Dattelpalme  aus  einem 
Reste  desselben  Tons,  aus  dem  er  den  Menschen  gebildet  hatte, 
geschaff"en  und  dem  Menschen  aus  dem  Paradiese  ins  Leben 
mitgegeben.  Der  Araber  betrachtete  den  edlen  Baum  daher  als 
seinen  Verwandten  und  der  Prophet  soll  selbst  zur  Achtung  vor 
demselben  aufgefordert  und  gemahnt  haben:  ,, ehret  ihn  als  eure 
Base"!  Kamel  und  Dattelpalme,  diese  einander  so  ähnlichen 
Vertreter  des  Tier-  und  Pflanzenreichs  im  großen  Wüstengebiet, 
blieben  daher  dem  Gläubigen  auf  Erden  göttergleich  und  gehören  im 


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zukünftigen  Leben  mit  zu  seinem  Paradiese,  in  welchem  der 
Prophet  ihm  noch  Datteln  verheißt.  Unter  der  Palme,  so  ver- 
heißt der  Koran,  am  klaren  Wasser  des  lebendig  dahin  murmeln- 
den Baches  wird  der  wahre  Gläubige  im  Paradiese  Jungfrauen 
mit  dunkeln  keuschen  Augen  liebkosen,  die  noch  nie  weder  ein 
Mann  noch  ein  Genius  berührt  hat.  Im  Koran  ermahnt  auch 
der  Prophet  die  Gläubigen,  Gott  zu  danken  für  seine  Gaben, 
für  die  nährenden  Gewächse,  die  Weintrauben  und  die  Datteln, 
weil  auch  darin  für  den  Nachdenkenden  göttliche  Offenbarungen 
gegeben  seien.  Diesen  Vorstellungen  entspricht  es,  daß  der  treff- 
liche Kosmograph  Kazwini  die  Dattelpalme  dem  Menschen  gegen- 
überstellt, dem  sie  gleiche  durch  ihre  gerade,  schlanke,  aufrechte 
Gestalt  und  Schönheit,  durch  ihre  Scheidung  in  zwei  Geschlechter, 
wie  durch  ihre  Befruchtung.  Schlage  man  dem  Palmbaum  den 
Kopf  ab,  d.  h.  die  Krone,  die  Endknospe,  so  sterbe  er;  seine 
Blüte  sei  wie  ein  Embryo  in  ein  Tiermembran  in  die  Spatha  eingehüllt 
und  habe  einen  spermazetischen  Geruch.  Wenn  das  Hirn  des  Palm- 
baums leide,  so  leide  auch  der  ganze  Baum  mit;  seine  Zweige, 
wenn  einmal  abgebrochen,  wachsen  so  wenig  wieder  wie  die  Arme 
eines  Menschen;  seine  Fasern  und  Netzgewebe  bedecken  ihn, 
wie  der  Haarwuchs  den  Mann,  und  alle  weiblichen  Palmen,  die 
eine  männliche  umstehen  und  von  ihr  Duft  erhalten,  werden  von 
ihr  befruchtet. 

Diesen  den  Baum  gewissermaßen  menschlich  belebenden 
Anschauungen  entspricht  es,  daß  der  Araber  unter  den  Krank- 
heiten desselben  auch  eine  nennt,  von  der  auch  die  landwirt- 
schaftlichen Schriften  der  Araber  zu  handeln  nicht  unterlassen 
und  welche  als  Eschq,  Liebe,  bezeichnet  wird.  Sie  besteht  darin, 
daß  eine  weibliche  Palme  den  Blütenstaub  der  ihr  zunächst 
stehenden  männlichen  aus  Abneigung  nicht  aufnimmt,  dafür  sich 
unter  den  ferner  stehenden  einen  Liebling  erwählt,  dem  sie  sich 
zuneigt,  womit  aber  ein  Verkümmern  verbunden  sein  soll,  dem 
nur  zu  steuern  ist  dadurch,  daß  man  beide  durch  Stricke  aus 
Palmfasern  verbindet  und  die  weibliche  mit  dem  Blütenstäube 
der  männlichen  befruchtet. 

Wie  in  der  christlichen  Legende  von  der  Flucht  nach  Ägyp- 
ten durch  die  Wüste  der  Palmbaum  seine  mit  Datteln  beladenen 
Zweige  herabneigt,  so  mußte  nach  einer  Legende  im  Koran  der 
dürre   Palmstamm,    an   dessen  Wurzel    die  Wöchnerin  Maria   das 


—     70     — 

Christuskind  gebar,  auf  dessen  Geheiß  seine  Früchte  in  den 
Schoß  der  verschmachtenden  Mutter  schüttehi,  eine  Sage,  der 
wir  in  überraschender  Ähnlichkeit,  wohl  mit  dem  Baume  aus 
dem  semitischen  Oriente  eingeführt,  auch  bei  den  Griechen 
begegnen:  Leto  gebiert  nach  dem  Hymnus  auf  den  Delischen 
Apollo  am  Fuße  der  berühmten  Delischen  Palme,  deren  Stamm 
mit  den  Armen  umfassend,  den  Apollo.  Es  scheint  dies  darauf 
hinzudeuten,  daß  schon  in  sehr  alter  Zeit,  wie  die  Dattel- 
palme von  allen  Völkern  als  Symbol  der  Fruchtbarkeit  an- 
gesehen wurde,  so  Frauen,  welche  zu  gebären  im  Begriff  waren, 
auch  bei  Griechen  und  Römern,  vermutlich  nach  aus  dem  Orient 
überkommener  Sitte,  einen  Palmzweig  berührten.  In  Persien 
pflegte  man  der  Braut  eine  goldene  Palme  darzureichen  als  Vor- 
zeichen einer  langen  Fruchtbarkeit.  Bei  vielen  Völkern  galt  der 
Genuß  von  Datteln  bis  in  die  neueste  Zeit  als  Gebärenden  sehr 
förderlich. 

Entsprechend  der  Wichtigkeit  und  dem  Werte  des  Baumes 
galt  es  zu  allen  Zeiten  und  bei  allen  Völkern  für  eine  Sünde, 
denselben  umzuhauen  in  der  Absicht,  dadurch  Feinden  zu 
schaden.  Und  selbst  Mohammed  mußte  sich  seinen  über  diese 
Sünde  empörten  Anhängern  gegenüber  entschuldigen,  als  er  sich 
durch  seinen  Haß  gegen  die  Juden  von  Cheibar  zu  dem  Befehle 
hatte  hinreißen  lassen,  ihre  Palmenhaine  niederzubrennen  und 
auszureißen.  Der  Khalif  Abu  Bekr  nahm  infolgedessen  unter 
seine  zehn  dem  Volke  gegebenen  Gebote  auch  den  Befehl  auf: 
zerstöret  keine  Dattelbäume!  Ein  Gebot,  das  bis  heute  nur  selten 
und  nur  in  den  erbittersten  Kämpfen  verletzt  worden  ist.  Denn 
in  der  Tat  vergehen  Jahre,  ehe  junge  Pflanzungen  wieder  ertrags- 
fähig werden,  und  Jahrzehnte,  ehe  sie  zu  voller  Ertragsfähigkeit 
gelangen.  Durch  Umhauen  der  Palmen  oder  selbst  nur  der  männ- 
lichen kann  eine  ganze  Landschaft  veröden  und  die  Bewohner 
dem  Verhungern  ausgesetzt  werden. 

Zahlreiche  arabische  Dichter  besingen  die  Ernährerin  des 
Landes  und  landwirtschaftliche  Schriftsteller  geben  in  umfang- 
reichen Werken  Anleitung  über  den  ihr  zusagenden  Boden,  die 
Bewässerung,  die  Legung  des  Kerns  oder  Pflanzung  der  Schöß- 
linge, Düngung  usw.;  der  Einfluß  des  Mondes  auf  diese  Vor- 
gänge wird  hervorgehoben  und  eine  Menge  abergläubiger  Vor- 
stellungen   knüpfen    sich    bei   den    Arabern   an   den   Baum.     Das 


—     71     — 

gesamte  Leben  des  arabischen  Volkes  ist  an  das  Vorhandensein 
der  Dattelpalme  gekettet;  ohne  sie  würden  tatsächlich  weite 
Striche  des  Landes  gar  keine,  andere  nur  wenige  Bewohner  zu 
ernähren  imstande  sein,  das  Land  hätte  nicht  jene  zahlreichen 
streitbaren  Scharen  nach  Osten  und  nach  Westen,  nach  Norden 
und  nach  Süden  aussenden  und  dem  Islam  eine  Welt  erobern 
können,  wenn  die  Dattelpalme  nicht  eine  gewisse  Verdichtuno- 
der  Bevölkerung  erlaubt  hätte.  Wir  können  daher  sagen,  daß 
auch  die  weltgeschichtliche  Rolle,  welche  das  arabische  Volk 
gespielt  hat,  in  engstem  Zusammenhange  mit  seinem  heiligen 
Baume  steht,  wenn  wir  auch  diesen  Satz  sofort  durch  einen  zweiten 
beschränken  müssen,  den  nämlich,  daß  die  Araber  aber  erst 
außerhalb  Arabiens  auf  begünstigterem  Boden  zu  dem  Kulturvolke 
werden  konnten,  das  einen  so  nachhaltigen  Einfluß  auf  die  Ent- 
wicklung der  Gesamtkultur  ausgeübt  hat.  Denn  wenn  die  Kultur- 
bedeutung der  Dattelpalme  auch  insofern  eine  sehr  hohe  ist,  als 
sie  eine  in  bezug  auf  den  Naturzustand  oder  selbst  das  Nomaden- 
leben fortgeschrittene  Kultur  hervorzurufen  vermag,  so  müssen  doch 
zahlreiche  andere  gewichtige  Faktoren  hinzukommen,  um  einen 
weiteren  Fortschritt  herbeizuführen.  Wo  diese  fehlen,  sehen  wir 
noch  heute  genau  dieselben  Zustände  in  der  Region  der  Dattel- 
palme vor  uns  wie  schon  vor  Jahrtausenden. 

Bei  den  den  Arabern  in  physischer  wie  geistiger  Hinsicht 
so  nahestehenden  Israeliten  spielt  die  Dattelpalme,  obwohl  sie 
nur  an  einem  Punkte  von  Palästina,  im  tiefen  Spalte  des  Ghor, 
namentlich  bei  Jericho,  ihre  Früchte  völlig  reift,  ebenfalls  eine 
große  Rolle:  im  Kultus,  bei  Festlichkeiten,  in  der  Poesie  usw. 
Wie  die  Araber  ihre  Hütten  aus  Palmzweigen  unter  Palmen  auf- 
schlugen, so  wohnte  auch  die  Richterin  Debora  auf  den  Bergen 
Ephraim  unter  Palmbäumen,  wenn  auch  sicher  keinen  reife 
Früchte  hervorbringenden.  Zum  Laubhüttenfeste,  das  zur  Er- 
innerung an  die  Zeit,  wo  Israel  auf  dem  Zuge  durch  die  Wüste 
in  Laubhütten  (wir  dürfen  wohl  annehmen  Hütten  aus  Palm- 
zweigen, von  den  Arabern  mit  einem  aus  Indien  überkommenen 
Worte  Kadaschan  genannt)  wohnte,  gefeiert  wurde,  wurden  diese 
Hütten  mit  Palmzweigen  geschmückt,  eine  Sitte,  welche  zu  Nehe- 
mias  Zeiten,  nachdem  sie  außer  Übung  gekommen,  wieder  ein- 
geführt wurde,  als  unter  Esra  die  erste  Rückkehr  aus  der  baby- 
lonischen   Gefangenschaft    mit    Jubel    und    Freude    in    Jerusalem 


-     72     — 

gefeiert  wurde.  Die  Palmblätter  blieben  seitdem  ein  Symbol  des 
Jubels  und  der  höchsten  Freude,  ein  Symbol  des  Sieges  fast  bei 
allen  Völkern,  wie  der  Evangelist  Johannes  dies  an  dem  Tage 
des  Einzugs  des  Herrn  unter  dem  Rufe  Hosianna  verewigt  hat. 
Wie  ein  arabisches  Sprichwort  junge  Männer  Palmen  vergleichbar 
nennt,  so  wird  im  Hohen  Liede  die  Gestalt  des  schönen  Weibes 
der  schlanken  hohen  Palme  verglichen:  „dein  Wuchs  gleicht  der 
Palme  und  deine  Brüste  den  Datteltrauben."  Auch  der  arabische 
Dichter  Abd-er-Rahmän  Giämi  vergleicht  die  schöne  Suleika  der 
anmutigen  Palme,  welche  ihr  Haupt  hoch  erhebt  in  den  lieb- 
lichen Gärten.  Tamar,  die  Palme,  war  seit  den  frühesten  Zeiten 
der  Name  schöner  hebräischer  Jungfrauen,  wie  der  Töchter 
König  Salomos  und  Absaloms.  Die  Palme  ist  in  der  hebräischen 
Poesie  „der  Baum  gepflanzet  an  den  Wasserbächen,  der  seine 
Frucht  bringet  zu  seiner  Zeit  und  seine  Blätter  verwelken  nicht, 
und  was  er  macht,  das  gerät  wohl";  der  Baum,  welchen  der 
Psalmist  dem  Manne  vergleicht,  „der  nicht  wandelt  im  Rate  der 
Gottlosen,  sondern  hat  Lust  zum  Gesetze  des  Herrn  und  redet 
von  seinem  Gesetze  Tag  und  Nacht",  also  ähnlich  wie  Moham- 
med denselben  als  eine  göttliche  Offenbarung  erkennt.  An  einer 
anderen  Stelle  dient  das  dauernde  Grün  des  Palmbaums  dem 
Psalmisten  als  ein  Bild  des  blühenden  und  dauernden  Wohl- 
standes der  Gerechten  und  Froramen.  David  tröstet  sich  mit 
dem  Gedanken,  daß  der  Gerechte  blühen  wird  wie  die  Palme. 
Auch  bei  den  Israeliten  scheint  die  Dattelpalme  von  Einfluß  auf 
die  Architektur  gewesen  zu  sein,  wenigstens  wird  bezeugt,  daß 
der  schöne  Schwung  des  Palmblattes  schon  beim  Salomonischen 
Tempelbau  zu  architektonischem  Schmuck,  vielleicht  selbst  zur 
Säulenbildung  angewendet  wurde. 

Wir  sehen  also,  daß  der  herrliche  Baum,  der  den  nordischen 
Reisenden  im  äußersten  Süden  Europas  immer  und  immer  wieder 
Bewunderung  entlockt  und  den  Maler  zu  bildlicher  Darstellung 
reizt,  obwohl  er  dort  kaum  blüht  und  keine  eßbaren  Früchte 
reift,  ja,  wenn  auch  eine  Hauptzierde  der  Landschaft,  doch  kaum 
seine  Gestalt  zu  den  majestätischen  Formen  seiner  Heimat  ent- 
wickelt —  daß  dieser  Baum  seit  Jahrtausenden  bei  den  Völkern 
des  Orients  als  Spender  von  Speise  und  Trank,  als  Schirm 
gegen  die  glühenden  Strahlen  der  Sonne,  wegen  seiner  herrlichen 
Gestalt  und  sonstigen  Nutzens  in  hohen  Ehren  steht,   daß  er  ihre 


—      73      — 

gesamte  Kulturentwicklung,  ihre  Kunst,  ja  auch  ihre  Poesie  be- 
einflußt hat,  bei  Ägyptern  und  Chaldäera  gewiß  nicht  weniger 
als  bei  Arabern  und  Israeliten,  wenn  uns  auch  nur  von  letzteren 
direkte  Zeugnisse  davon  aufbewahrt  sind.  Ist  auch  der  materielle 
Wert  einiger  anderer  Bäume,  aber  nur  weniger,  kaum  minder 
bedeutend,  so  ist  doch  in  letzterer  Hinsicht  gewiß  keiner  mit 
der  Dattelpalme  zu  vergleichen. 


IL  Palästina. 


I.  Eine  länderkundliche  Studie. 0 

Die  Tatsache,  daß  Palästina,  ein  so  kleines,  unscheinbares 
und  von  der  Natur  im  ganzen  ziemlich  stiefmütterlich  ausgestattetes 
Land,  der  Ausgangspunkt  aller  monotheistischen  Religionen  — 
denn  auch  die  letzten  Wurzeln  des  Islam  laufen  dorthin  aus  — , 
für  Christen  der  verschiedensten  Bekenntnisse,  für  Juden  und 
Mohammedaner,  also  für  alle  höher  gesitteten,  die  etwas  größere 
Hälfte  der  weniger  gesitteten  Erdenbewohner  beherrschenden  Völ- 
ker das  Heilige  Land  ist,  muß  immer  von  neuem  die  Aufmerk- 
samkeit des  Forschers  auf  sich  lenken  und  zu  Versuchen  anreizen, 
die  Ursache  dieser  Erscheinung  immer  tiefer  zu  erfassen.  Eine 
zusammenfassende  wissenschaftliche  Darstellung  Palästinas  in  der 
Weise,  wie  Karl  Ritter  eine  solche  vor  einem  halben  Jahrhundert 
gegeben  hat,  nur  dem  heutigen  Stande  der  Wissenschaft  und  der 
Kenntnis  des  Landes  entsprechend,  wäre  ein  verlockendes  und 
durchaus  mögliches  Unternehmen,  denn  die  wissenschaftliche, 
genauer  die  naturwissenschaftlich-geographische  Erforschung  des 
Landes  und  seine  kartographische  Aufzeichnung,  die  leider  da- 
mals so  außerordentlich  viel  zu  wünschen  übrig  ließen,  sind  im 
letzten  Vierteljahrhundert  erstaunlich  fortgeschritten.  Hier  soll 
nur  eine  Skizze  entworfen  werden. 

Palästina,  so  klein  es  ist,  verdankt  seiner  Lage  in  der  Nähe 
und  zwischen  den  uralten  Kulturvölkern  Mesopotamiens  und 
Ägyptens,  gewissermaßen  auf  der  beide  verbindenden  Brücke, 
daß  es  früh,  schon  etwa  um  1600  v.  Chr.  bekannt  geworden  ist. 


i)  Neue   Bearbeitung   eines    Aufsatzes   in   der   Geogr.  Zeitschrift  hersg. 
von  A.  Hettner  2.  Jahrg.   1896. 


—     75     — 

Um  1400  V.  Chr.  gewährt  uns  bereits  eine  Sammlung  von  Briefen, 
zum  größten  Teil  in  assyrischer  Sprache  und  babylonischer  Keil- 
schrift von  kanaanitischen  Fürsten,  wie  z.  B.  auch  von  dem  von 
Urusalim  (Jerusalem)  an  ägyptische  Pharaonen  geschrieben,  einen 
Einblick  in  die  Verhältnisse  des  Landes,  die  1887  in  Tell-el- 
Amama  in  Unterägypten  gefunden  worden  sind.  Durch  Alexan- 
der den  Großen  wurde  es  auch  dem  Westen  bekannt.  Aber  von 
den  griechischen  Schriftstellern,  die  von  Palästina  gehandelt  haben, 
ist  wenig  erhalten.  Ähnlich  von  den  römischen,  die  überdies,  so- 
weit wir  urteilen  können,  über  das  Land  und  seine  Bewohner 
völlig  verkehrte  Vorstellungen  hatten.  Von  einheimischen  Quellen 
des  Altertums  ist  die  Bibel  und  Flavius  Josephus  sehr  hoch 
zu  stellen,  der  als  jüdischer  Gelehrter,  Feldherr  und  Statthalter 
von  Galiläa  Juden  und  Römer  einander  näher  zu  bringen  gesucht 
hat  und  besonders  in  seinem  Werke  über  den  jüdischen  Krieg 
die  Topographie  des  Landes  gefördert  hat.  Für  die  Kenntnis 
des  Landes  hochbedeutungsvoll  ist,  daß  Palästina  in  den  ersten 
christlichen  Jahrhunderten  sich  langen  Friedens  und  kräftigen 
Schutzes  gegen  die  Wüstenbewohner  erfreute,  was  ein  erstaun- 
liches Aufblühen  des  Landes  und  eine  Vermehrung  der  Bevölke- 
rung namentlich  durch  starke  Zuwanderung  von  Christen  im  4. 
und  5.  Jahrhundert  aus  den  von  Barbaren  verheerten  Ländern 
{Italien  und  Tunesien  besonders)  zur  Folge  hatte.  Zahllose  Li- 
schriften  aus  jener  Zeit  bilden  eine  wichtige  Quelle  unserer  Kennt- 
nis. Ja,  es  ist  uns  sogar  eine  Karte  erhalten,  welche  in  Mosaik 
auf  dem  Fußboden  einer  griechischen  Kirche,  die  an  Stelle  einer 
alten  Basilika  steht,  in  der  alten  Moabiterstadt  Madeba,  östlich 
vom  Toten  Meere,  im  Dezember  1896  wieder  aufgefunden  wor- 
den ist.  Sie  stammt  aus  der  Zeit  etwa  um  400  n.  Chr.  und 
stellte  in  großem  Maßstabe  Ägypten,  Syrien  und  Kleinasien  dar. 
Von  ursprünglich  etwa  280  qm  Fläche  sind  nur  etwa  18  erhalten, 
welche  Bruchstücke  von  Palästina  und  Ägypten  darstellen.  Für 
das  Mittelalter  schöpfen  wir  besonders  aus  arabischen  Geographen 
Ibn  Haukai,  Abulfeda  (c.  1350),  selbst  ein  Syrier,  und  dem  jüdi- 
schen Reisenden  Benjamin  von  Tudela  (c.  11 70).  Das  christliche 
Abendland,  das  nach  dem  Vorgange  der  byzantinischen  Kaiser, 
die  dem  Heiligen  Lande  ihre  Gunst  zuwandten,  in  steigendem 
Maße  als  Ausgangspunkt  des  Christentums  zu  verehren  beginnt, 
bietet  im  Mittelalter  zahlreiche,  viel  gelesene  Aufzeichnungen  über 


-     76     - 

Pilgerreisen,  aus  denen  sich  ja  die  Kreuzzüge  entwickelt  haben, 
die  aber  nur  der  Bibelkunde,  der  Erbauung,  allenfalls  der  histo- 
rischen Topographie  förderlich  sind,  bis  ins  i8.  Jahrhundert  aber 
dem  Geographen,  der  über  die  Landesnatur  etwas  erfahren  möchte, 
einen  überaus  unerquicklichen  Lesestoff  bieten. 

Um  die  Mitte  des  i8.  Jahrhunderts  beginnt  mit  Linn6s  Schü- 
ler Fr.  Hasselquist  endlich  auch  in  dieser  Hinsicht  das  Licht  über 
Palästina  zu  dämmern.  Karsten  Niebuhr  hat  das  Land  als  erster 
Geograph  1766  bereist.  Ihm  folgen  zu  Beginn  des  19.  Jahr- 
hunderts unter  großen  Schwierigkeiten  und  Gefahren  Jak.  Seetzen 
und  L.  Burckhardt.  Der  Geolog  Jakob  Russegger  erkennt  mit 
von  Schubert  in  den  30er  Jahren  während  der  geordneten  Ver- 
waltung der  Ägypter  unter  Ibrahim  Pascha  die  tief  eingesenkte 
Lage  des  Ghor  und  des  Toten  Meeres.  Wesentliches  verdanken 
wir  auch  in  derselben  Zeit  dem  Amerikaner  Robinson.  Ein  siche- 
rer Grund  für  unsere  heutige  Kenntnis  wird  aber  erst  durch  zwei 
große  Gesellschaften  gelegt,  welche  sich  die  wissenschaftliche  Er- 
forschung von  Palästina  zur  Aufgabe  gesetzt  haben:  eine  englische 
seit  1867  und  eine  deutsche  seit  1878.  Erstere  hat  sich  beson- 
dere Verdienste  durch  die  topographische  Aufnahme  des  ganzen 
Westjordanlandes  erworben,  bei  welcher  als  junger  Offizier  der 
seitdem  so  bekannt  gewordene  Kitchener  mitwirkte.  Daneben 
hat  sie  auch  durch  Naturforscher  wie  HuU,  Tristram  u.  a.  unsere 
Kenntnis  wesentlich  vertiefen  lassen.  Auch  französische  Forscher, 
wie  der  Geologe  Lartet  und  der  Herzog  von  Luynes,  deutsche 
wie  der  Geologe  Stübel  und  der  Archäologe  Wettstein,  sind  in 
derselben  Zeit  im  Heiligen  Lande  tätig  gewesen.  Der  deutsche 
Verein  zur  Erforschung  von  Palästina,  der  mit  geringen  Mitteln 
außerordentlich  viel  geleistet  hat,  hat  neben  Ausgrabungen  sich 
vor  allem  der  Erforschung  des  Ostjordanlandes  angenommen, 
nachdem  ein  amerikanischer  die  Arbeit  bald  wieder  niedergelegt 
hatte.  Männer  wie  der  Baurat  Schick,  der  Theologe  Socin,  der 
Ingenieur  Schuhmacher,  der  Geologe  Blankenhorn  u.  u.  haben 
sich  hier  große  Verdienste  erworben.  Soviel  auch  im  einzelnen 
noch  zu  tun  übrig  bleibt,  in  den  großen  Zügen  kann  Palästina 
heute  als  erforscht  angesehen  werden  und  das  ausgezeichnete 
Bädekersche  Reisehandbuch  kommt  nicht  nur  dem  praktischen 
Bedürfnis,  sondern  auch  dem  wissenschaftlichen  Verständnis  ent- 
gegen. 


—     77     — 

Das  heute  von  uns  Palästina  genannte  Gebiet  im  äußersten 
Südostwinkel  der  Mittelmeerländer,  nach  seinen  geographischen 
Grundzügen  und  seiner  Geschichte  ein  so  scharf  ausgeprägtes 
Länderindividuum,  wie  es  wenige  gibt,  ist  ein  verschwindend 
kleiner  Teil  einer  großen  Tafelscholle,  welche  die  Außenseite  der 
Erdrinde  in  der  ungeheuren  Ausdehnung  vom  Atlantischen  Ozeane 
bis  an  den  Persischen  Meerbusen  und  den  Fuß  des  iranischen 
und  taurischen  Faltenlandes  ihr  eigenartiges  Gepräge  verleiht: 
der  großen  Wüstentafel.  In  diesem  weiten  Bereiche  wird  die 
Erdrinde,  soweit  sie  unserer  Beobachtung  zugänglich  und  wirklich 
erforscht  ist,  von  Schichtgesteinen  paläozoischen  und  mesozoischen, 
zum  Teil,  namentlich  am  Rande  Nordostafrikas,  auch  tertiären 
Alters  gebildet,  welche  ihre  ursprüngliche  Lagerungsform  fast 
durchaus  bewahrt  haben  und  unter  welchen  nur  gegen  Süden  hin 
ältere  archäische  Felsarten,  vorwiegend  Granite  und  Gneise,  in 
Gebirgsaufragungen  hervortreten.  Obwohl  dieses  alte  Grund- 
gebirge im  nahen  Sinai  noch  beträchtliche  Höhen  bildet,  ja  an 
der  Ostseite  des  syrischen  Grabens  noch  weiter  nach  Norden 
über  Petra  bis  nahe  an  das  Tote  Meer  nachgewiesen  ist,  tritt  es 
im  eigentlichen  Palästina  doch  nirgends  zutage.  Und  ebensowenig 
der  ihm  zunächst  auflagernde  paläozoische  Gürtel  und  der  nubische 
Sandstein,  der  nur  am  Fuße  des  Steilabsturzes  an  der  Ostseite  des 
Toten  Meeres  und  noch  etwas  nördlich  davon  soeben  noch  unter 
der  jüngeren  Decke  hervortritt.  Ganz  Syrien  gehört  nämlich,  wenn 
wir  von  den  jungeruptiven  und  den  besonders  in  Nordostsyrien 
die  Oberfläche  bildenden  jungtertiären  Gesteinen  absehen,  dem 
ungeheuren  Gürtel  von  Gesteinen  der  Kreideformation  an,  der, 
Hunderte  von  Kilometern  breit,  fast  die  ganze  Nordhälfte  der 
großen  Wüstentafel  etwa  vom  Meridian  von  Algier  bis  an  den 
Euphrat  bildet.  Und  zwar  herrschen  hchtgefärbte,  den  allerdings 
wesentlich  älteren  der  Rauhen  Alb  ähnliche  Kalksteine  allent- 
halben vor,  ja  in  Palästina  allein.  Selbst  die  wenigen  in  Palästina 
teils  auf  dem  Westjordanhochlande,  teils  in  einem  schmalen  Gür- 
tel am  Westabfalle  desselben  erhaltenen  Reste  einer  Decke  von 
Tertiärgesteinen,  Eozänschichten,  die  auch  hier,  wie  vielfach  in 
den  Mittelmeerländern,  schwer  von  der  Kreide  zu  sondern  sind, 
bestehen  aus   Kalksteinen. 

Nach  dieser  petrographischen  Eigenart  und  als  Folgeerschei- 
nungen derselben  wird  man  sofort  eine  ganze  Reihe  geographischer 


-     7«     — 

Tatsachen  von  großer  Wichtigkeit  in  Palästina  erwarten,  wie 
solche  in  der  Tat  das  Land  kennzeichnen.  Es  fehlen  demselben, 
wenn  wir  zunächst  noch  von  dem  Einflüsse  auf  die  Oberflächen- 
gestaltung absehen,  wie  zu  vermuten  war,  Kohlen  und  Eisen, 
ja  so  gut  wie  alle  Mineralschätze  überhaupt,  also  die  Möglichkeit 
Bergbau  zu  treiben  und  zu  großgewerblicher  Entwicklung  zu  ge- 
langen. Aber  guter  Kalkmörtel  ist  überall  vorhanden,  gute  Bau- 
steine, oft  marmorartig,  es  herrscht  daher,  soweit  sich  nicht  zelt- 
bewohnende Nomaden  des  Landes  bemächtigt  haben,  durchaus 
Steinbau  mit  Bogengewölben  und  mit  flachen  Dächern  oder 
Kuppelgewölben  vor.  Auch  die  Anlegung  von  Zisternen  und 
Bewässerungsrinnen  aus  Zement  war  erleichtert.  Das  Land  muß 
femer  wasser-  und  humusarm  sein,  weil,  ganz  abgesehen  von  den 
klimatischen  Verhältnissen,  das  poröse,  zerklüftete,  lichtgrau 
gefärbte  Kalkgestein  die  Meteorwasser,  soweit  sie  von  dem  er- 
hitzten Gestein  nicht  rasch  verdunsten  oder  abrinnen,  rasch  in  die 
Tiefe  sinken  läßt,  wo  sie  wohl  unterirdische  in  starken  Quellen  zutage 
tretende  Wasserläufe  bilden,  und  andererseits  der  Kalkfels,  je 
reiner  er  ist,  um  so  vollständiger  der  chemischen  Auflösung  durch 
die  Kohlensäure  führenden  Meteorwasser  verfällt  und  um  so 
weniger  unlösliche  Rückstände  läßt,  die  zur  Bildung  einer  Humus- 
decke beitragen  könnten.  Liefern  doch  in  der  Rauhen  Alb,  trotz 
viel  günstigerer  klimatischer  Bedingungen,  6 — 8  cbm  ähnlichen 
Kalkgesteins  bei  der  Verwitterung  nur  i  cbm  lehmigen  Rückstand. 

In  der  Tat  muß  man  Palästina  ein  wasserarmes  Land  nen- 
nen. Um  so  wichtiger  sind  die  vorhandenen  Quellen,  die  alle 
Namen  haben,  gefaßt  und  "von  Trümmern  von  Bauwerken  um- 
geben sind.  An  sie  vorzugsweise  oder  an  Brunnen,  die  das 
Wasser  künstlich  aus  der  Tiefe  heraufbefördem,  sind  die  Siede- 
lungen gebunden  und  daher  ihre  Namen  häufig  mit  Ain  (Quelle) 
oder  Bir  (Brunnen)  gebildet.  Man  rechnet  in  ganz  Palästina  auf 
je  loo  qkm  nur  4,5  Quellen,  in  dem  in  jeder  Hinsicht  begünstig- 
ten Galiläa  10,  in  Samaria  5,  in  Judäa  dagegen  nur  3.  Man 
denke  sich,  es  gebe  in  einem  preußischen  Kreise  von  im  Mittel 
500  qkm  nur  15  Quellen  und  keinen  dauernd  fließenden  Fluß 
oder  Bach! 

Die  Humusarmut,  die,  wie  wir  sehen  werden,  durch  die 
klimatischen  Verhältnisse,  Wind  und  Abspülung,  erhöht  wird, 
hat    dazu    geführt,  mit    peinlicher   Sorgfalt,    wenigstens   in   Zeiten 


—     79     — 

geordneter   Staatsverwaltung,    zu   sammeln   und    festzuhalten,    was 
an    fruchtbarem    Bodem    vorhanden    ist:    Terrassierungen.      Oder 
Sammeln    der    umherliegenden    Gesteinsbrocken,    um    pflügen   zu 
können,  zu  Steinwällen,  die  zugleich  Feldergrenzen  und  zugleich 
Schutz   gegen   Wind   und    VVeidevieh    bilden.      Diese    erzwungene 
Arbeit   der  Menschen   wird    also    das    Landschaftsbild    in    hohem 
Grade   beeinflussen.     Was   von   Wind    und  Regen    davon    geführt 
wird,  wird  sich  in  Vertiefungen  sammeln  bzw.  zur  Bildung  einer 
Küstenebene  beitragen.    Da  diese  tiefer  gelegenen  Gebiete  natur- 
gemäß auch  wasserreicher  sein  werden,  so  werden  sie  sich  durch 
üppige  Vegetation  oasenartig  inmitten  der  felsigen  Umgebung  abheben. 
Wird,  wie   in  allen  Kalkgebieten,   die  Tätigkeit  des  rinnen- 
den  und    chemisch    auflösenden  Wassers  vorzugsweise    unter   die 
Landesoberfläche   verlegt,    so    wird    sich    ein    gewisser   Höhlen- 
reichtum entwickeln.     Palästina  ist  daher  ein  besonders  höhlen- 
reiches Land.    Überall  sind  solche  vorhanden,  oft  in  großer  Aus- 
dehnung, in  Gruppen  vereinigt,  durch  Kunst  erweitert,  zugänglich 
und   wohnlich    gemacht,    ja    selbst   durch    Zisternen   dauernd   mit 
Wasser  versehen,  vielfach  mit  Spuren    längerer  Benutzung  seitens 
der  Menschen.     Höhlen  werden  in  der  Geschichte  Palästinas  als 
Zufluchtsstätten  Verfolgter  und  Heimatloser  sehr  oft  erwähnt,  sie 
dienten  als  Einsiedeleien,  als  Gräber,  als  Wohnstätten,  als  Festungen; 
ganze  Höhlendörfer   sind    nachgewiesen    und    noch    heute    dienen 
sie  vielfach  zur  Ergänzung   der  Häuser   als  Ställe,  Vorratsräume, 
Werkstätten  u.  dgl.,  wie  das  jedem  Pilger  bekannte  Dorf  Siloah, 
dicht  bei  Jerusalem  am  östlichen  Felshange  des  Kidrontales,  ein 
halbes  Höhlendorf,  zeigt.  Ähnlich  ist  es  im  vulkanischen  Hauran,  wo 
sich  auch  ganze  Höhlendörfer  finden.    Es  dürfte  das  Vorkommen 
dieser  trocknen,  besonders  im  regenreichen  Winter  dem  Zelt  weit 
vorzuziehenden   Höhlen    die    aus    den  Wüsten-   und  Steppenland- 
schaften  ringsum  eingewanderten  Nomaden    zur  Seßhaftigkeit  ge- 
führt haben,  so  daß  die  Höhlenwohnungen,  die  durch  eingefügte 
Steine,  durch  Bearbeitung   der  Felswände  wohnlicher   zu  machen 
nahe    lag,    den   Übergang   vom    Zelt    zum    Steinbau    vermittelten. 
Ist    schon    der    häufige    Wechsel    fester   Kalkbänke    und    weicher 
Schichten    der   Bildung  von   Höhlen   günstig,    so    leitete    derselbe 
auch   an,    künstUch   unterirdische   zistemenähnliche   Vorratsräume, 
Silos,    wie   man   sie   am   häufigsten  nennt,    zu  schaffen,  in  denen 
sich    Vorräte   von    Weizen,    Gerste,    Öl  u.  dgl.   jahrelang   trocken 


—     öo     

aufbewahren  ließen,  die  Öffnungen  sorgsam  versteckt  und  ver- 
schlossen, so  daß  nur  der  Besitzer  sie  kannte.  Wie  im  Altertum, 
so  bedient  man  sich  noch  heute  solcher  Silos.  Wenn  Kriegs- 
stürme durch  das  Land  brausten,  waren  so  nicht  nur  die  Vor- 
räte vor  dem  Feinde  sicher  geborgen,  nein,  die  Bewohner  selbst 
und  ihr  Vieh  fanden  in  den  weitverzweigten  Höhlen  sichere  Zu- 
fluchtsstätten, in  die  sie  zu  verfolgen  sehr  schwer  war.  Noch  die 
Kreuzfahrer  hatten  mit  den  in  solche  Höhlen  geflüchteten  Be- 
wohnern schwere  Kämpfe  zu  bestehen,  namentlich  wenn  die  Öff"- 
nungen  derselben  an  den  steilen  Wänden  der  tiefen  Erosions- 
schluchten lagen.  Nur  in  Holzkästen,  die  an  Ketten  an  den 
Felswänden  herabgelassen  wurden,  konnten  die  Angreifer  den 
Höhlenleuten  beikommen.  Immer  ein  beträchtlicher  Teil  der 
Landesbewohner  konnte  so  in  Kriegsstürmen  unter  der  Erdober- 
fläche verschwinden  und  wieder  hervortreten,  wenn  die  Gefahr 
vorüber  war.  Es  mag  wenigstens  die  Vermutung  ausgesprochen 
werden,  daß  dieser  Zug  der  Landesnatur  dazu  beigetragen  hat, 
um  die  vorisraelitische  Urbevölkerung  zu  erhalten,  die  nach  Cler- 
mont-Ganneau  noch  heute  den  Grundstock  der  Landbevölkerung 
von  Palästina  bildet.  Eine  andere  Erklärung,  die  schon  hier 
Platz  finden  möge,  geht  allerdings  dahin,  die  Israeliten,  die  ja 
als  Nomaden  in  das  Land  einzogen,  hätten  die  Kanaaniter  ge- 
schont, schon  um  die  Bebauung  des  Landes  nicht  zu  unter- 
brechen. 

In  dem  ganzen  Bereiche  der  großen  Wüstentafel  hat  die 
ganze  Reihe  der  sedimentären  Schichten  die  ursprüngliche  Tafel- 
lagerung ganz  oder  nahezu. bewahrt,  wie  man  in  Palästina  überall 
bei  den  Kreideschichten  deutlich  erkennen  kann,  wo  dieselben 
in  Schluchten  und  an  Steilabstürzen,  beispielsweise  in  ungeheurer 
Mächtigkeit  (300  m)  am  Djebel  Karantal  westlich  von  Jericho, 
aufgeschlossen  werden.  Keine  Faltung  hat  in  dem  ganzen  un- 
geheuren Gebiete  Gebirge  geschaff'en  wie  etwa  der  Faltenjura 
der  Schweiz.  Die  Schichten  sind  nur  gehoben  und  Tafelland, 
die  Form  der  Hochfläche,  ist  überall  und  so  auch  in  Palästina 
die  bodenplastische  Grundform.  Eine  Gliederung  der  Tafel  im 
großen  ist  nur  bei  in  späterer  Zeit  eingetretenen  Bewegungen 
auch  dieser  Teile  der  Erdkruste  durch  Bildung  von  Brüchen  und 
auf  solchen  sich  vollziehenden  Verschiebungen  der  so  ausgeson- 
derten Schollen  in    der  Senkrechten   erfolgt.     Dadurch  ist  örtUch 


die  ungeheure  Einförmigkeit  der  Wüstentafel  um  so  mehr  ge- 
mildert, als  infolge  dieser  Verschiebungen  in  der  Senkrechten 
einzelne  Schollen  so  bedeutende  Höhe  erlangten,  daß  sie  in  hohem 
Maße  als  Verdichter  der  atmosphärischen  Wasserdämpfe  wirkten, 
so  daß  diese  Teile  der  großen  Wüstentafel  niederschlagsreicher 
wurden  und  an  ihnen  die  zerstörenden  Kräfte  des  Luftkreises, 
die  nagenden  Gewässer  in  ganz  anderer  Weise  in  Wirksamkeit 
treten  konnten.  Namentlich  sind  der  großen  Tafel  sog.  Graben- 
brüche eigen,  wie  an  solche  das  Rote  Meer  und  die  ostafrika- 
nischen Seen  gebunden  sind,  wo  also  auf  Systemen  hier  vorzugs- 
weise in  Meridianrichtung  verlaufender  Bruchspalten  Teile  der 
Erdkruste  in  langen  Streifen  in  die  Tiefe  gesunken  und  langen 
Gräben  ähnliche  Hohlformen  entstanden  sind,  die  in  jeder  Hin- 
sicht unserer  mittelrheinischen  (fälschlich  oberrheinisch  genannten) 
Tiefebene  verglichen  werden  können.  Hier  kommt  nur  der  sog. 
syrische  Graben  in  Betracht,  durch  dessen  Bildung  ein  Teil  der 
Kreidetafel  zu  einem  Gebiet  mit  ausgeprägten  Sonderzügen  in- 
dividualisiert worden  ist:   Syrien. 

Von  der  Südspitze  des  Sinai,  wo  er  in  den  erythräischen  ein- 
mündet, setzt  sich  der  syrische  Graben  durch  den  Golf  von  Akabah, 
bald  durchaus  in  die  Kreidetafel  eingesenkt,  bis  an  den  Südfuß 
der  ganz  andere  Oberflächenformen  (Klein-Asiens)  bedingenden 
taurischen  Faltenlandes  an  der  Nordgrenze  Syriens  fort.  Somit 
ganz  Syrien  durchsetzend,  als  Hohlform  einheitlich,  wenn  auch 
gewiß  nicht  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  einheitlicher  und  gleich- 
zeitiger Entstehung,  ist  der  syrische  Graben  hydrographisch  drei- 
geteilt, weil  die  Streifen  der  Erdrinde  nicht  überall  zu  gleicher 
Tiefe  absanken  und  namentlich  an  der  dadurch  mit  bestimmten 
Nordgrenze  von  Palästina  zwischen  Libanon  und  Antilibanon  einer 
derselben  eingeklemmt  eine  bedeutende  Höhe  behielt.  Dies  ist  der 
Merdsch  Ajun,  die  Wiese  der  Quellen,  eine  600 — 700  m  hohe 
Hochfläche,  welche  die  Wasserscheide  zwischen  dem  Nähr  Kasi- 
mijeh,  dem  Flusse  INIittelsyriens  imd  dem  Jordan  bildet,  nach 
Norden  in  den  zwischen  Libanon  und  Antilibanon  eingeschalteten, 
aber  schon  mehr  zu  letzteren  gehörigen  Djebel  ed  Dahr  über- 
geht. In  Nordsyrien  wird  dieser  Graben  Ghab,  in  Mittelsyrien 
Bika,  in  Südsyrien  Ghor  und  in  dessen  Fortsetzung  bis  zum 
Golfe  von  Akabah  ErAraba  genannt.  Die  Tierwelt  des  Ghor 
wenigstens  weist  noch   auf  von  den  heutigen  völlig  abweichende, 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  6 


also  aus  der  geologischen  Vorzeit  hier  erhaltene  Beziehungen  hin. 
Von  14  Arten  Fische  im  See  von  Galiläa  sind  die  meisten  mit 
solchen  des  Nils  identisch,  die  übrigen  afrikanischen  Charakters. 
Schon  im  Altertume  hatte  man  die  Übereinstimmung  der  Fisch- 
fauna des  Jordans  mit  der  des  Nils  erkannt.  Auch  die  Vogel- 
fauna des  Ghor  weist  tropische  Beziehungen  auf,  am  auffälligsten 
in  einem  dem  Kolibri  ähnlichen  Honigvogel. 

Der  syrische  Graben  ist  gewissermaßen  die  negative  Achse, 
die  bodenplastische  Charakterform  Syriens.  Fast  will  es  scheinen, 
als  hätten  sich  die  Landesbewohner  selbst  eine  der  Wahrheit 
nähernde  Vorstellung  von  der  Entstehung  des  Ghor  gemacht,  da 
die  Gegend  des  Toten  Meeres  in  älteren  Zeiten  und  im  Koran 
El  Mutafika,  der  ,, Einsturz",  genannt  wird.  Zu  beiden  Seiten 
des  Grabens  liegt  nun  die  syrische  Kreidetafel  in  durchaus  un- 
gestörter oder  nur  wenig  gestörter  Lagerung  der  Schichten.  Nur 
dadurch  werden  verschiedene  Oberfiächenformen  bedingt  und 
größere  Landesteile  überhaupt  individualisiert,  daß  an  verschie- 
denen Punkten  der  nordsüdlichen  Erstreckung  die  Verschiebungen 
der  noch  durch  Querbrüche  voneinander  gesonderten  Schollen- 
stücke in  der  Senkrechten  von  verschiedenem  Betrage  waren, 
vielleicht  in  verschiedenem  Sinne  erfolgten. 

Den  höchsten  Betrag  erreichten  diese  Verschiebungen  in 
Mittelsyrien,  wo  dadurch  unter  Hervortreten  selbst  der  Jura- 
schichten  und  auch  sonst  besonders  petrographisch  etwas  ab- 
weichende Züge  ein  ganzes  Gebirgssystem  (die  mittelsyrischen 
Horste,  wenn  nicht  ein  in  der  Mitte  eingebrochenes,  an  den  Flan- 
ken verworfenes  Gewölbe)  entstanden  ist,  Libanon  und  Anti- 
libanon,  und  selbst  die  Sohle  des  Grabens  (Cölesyrien,  Bika)  in 
eine  Höhe  von  1000  m  gerückt  ist.  Mittelsyrien  trägt  daher  vor- 
wiegend den  Charakter  eines  Gebirgslandes,  ja  im  Libanon  gerade- 
zu einer  völkererhaltenden  Gebirgsfeste,  deren  mit  staunenswerter 
Steilheit  über  der  Küste  aufsteigende  Höhen  die  vom  warmem 
Mittelmeere  verdampften  Wassermengen  verdichten,  sie  in  fester 
Form  bis  gegen  Ende  des  Sommers  festhalten  und  in  zahlreichen 
daher  das  ganze  Jahr  fließenden  Bächen  und  Flüssen  in  die 
darum  herrlichen  Anbaus  fähige  Umgebung  hinab,  zum  Teil  so- 
gar in  Längsflüssen  weit  weg,  durch  ganz  Syrien,  bis  nahe  an 
seine  Nord-  wie  an  seine  Südgrenze  senden,  eine  Umgebung,  die, 
soweit  sie  im  Regenschatten    der   hohen  Gebirgswälle  liegt,  ohne 


-     83     - 

diese  Möglichkeit  künstlicher  Berieselung  schon  auf  50  km  vom 
Mittelmeer  Wüste  ist.  Ist  doch  die  von  den  Wüstenbewoh- 
nern so  viel  gepriesene  Berieselungsoase  von  Damaskus,  ein  ur- 
alter Brennpunkt  menschlicher  Gesittung  mitten  in  der  Wüste, 
von  Berut  jetzt  mit  der  Eisenbahn  in  neun  Stunden  erreichbar, 
kaum  90  km  in  Luftlinie,  so  weit  wie  Heidelberg  von  Frankfurt, 
vom  Mittelmeer  entfernt.  Der  südlichste  und  höchste  Gipfel  des 
Antilibanon,  der  Hermon  (275g  m)  an  der  Nordgrenze  Palästinas, 
ist  daher  namentlich  während  seiner  schon  seit  Salomons  Zeiten 
bis  in  den  Hochsommer  dem  Lande  Schnee  zur  Kühlung  der 
Getränke  liefernden  Schneebedeckung  als  Wolkenverdichter  auch 
für  dieses  Land  von  größtem  Werte.  Er  erscheint  deshalb  in  der 
Bibel  als  dem  Landmann  und  dem  Hirten  teuer  (Tau  vom  Her- 
mon), dem  Dichter  und  Propheten  liefert  er  die  schönsten  Gleich- 
nisse und  Symbole,  an  ihm  liegen  die  Quellen  des  Jordan. 

Wie  die  syrische  Grabenversenkung  naturgemäß  überall  die 
Gewässer  an  sich  zieht,  so  besitzt  auch  Mittelsyrien  im  Litani 
einen  etwas  größeren  Fluß.  Derselbe  bricht  auch,  gleich  dem 
nordsyrischen  Orontes,  durch  die  großen  Höhenunterschiede  in 
seiner  Erosionskraft  bestärkt,  zum  Meere  durch,  aber  in  einer 
tiefen,  engen,  als  Verkehrsweg  unbrauchbaren  Schlucht,  die  in 
dem  Kalkgebirge  ursprünglich  wohl  streckenweise  eine  unter- 
irdische Rinne  gewesen  sein  mag,  wie  eine  noch  stehengebliebene, 
vom  Verkehr  benutzte  mächtige  Naturbrücke  bezeugt.  Mittel- 
syrien ist  daher  von  der  Natur  selbst  nicht  zum  Durchgangslande 
des  Verkehrs,  weder  von  Ost  nach  West,  noch,  von  der  Ost- 
grenze abgesehen,  von  Nord  nach  Süd  bestimmt.  Aber  an  ein- 
zelnen dem  Seeverkehr,  im  Altertum  wenigstens,  günstigen  Küsten- 
punkten konnten  sich  inmitten  einer  reichen  Umgebung  große 
Mittelpunkte  des  Seeverkehrs,  Tyrus,  Sidon,  Berut  entwickeln, 
welche  die  natürlichen  Hindernisse  überwindend  auch  den  Ver- 
kehr aus  dem  Innern,  namentlich  den  Brennpunkten  des  Kara- 
wanenverkehrs, den  Oasenstädten  Damaskus  und  Palmyra  an  sich 
zogen.  Mittelsyrien,  ein  Gebirgsland  mit  relativ  guten  Beziehungen 
zum  Meere,  ist  daher  als  der  am  reichsten  ausgestattete  Teil 
Syriens,  als  ein  Land  der  Gegensätze,  am  frühesten  zu  hoher 
Gesittung  emporgestiegen  und  hat  sich  auch  in  der  Geschichte 
als  der  noch  am  ehesten  zu  politischer  Selbständigkeit  und  zur 
Herrschaft    in    Syrien    berufene   Teil    erwiesen.     Es    hat    sich    zu 

6* 


-     84     - 

einem  der  ältesten  Sitze  des  Handels,  zunächst  des  Seehandels, 
und  zwar  eher  zu  einem  Ausgangs-  als  zu  einem  Durchgangs- 
punkte desselben  entwickelt.  Und  an  den  Handel  schloß  sich 
eine  auch  ursprünglich  bodenständige  Gewerbetätigkeit  an.  Seine 
Bewohner  ließen  ihre  Blicke,  im  grellsten  Gegensatze  zu  denen 
Palästinas,  über  die  ganze  damals  bekannte  Erde  schweifen,  den 
Holländern  der  letzten  drei  Jahrhunderte  in  mancher  Hinsicht 
vergleichbar. 

Dagegen  ist  Nordsyrien  ein  ausgezeichnetes  Durchgangsland 
in  westöstlicher  wie  in  nordsüdlicher  Richtung.  Hier  weist  näm- 
lich der  dem  Ostflügel  gegenüber  wesentlich  höhere  Westflügel 
der  syrischen  Kreidetafel  bei  überhaupt  geringerer  Höhe  des 
ganzen  Landes  zwei  tiefe  Querfurchen  auf,  durch  welche  man 
bequem  aus  dem  Innern  ans  Mittelmeer  gelangt:  die  schon  im 
taurischen  Faltensysteme  gelegene,  sich  drüben  in  der  kyprischen 
Messaria  fortsetzende  Mulde,  durch  welche  der  Fluß  Nordsyriens, 
der  El  Asy,  aus  dem  nordsyrischen  Graben  zum  Mittelmeere  ent- 
schlüpft, und  die  sogenannte  Senke  von  Homs,  ein  mit  jungen 
vulkanischen  Ausbruchsmassen  zum  Teil  ausgefüllter  Querbruch, 
welcher  den  Libanon  vom  nordsyrischen  Ansairiergebirge  trennt 
und  der  bei  weitem  wichtigsten  Straße  dient,  welche  vom  alt- 
phönikischen  Tripolis  und  den  phönikischen  Küstenstädten  über- 
haupt nach  den  Euphratländern  führt.  Dazu  kommt,  daß  die 
Tiefe  des  nordsyrischen  Grabens  geringer,  derselbe  also  leicht  zu 
überschreiten  ist,  und  daß  die  beiden  Schenkel  des  größten  Stromes 
von  Vorderasien,  des  Euphrat,  eines  der  an  Wert  für  den  Men- 
schen überhaupt  am  höchsten  stehenden  Ströme,  hier  auf  das 
Mittelmeer  zielen  und  sich  diesem  auf  150  km  (Leipzig — Gotha) 
nähern,  da  von  Nordsyrien  aus  und  durch  Nordsyrien,  ja  fast 
nur  durch  Nordsyrien  auch  die  bequemsten  Wege  von  Arabien, 
Mesopotamien,  dem  Persischen  Meerbusen,  Indien  und  Iran  nach 
Kleinasien  führen.  Es  gehen  also  durch  Nordsyrien  die  wichtig- 
sten Landstraßen  des  Welthandels,  bzw.  es  münden  dieselben 
hier  an  das  sie  nach  Westen  als  Seestraßen  fortsetzende  Mittel- 
meer, und  zwar  stets,  wenn  nicht  geschichtliche  und  politische 
Verhältnisse  hindernd  dazwischentreten,  in  die  phönikischen  See- 
städte aus,  da  an  der  Mündung  des  Orontes  nur  Kunst  und  ein 
mächtiges  Staatswesen  einen  Hafen  (Seleukia)  schaff"en  und  er- 
halten kann,   die  unsichere  Reede  von  Iskanderun  dadurch,   daß 


-     85     - 

dort  das  Küstengebirge  unschwer  zu  überschreiten  ist,  immer  nur 
als  Notbehelf  eintreten  kann.  Heute  und  besonders  seit  Eröffnung 
des  Suezkanals  haben  diese  Welthandelsstraßen  und  die  syrischen 
Seestädte  an  Bedeutung  verloren,  aber  sie  können  jeden  Augen- 
blick, wie  schon  die  Besetzung  des  bis  1571  venetianischen  Ky- 
perns  durch  die  Engländer  zeigt,  bei  Schließung  des  Kanals  oder 
neben  demselben  Nordsyrien  zu  einem  Angelpunkte  der  Welt- 
politik machen.  Hier  lagen  daher  in  den  verschiedensten  Zeiten 
Groß-  bzw.  Welthandelsstädte:  Palmyra,  der  Knotenpunkt  aller 
Karawanenwege  vom  Euphrat  her,  die  von  hier  zum  svTischen 
Gestade  ausstrahlten,  Antiochien  und  seine  kurzlebige  künstliche 
Hafenstadt  Seleukia,  Aleppo,  die  Nachfolgerin  von  Palmna. 

Das  ausgezeichnete  Durchgangsland  Nordsyrien  lenkte  also 
den  Verkehr  von  Palästina  ab,  das  Gebirgsland  Mittelsyrien  bildet 
auch  einerseits  eine  Schranke  des  Verkehrs  gegen  Palästina  hin 
und  bewirkt,  daß  auch  noch  die  Landstraßen  sich  sowohl  als 
solche  wie  als  Wasserstraßen  an  Palästina  vorbei  fortsetzen,  da 
südlich  von  Tyrus  der  Libanon  so  steil  zum  Meer  abstürzt,  daß 
nur  eine  schwierige  Gebirgsstraße,  die  Scala  Tj-riorum,  deren  ur- 
alt geschichtliche  Bedeutung  von  Felsinschriften  bezeugt  wird, 
längs  des  Meeres  Phönikien  mit  Palästina  verband  und  man  dort 
am  Ras-en-Nukra  auch  am  besten  die  Grenze  zwischen  beiden 
ansetzt. 

Brandend  ergossen  sich  immer  und  immer  wieder  die  Völker- 
wogen Linerasiens,  die  den  Weg  nach  Westen  südlich  vom  Kaspischen 
Meere  genommen  hatten,  vom  Euphratknie  her  über  Nord-,  schon 
geschwächt  wohl  auch  über  Mittelsyrien,  dessen  reiche  Seestädte 
freilich  als  lockende  Ziele  der  Bewegung  einen  neuen  Anstoß 
gaben.  Nach  Südsyrien  dagegen  gelangte,  wie  in  seitwärts  ge- 
legene stille  Buchten,  nur  die  schwache  Dünung  der  allerheftig- 
sten  Stürme,  Etwas  engere  Beziehungen  unterhielt  derselbe  aber 
andererseits  zu  Arabien,  das  aber  der  Ausgangspunkt  nur  eines 
geschichtlich  wichtig  gewordenen  Völkerstromes  gewesen  ist,  und 
zu  dem  ruhigen,  Licht  ausstrahlenden  Kulturherde  Ägypten. 

Südsyrien,  Palästina,  ist  somit  weder  ein  Durchgangsland 
von  der  Wüste  und  ihren  Hinterländern  zum  Meere,  noch  auch 
eigentlich  von  Norden  nach  Süden,  wenn  auch  ganz  Syrien,  dank 
den  früher  angedeuteten  Krustenbewegungen  zum  Kulturlande 
geworden,    auf    den    ersten   Blick    als    eine   von    Kleinasien    und 


—     86     — 

Mesopotamien  nach  Arabien  und  Ägypten  zwischen  Wüste  und 
Meer  geschlagene  Brücke  des  Verkehrs  erscheint  und  es  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  auch  ist.  Der  syrische  Graben  erreicht 
im  Ghor  nicht  nur  seine  größte  absolute  Tiefe,  auf  dem  Grunde 
des  Toten  Meeres  8oo  m  unter  dem  Meeresspiegel,  sondern  auch 
seine  größte  relative  Tiefe,  1200  m  und  mehr  unter  den  an- 
grenzenden Hochflächen.  Überdies  ist  dieser  Graben  von  einem 
reißenden  Flusse  durchströmt  und  auf  reichlich  ein  Drittel  seiner 
Erstreckung  mit  langen  schmalen  Seen  erfüllt,  die  sich  zu  allen 
Zeiten  als  noch  größere  Hemmnisse  des  Verkehrs  erwiesen  haben. 
Von  Osten  kommend  steigt  man  steil  wie  von  Brockenhöhe  durch 
gewundene,  enge,  kaum  gangbare  Felsenschluchten  in  den  Graben 
hinab,  um  nach  Überschreitung  des  reißenden  Jordan  noch  steiler 
ebensohoch  auf  das  Westjordanland  emporzusteigen.  Die  Ge- 
wässer des  größten  Teils  von  Palästina  sammeln  sich  in  dieser 
tiefen  Kerbe  der  Erdrinde,  um  in  dem  bittersalzigen  und  schon 
dadurch  geringwertigen  Toten  Meere  zu  verdunsten:  der  Fluß 
Südsyriens  hat  keinen  Ausweg  zum  Meere,  er  öffnet  das  Land 
nicht  —  sei  er  auch  nur  in  so  geringem  Maße  schiffbar  wie  es 
der  Orontes  in  der  besten  Zeit  bis  Antiochien  war  —  in  breitem 
Tale  zur  Wiege  aller  höheren  Gesittung,  zum  Mittelmeere,  oder 
zur  Welthandelsstraße  des  Roten  Meeres.  Dies  ist  einer  der 
wichtigsten  unter  den  geographischen  Grundzügen  Palästinas,  die 
dem  Lande  den  Charakter  der  Verschlossenheit  aufprägen.  Wenn 
der  Jordan  in  den  Golf  von  Akabah  mündete,  würde  Palästina 
sofort  zu  einem  Durchgangslande  wie  Ägypten.  Mündete  er  ins 
Mittelmeer,  so  besäße  das  Land  von  dort  aus  einen  breiten,  be- 
quemen Zugang,  es  stände  dazu  in  den  engsten  Beziehungen  zu 
dem  mediterranen  Kulturkreise,  besonders  Ägypten,  es  wäre  nicht 
bloß  ein  Land  des  Ackerbaues,  sondern  auch  ein  Sitz  des  Han- 
dels. Von  seiner  beschaulichen  Abgeschlossenheit  wäre  wenig 
übrig. 

Auch  sonst  ist  Palästina,  wie  wir  schon  angedeutet  haben, 
aber  noch  weiter  ausführen  werden,  felsig  und  tief  durchschluchtet, 
am  meisten  Judäa,  ein  an  und  für  sich,  aber  namentUch  für  das 
Kamel,  noch  heute  das  wichtigste  Beförderungsmittel  dieser  Län- 
der, schwer  gangbares  Land.  Alle  Flußtäler  Palästinas  sind  ent- 
sprechend dem  herrschenden  Trockenklima  mehr  oder  weniger 
kanonartig.    Auch  die  größte  vorhandene  Ebene,   die  von  Jesreel, 


_      87     - 

mit  der  ihr  genetisch  entsprechenden  einzigen  flachen  Einbuchtung 
der  Küste,  nach  Akka  oder  Haifa  benannt,  beide  an  einen  dem 
von  Homs  vergleichbaren  Querbruch  gebunden,  hat  für  den  Ver- 
kehr aus  dem  Innern  ans  Mittelmeer  nur  vorübergehende,  in  der 
allerneuesten  Zeit  und  der  Senke  von  Homs  weit  nachstehend  eine 
gewisse,   stets  geringe  Bedeutung  zu  erlangen  vermocht,  da  auch 
hier  noch,    trotzdem   die  Schwelle  von  Serin  (Jesreel)  nur   123  m 
hoch   hegt,  der  Jordan  400  m   unter  derselben  fließt.     Der  Ver- 
kehr von  Damaskus  nach  Arabien  ging  ungefähr  auf  der  Grenze 
des    Kulturlandes    und    der    Wüste    im    Verlauf    des    römischen 
Limes,  wie  noch   heute  die  Straße  (Eisenbahn)    der  Mekkapilger, 
auf  der  Ostgrenze  an  Palästina  vorüber,    in  einem   mittleren  Ab- 
stände von   50  km  vom  Ghor,  da  wo  keine  tief  eingeschnittenen 
Flußtäler,    die    das    Ostjordanland   kennzeichnen,    mehr    zu   über- 
schreiten' sind.     Ja    selbst   ein   großer   Teil,    zeitweilig   wohl   der 
größte  Teil  des  Verkehrs  von  Damaskus   nach  Ägypten    benutzte 
diesen  Weg,  von  dem  sich  erst  weit   im  Südosten  von  Palästina, 
da  wo    der°  Graben   in    der   229  m   über   dem  Meeresspiegel   ge- 
legenen,  die  Gewässer  des  Ghor  von  denen  des  Golfs  von  Aka- 
bah  scheidenden  Schwelle  leicht  zu  überschreiten  war,  eine  West- 
straße   durch    die   kein   Hindernis    bietende    Wüste    Et  Tih   nach 
Ägypten  abzweigte.      Hier  entwickelte  sich  in  spätrömischer  Zeit, 
dem  goldenen  Zeitalter  Syriens,  Petra,    das   südliche  Gegenstück 
von  Palmyra,    zu    einem   Sitze   blühenden   Handels.     Aber    selbst 
die  geradesten  Karawanenwege  von  Damaskus  nach  Ägypten,  die 
überdies  niemals,  eben  weil  die  phönikischen  Seestädte  den  Ver- 
kehr an  sich  zogen  und  zur  See  mit  Ägypten  vermittelten,  große 
Bedeutung  zu    erlangen  vermocht  haben,    gingen  des  schwierigen 
Geländes  wegen  nicht  durch  das  eigentliche  Palästina,  nicht  über 
Jerusalem,  das  niemals  als  Sitz  des  Handels  oder  der  Gewerbe- 
tätigkeit  eine   Rolle  gespielt   hat.     Die  Karawanen    überschritten, 
von    Damaskus    her    in    gerader    südwestlicher    Linie    das    Ghor 
querend,    den  Jordan  entweder  unmittelbar  südlich  vom  Hulesee 
auf  der  'jakobsbrücke  oder  unterhalb  des  Tiberiassees  und  such- 
ten durch  die  Ebene  Jesreel  und  über  dem  südöstlichsten  nied- 
rigen Karmel  so  rasch  wie   möglich   das  Meer   zu  erreichen  (Via 
M°aris),  dem  sie  auf  dem  Küstenwege  von  Phönikien  her  entweder 
unmittelbar  oder  auf  einem  dem  Fuße  des  Westjordanhochlandes 
näheren  Wege  über  Ludd  (Ramie)  nach  Gaza  folgten.    Die  Küste 


von  Palästina,  eine  in  wundervoll  regelmäßiger  Kurve  geschwungene 
Schwemmlandküste,  ist,  wie  jedes  auch  nur  wenig  geographisch 
geschulte  Auge  schon  daran  erkennen  wird,  eine  wahrhaft  eiserne 
Küste,  rein  von  Inseln,  ohne  jede  Bucht,  ohne  Landmarken,  ohne 
natürlichen  Schutz.  Eine  Meeresströmung  und  die  Luftströmungen 
der  kühleren  Jahreshälfte  führen  den  Verkehr  von  Ägypten  nach 
Phönikien,  die  Luftströmungen  der  günstigeren  Jahreshälfte  von 
Phönikien  nach  Ägypten  an  Palästina  vorüber,  und  wohl  mancher 
Pilger  hat  selbst  im  Zeitalter  der  Dampfschiffe  die  Unzugänglich- 
keit Palästinas  zur  See  am  eigenen  Leibe  erfahren,  wenn  der 
Kapitän  ihn  an  Jaffa,  wo  er  zu  landen  gedacht  hatte,  vorüber 
mit  nach  Berut  oder  Port  Said  entführte. 

So  erscheint  Palästina,  durch  kein  Flußtal  zum  Meere  ge- 
öffnet, zwischen  unwirtlicher  Wüste  im  Osten  und  im  Süden, 
einem  hafenlosen  Meere  im  Westen,  im  Norden  von  hohen  Ge- 
birgen überragt,  als  ein  völlig  abgeschlossenes  Land.  Und  in 
sich  besaß  es  auch  keine  Lockmittel,  auch  nur  wie  die  phöni- 
kischen  Seestädte,  hinter  deren  Mauern  der  Handel  Schätze  auf- 
gehäuft hatte,  die  große  Nachbarvölker  hätten  veranlassen  können 
es  gewaltsam  aus  seiner  Vereinsamung  herauszureißen.  Es  besaß 
keine  Edelmetalle,  keine  kostbaren  Gewürze,  die  zu  allen  Zeiten 
auch  kleinen  Ländern  große  Wichtigkeit  verliehen  haben,  ja  nicht 
einmal  so  fruchtbaren  Boden  wie  Ägypten  und  Mesopotamien. 

Nach  der  Gliederung  seiner  Oberfläche  als  echtes  Gebirgsland 
in  eine  ganze  Anzahl  kleiner  Landschaften  zerfallend,  entbehrte 
es  bei  ansehnlichen  Höhenunterschieden  und  bei  einem  gewissen 
Seenreichtum  der  Gegensätze,  der  Mannigfaltigkeit  der  Erzeugnisse 
und  überhaupt  der  Bedingungen  nicht,  welche  erforderUch  waren, 
damit  die  Bewohner  eine  höhere  Stufe  der  Gesittung  erklimmen 
konnten,  aber  die  Lockmittel  für  Eroberer  fehlten.  Klein  und 
arm,  war  Palästina  für  die  Syrer,  Assyrer,  Perser,  Ägypter, 
Römer,  Byzantiner  ein  entlegenes  Grenzland,  das  ihren  Kultur- 
einflüssen sich  nicht  völlig  zu  entziehen  vermochte,  über  welches 
ihre  Heere  einem  Sturmwinde  gleich  dahinbrausten,  das  sie  brand- 
schatzten, zu  Tributzahlungen  zwangen,  das  sich  aber  völlig  ein- 
zuverleiben nur  den  Römern  hinreichend  lohnend  oder  notwendig 
erschien.  Bequemer  war  es,  die  Bewohner  dieses  entlegenen 
Grenzlandes  in  das  eigene  Land  gewaltsam  zu  übersiedeln.  Dies 
erklärt    auch,    daß    die    Nachrichten,    welche   wir    in    den   Über- 


—     89     - 

lieferungen  der  umwohnenden  hochgesitteten  Völker  des  Alter- 
tums bis  zu  den  Griechen  finden,  so  überaus  dürftige  sind. 
Erst  bei  den  Römern  fließen  sie  etwas  reichlicher  (nach  Josephus), 
am  reichlichsten  freilich  auf  den  zahlreichen  Denkmälern,  beson- 
ders den  Inschriften  aus  spätrömischer  Zeit,  die  neben  den 
schlichten  wahrhaftigen  Schilderungen  der  Bibel  die  besten  Quellen 
zur  Landeskunde  von  Palästina  im  Altertum  sind. 

In  dieser  inselartigen  Abgeschlossenheit,  in  dieser  weltent- 
rückten Beschaulichkeit  eines  lediglich  Ackerbau  und  Viehzucht 
treibenden  Volkes,  das  sich  in  seiner  Abgeschlossenheit  und 
Selbstgenügsamkeit,  wie  vielfach  abgeschlossene  Völker  als  das 
auserwählte  ansah,  konnte  sich  ein  Volk  mit  scharf  ausgeprägten, 
nie  mehr  verwischten  nationalen  Zügen,  mit  eigenartigem  Geistes- 
leben entwickeln,  als  dessen  höchstes  Erzeugnis  wir  die  jüdische 
Religion,  das  aus  derselben  hervorgegangene  Christentum  und 
den  von  beiden  in  hohem  Grade  beeinflußten,  ebenfalls,  ja  noch 
schärfer  monotheistischen  Islam  ansehen  können.  Aber  die  Er- 
zeugnisse dieses  Geisteslebens  konnten  sich  in  einem  gegebenen 
Augenblicke  von  diesem  Punkte  der  Erdoberfläche  aus  rasch 
nach  allen  Himmelsrichtungen  hin  verbreiten,  nachdem  eine  Art 
Weltkultur,  die  griechisch-römische,  seit  Alexander  dem  Großen 
sich  Bahn  zu  brechen  und  die  Völker  einander  zu  nähern  be- 
gonnen hatte,  somit  auch  Palästina  von  außen  her  und  gewaltsam 
aus  seiner  Vereinsamung  gerissen  war,  auch  im  Neugriechischen 
ein  ausgezeichnetes  Verständigungsmittel  geschaff"en  war,  das  das 
Hebräische  und  Aramäische  in  den  Hintergrund  drängte.  Durch 
die  Römer,  zuerst  und  allein  in  einer  mehr  als  3000jährigen 
Geschichte,  war  Palästina,  durch  künstliche  Häfen  (Cäsarea),  durch 
mühsam  angelegte  und  sorgsam  unterhaltene  Straßen,  durch  An- 
legung von  Militärkolonien,  von  einem  Gürtel  von  Kastellen  ge- 
schützt, dem  bewundernswerten  Organismus  ihres  Reiches,  wenn 
auch  erst  nach  Überwindung  eines  unerhört  zähen  Widerstandes, 
eingefügt  worden.  Durch  die  Römer,  wenn  auch  erst  in  spät- 
römischer Zeit  und  mehr  im  Gewände  griechischer  Gesittung,  ist 
Palästina  zu  höchster  Blüte  emporgestiegen,  ganz  und  voll  in  die 
Bewegung  der  damaligen  Zeit  hineingezogen  worden:  eine  für 
die  Ausbreitung  des  Christentums  und  in  den  Folgewirkungen 
für  das  Land  selbst  bis  auf  den  heutigen  Tag  hochbedeutsame 
Tatsache.     Denn  nun,  um  in  Karl  Ritters  Sprache  zu  reden,  als 


—     go    — 

die  Zeit  vollendet  war,  als  Palästina  die  Aufgabe  gelöst  hatte, 
die  ihm  die  göttliche  Vorsehung  von  vornherein  zugeteilt  hatte, 
trat  ein  anderer  zu  dem  der  Abgeschlossenheit  in  wunderlicher 
Weise  gegensätzlicher  Charakterzug  Palästinas  in  Wirksamkeit: 
seine  Lage  mitten  zwischen  und  in  größter  Nähe  der  größten 
Welthandelsstraßen,  welche  die  Mitternacht-  und  Abendseite  der 
Alten  Welt  mit  ihrer  Mittag-  und  Morgenseite  verbanden,  die  durch 
Nord  Syrien  und  den  Persischen  Meerbusen  einer-,  durch  Ägypten 
und  das  Rote  Meer  andererseits.  Den  Herren  dieser  Welthandels- 
straßen hielt  Palästina  keine  Lockmittel  entgegen,  aber  die  Be- 
wohner von  Palästina  selbst  waren  imstande,  ihre  Erzeugnisse, 
stoifliche  und  geistige,  in  den  Weltverkehr  zu  bringen.  Diese  Lage 
an  der  Südostecke  des  eine  große  Westoststraße  bildenden  Mittel- 
meeres, von  welcher  die  Straßen  durch  das  Rote  Meer  und  von 
Nordsyrien  durch  den  Persischen  Meerbusen  nach  Indien,  die 
Landstraßen  durch  Iran  und  Zentralasien  nach  China  ausgingen, 
erwies  sich  zunächst  der  raschen  Ausbreitung  der  Juden  und  des 
Judentums  etwa  seit  und  um  Beginn  unserer  Zeitrechnung  förder- 
lich: bis  nach  Abessinien,  Südarabien  und  Indien,  andererseits 
nach  Ägypten,  wo  sich  wohl  vorzugsweise  in  der  Welthandelsstadt 
Alexandria,  wie  überhaupt  infolge  der  durch  die  Römer  herbei- 
geführten Zersprengung  des  nationalen  Staates  und  die  Zerstreuung 
des  Volkes  über  das  römische  Reich  und  geflissentliche  Ver- 
treibung aus  Palästina  die  Umwandlung  des  ursprünglich  der 
Natur  des  Heimatlandes  entsprechend  Ackerbau  und  Viehzucht 
treibenden  Volkes  in  ein  Plandelsvolk  vollzogen  haben  dürfte, 
nach  Barka,  wo  sie  ja  anfangs  des  2.  Jahrhunderts  n.  Chr.  nahe 
daran  waren,  ein  neues  Reich  zu  gründen,  und  weiter  durch 
Nordafrika  und  Südeuropa.  Die  Vertreibung  der  Juden  aus  Pa- 
lästina durch  die  Römer,  erst  nach  der  Zerstörung  Jerusalems 
durch  Titus,  dann  65  Jahre  später  nach  dem  Aufstande  des  Bar 
Kochba  (132 — 135  n.  Chr.),  nach  welchem  sogar  den  Juden  der 
Zutritt  nach  Jerusalem  untersagt  wurde,  ist  im  Grunde  nur  die 
letzte,  gründlichste,  teilweise  gewaltsame  Verpflanzung  oder  Massen- 
flucht der  Bewohner,  wie  solche  ja  schon  wiederholt  stattgefunden 
hatten.  Ebenso  verhielt  es  sich  mit  der  Ausbreitung  des  Christen- 
tums. Von  Alexandrien  aus  verbreitete  sich  dasselbe  längs  der 
heute  wieder  wichtigsten,  an  den  größten  Bruchgürtel  der  Erde 
gebundenen  Welthandelsstraße  durch  das  Rote  Meer  nach  Abes- 


—      gi       - 

sinien  und  Indien,  andererseits  durch  das  ganze  Mittelmeergebiet 
nach  Westen,  von  Nordsyrien  auf  den  Landstraßen,  auf  welchen 
die  Erzeugnisse  des  fernen  unbekannten  China  dem  Westen  zu- 
geführt wurden,  nach  Osten  hin,  durch  Vorderasien  bis  nach 
Zentral-  und  Ostasien,  seit  dem  7.  Jahrhundert,  wie  noch  heute 
die  sogenannte  Nestorianische  Tafel  von  Hsi-ngan-fu  und  ihre 
syrischen  Schriftzeichen  im  fernen  China  bezeugen.  Wenn  die 
rechtgläubigen  Kosmographen  des  Mittelalters,  allerdings  wohl 
mehr  aus  religiösen  Gründen,  Jerusalem  für  den  Mittelpunkt  der 
Welt  hielten  und  als  solchen  auf  ihren  Weltkarten  darstellten,  so 
war  dies  nicht  aller  geographischen  Begründung  bar. 

Zu   einer   mittleren   nordsüdlichen    Erstreckung   von   260  km, 
also  etwa  die  Entfernung  Frankfurt  a.  M.— Göttingen,   indem  wir 
die  Nordgrenze  von  Ras-en-Nukra   nach  Nordosten  zum  Hermon 
laufen   lassen,    etwa   in    der   mittleren   Breite   von    33°i5'^^  die 
Südgrenze  unter  3i*'N  ansetzen,  können  wir  die  westöstliche  Er- 
streckung zu    115  km  annehmen.    Dann  mag  Palästina  an  Größe 
(30000  qkm)    bei    der   Unsicherheit    der    zu    ziehenden    Grenzen 
etwa  einer  der  mittleren  Provinzen  Preußens  (Pommern)   ungefähr 
gleichkommen.     In  der  Tat  ist  in  Palästina  alles  klein   und  eng, 
die  Entfernungen  gering,  trotz  der   schlechten  Beförderungsmittel. 
Der   Anlage    nach   Tafelland    ist    es    heute    doch   vorwiegend    als 
Berg-  und  Hügelland  zu  bezeichnen,  das  durch  den  tiefen  Graben 
des  Ghor  in  zwei  allerdings  an  Größe  und  Bedeutung  ungleiche 
Hälften    zerlegt   wird:    das    West-    und    das    Ostjordanland.     Die 
dem    Westjordanland    vorgelagerte     Küstenebene    hinzugerechnet 
besteht  also  Palästina  aus  vier  einander  parallelen,  eng  aufeinander 
angewiesenen  und  einander  durch   gewisse  Sonderzüge  wirkungs- 
voll   ergänzenden    Landstreifen.     Die    Form    der  Hochebene    tritt 
nur    noch    hier   und    da   und    stets   in   geringer   Ausdehnung,    am 
meisten   in   dem   niederschlagsärmeren  Ostjordanlande  hervor,    in 
welchem    selbst    nach    Hüll,    welcher    das    Ostjordanland    als    ein 
flaches  Gewölbe   auffaßt,  die  wagerechte  Lagerung  der  Schichten 
streng  gewahrt  ist.    Denn  seit,   auch  geologisch  gesprochen,  recht 
langen  Zeiträumen  (Ende  der  Eozänzeit?)  arbeiten   die  zerstören- 
den Kräfte  des  Luftkreises  an  der  Modellierung  des  Landes,  die 
dann    durch    die    Bildung    des    östlichen    Mittelmeeres    und    der 
Grabenversenkung   nur   noch   rascher    fortschreiten  mußte.     Beide 
Ereignisse    smd   verhältnismäßig   jugendlichen  Alters,    sie  gehören 


—     92     — 

nach  E.  Sueß  und  nach  Blankenhorn  wohl  erst  dem  Beginn  der 
Quartärzeit  an.  In  Staffeln  sanken  die  zerstückten  Schollen  der 
Kreidekalktafel  auf  den  Bruchspalten  an  der  Westseite  zu  dem 
sich  ostwärts  erweiternden  Mittelmeere  hinab,  so  daß  man  noch 
heute  vielfach  von  der  Küste  aus  das  Hochland  in  regelmäßigen 
Stufen  ansteigen  sieht.  Ebenso  gegen  das  Ghor  hin.  Auf  dem 
Wege  von  Jerusalem  nach  Jericho  steigt  man  so  über  drei  Stufen 
von  der  Höhe  des  Tafellandes,  dessen  Rand  hier  in  dem  Jeru- 
salem noch  um  67  m  überragenden  Ölberge  noch  812  m  er- 
reicht, zu  der  1189  m  tiefer  gelegenen  Sohle  des  Grabens  hinab. 
Schon  Bethanien  liegt  in  steilem  Abstieg  400  m  unter  dem  Öl- 
berge. Von  da  bewegt  man  sich  über  eine  sanft  nach  Osten 
geneigte  Fläche  bis  etwa  mittewegs  Jerusalem — Jericho.  Dann 
steigt  man  wieder  steil  hinab  auf  eine  breite,  flachwellige  Hoch- 
ebene, auf  welcher  sehr  willkommen  als  Rastort  der  Chan  el  Ha- 
trura  liegt.  Von  diesem  aus  erreicht  man  im  dritten  steilen  Ab- 
stiege die  wüste  Sohle  des  Ghor  und  auf  derselben  das  noch 
250  m  tiefer  gelegene  Jericho.  Weiter  nach  Süden,  auf  dem 
Wege  vom  Hebron  zum  Toten  Meere  sind  vier  solcher  Stufen  zu 
überschreiten,  schärfer  ausgeprägt,  steiler,  noch  wilder  durch- 
schluchtet.  Am  steilsten  ist  der  letzte,  so  den  Rand  des  Gra- 
bens bildende  Abstieg  am  sogenannten  Djebel  Karantal,  dem 
Quarantania  Berge,  der  nordwestlich  über  Jericho  aufsteigt.  Dieser 
ist  von  der  zweiten  Hochfläche  aus  bequem  zu  erreichen,  bis  auf 
acht  Minuten  kann  man  zu  Pferde  herankommen,  während  er  von 
Jericho  aus  als  300  m  hohe,  fast  senkrechte  Wand  tafellagemder 
Schichten  erscheint,  die  von  zahlreichen  Höhlen  durchbrochen 
sind,  mit  den  Resten  an-  und  eingebauter  Kapellen,  Einsiede- 
leien, u.  dergl.,  welche,  da  heute  die  sie  verbindenden  Treppen  und 
Gänge  zerstört  sind,  meist  unzugänglich  an  der  Felswand  hängen. 
Auf  nur  21  km  Entfernung  in  Luftlinie  steigt  man  1200  m  hinab. 
Eine  gewaltige  vulkanische  Tätigkeit  entwickelte  sich  nament- 
lich in  Nordpalästina  auf  den  Bruchspalten  des  Ghor,  die,  wenn 
auch  wohl  kaum  bis  in  die  eigentlich  geschichtliche,  so  doch 
gewiß  bis  in  eine  dieser  naheliegenden  Zeit  angedauert  hat,  da 
die  jüngsten  Lavaströme  des  Dscholan  nach  Noetling  alt-alluviale 
Geröllschichten  des  Jordantales  bedecken  und  ähnlich  denen  der 
Eifel  schon  vorhandene  Täler  benutzten,  aus  denen  sie  aber  seit- 
dem  zum   großen  Teil    schon  wieder   ausgewaschen   sind.     Auch 


—     93     — 

die  häufigen,  heftigen  Erdbeben,  die  namentlich  dem  Ghor  folgen 
und  in  dessen  Umgebung  oft  ungeheure  Verwüstungen  (Zerstörung 
von  Tiberias  und  Safed  1837,  wo  5000  Menschen  umkamen) 
anrichten,  die  zahlreichen  heißen  Quellen  des  Ghor,  im  Flußbette 
des  linken  Jordannebenflusses  Jarmuk  auf  einer  Strecke  von 
2'^!^  Stunden  nicht  weniger  als  zehn,  sprechen  dafür,  daß  die  Bil- 
dung dieses  Grabens  nicht  weit  zurückreicht  und  noch  immer 
Bewegungen  dieser  noch  nicht  wieder  in  sich  verfestigten  Schollen 
der  Erdrinde  auf  den  Bruchspalten  stattfinden.  Der  Westflügel 
sank  zu  größerer  Tiefe  ab  als  der  Ostflügel,  es  überragt  daher 
das  Ostjordanland  noch  heute  nicht  nur  im  Süden,  sondern  auch 
im  Norden  das  Westjordanland  beträchtlich.  Eine  sehr  wichtige 
Tatsache.  Sowohl  im  West-  wie  im  Ostjordanlande  scheint  sich 
nämlich  die  Kreidetafel  auf  Querverwerfungen  (Ebene  Jesreel, 
daher  hier  im  Norden  großartige  vulkanische  Tätigkeit)  gegen  die 
Südgrenze  der  mittelsyrischen  Horste  hinzuneigen,  in  der  Weise, 
daß  dieselbe  im  Südosten  die  größte  Höhe  hat  und  dort  auch 
die  älteren,  die  Kreideschichten  unterteufenden  Gesteine  zutage 
treten.  Während  es  aber  im  Süden  zu  beiden  Seiten  des  Ghor 
nur  zu  ganz  geringfügigen  Durchbrüchen  jungeruptiver  Gesteine 
gekommen  ist,  bedecken  solche  im  Norden  die  Kreideschichten 
in  großer  Ausdehnung,  aber  vorwiegend  und  in  bei  weitem 
größerer  Mächtigkeit  im  Ostjordanlande,  so  daß  dieses  auch  im 
Norden  das  Westjordanland  weit  überragt.  Diese  vulkanische 
Tätigkeit  hat  also  auch  ihrerseits  wenigstens  in  Galiläa  und  in 
der  Nordhälfte  des  Ostjordanlandes  die  Oberflächenformen  beein- 
flußt, teils,  wo  es  sich  um  Deckenergüsse  handelt,  wie  zunächst 
östlich  vom  Tiberiassee  in  der  Landschaft  Dscholan,  im  Sinne 
der  Erhaltung  des  Tafellandcharakters,  teils,  wie  in  Galiläa  und 
im  Hauran,   durch  Bildung  von  Kuppen  und  Kuppengebirgen. 

Die  dem  Meere  zugekehrte  Seite  des  Westjordanlandes  ist 
naturgemäß  die  niederschlagsreichere.  Hier  mußte  die  allgemeine 
Abtragung  rascher  vor  sich  gehen,  hier  waren  Flüsse  und  Bäche 
wegen  der  größeren  Breite  der  Abdachung,  trotz  des  reichlicheren 
Regens  weniger  erosionskräftig,  sie  haben  ihre  Täler  weiter  aus- 
gearbeitet und  der  Abfall  des  Hochlandes  ist  daher  hier,  auch 
unter  dem  Einflüsse  der  Staff'elbrüche,  ein  weit  sanfterer  als  gegen 
das  Ghor  hin.  Aber  noch  immer  steigt  dem  sich  Palästina 
nähernden  Seefahrer,  dem  ursprünglichen  Tafelland  entsprechend, 


—     94     — 

das  Hochland  als  wagerecht  verlaufende  blaue  Profillinie  am 
Horizonte  empor.  Schwierig,  leicht  zu  verteidigen  sind  auch  die 
Aufstiege  von  der  Küste  her,  wenn  auch  nicht  so  schwierig  wie 
durch  die  grausigen  Schluchten,  in  welche  der  Steilabsturz  gegen 
das  Ghor  hin  zerrissen  ist,  da  die  Gewässer  einen  Höhenunter- 
schied von  looo — 1200  m  auf  eine  Entfernung  von  meist  nur 
15  km  zu  überwinden  haben,  während  es  sich  an  der  westlichen 
Abdachung  nur  um  Höhenunterschiede  von  600 — 800  m  auf 
30 — 50  km  handelt.  Die  Felswüste  Juda  westlich  vom  Toten 
Meere  ist  geradezu  durch  die  tiefen  Schluchten  der  zum  Toten 
Meere  eilenden  Bäche  und  Flüsse  gebildet,  und  ebenso  liegen 
die  Bäche  und  Flüsse  des  Ostjordanlandes  gegen  das  Ghor  hin 
in  immer  engeren  und  tieferen  Schluchten.  Für  die  Tiefenerosion 
der  Gewässer  war  auch  das  allgemeine  Trockenklima  von  Be- 
deutung, das  an  der  Ghorseite  schon  mehr  hervortritt  wie  an  der 
Mittelmeerseite.  Die  Wasserscheide  lag  im  Westjordanlande  wohl 
ursprünglich  gleich  weit  (etwa  15  km)  vom  West-  wie  vom  Ost- 
rande, sie  ist  aber  dadurch,  daß  die  Täler  an  der  Westseite 
rascher  rückwärts  verlängert  wurden,  mehr  gegen  das  Ghor  hin 
verschoben  worden,  also  an  dieser  Seite  kurze,  tiefe,  steile  Täler, 
an  der  Westseite  längere  und  flachere.  Die  Wasserscheide  wird 
also  noch  der  am  wenigsten  zergliederte  Teil  des  ursprünglichen 
Tafellandes  sein,  die  Linie,  auf  welcher  der  meridionale  Verkehr 
des  Westjordanlandes  daher  am  wenigsten  Schwierigkeiten  zu  über- 
winden hatte.  An  ihr  werden  also  auch,  wie  noch  näher  aus- 
zuführen sein  wird,  die  wichtigsten  Siedelungen  liegen.  Anderer- 
seits an  der  Westseite  am  Ausgange  der  Täler  in  die  Küsten- 
ebene. Die  Zerschnittenheit  '  des  Geländes  durch  die  fortge- 
schrittene Erosion  und  Denudation  hat  zahlreiche  natürlich  feste 
Lagen  auf  Höhen  geschaffen,  welche  die  Bevölkerung  anzogen, 
so  daß  die  meisten  Siedelungen  Palästinas  malerisch  auf  und  an 
Höhen  liegen. 

Die  Täler  sind  überall  als  Erosionsfurchen  im  Tafellande 
gekennzeichnet  auch  dadurch,  daß  sie  kaum  merkbar  auf  der 
Hochfläche  oder  in  flachen  Mulden  beginnen  und  gegen  den 
überall  scharf  ausgeprägten  und  auch  vom  Volke  so  bezeichneten 
Ausgang  hin  zu  immer  engeren  und  tieferen  Schluchten  werden. 
Allerdings  spricht  vieles  für  die  besonders  von  Hüll  vertretene 
Ansicht,    daß   die   Bildung    dieser  Täler    im   wesentlichen    in    die 


—     95     — 

Glazialzeit  fällt.  Die  recht  kennzeichnend  nicht  etwa  von  einem 
hohen  Kamme  gebildete,  sondern  häufig  in  flachen  Einsenkungen 
kaum  erkennbare  Wasserscheide  ist  jetzt  etwa  doppelt  so  weit 
vom  INIittelmeere,  30 — 50  km,  wie  vom  Jordan,  15  —  20  km,  ins 
Innere  zurückgeschoben  und  bildet  eine  nur  mäßig  gewundene 
Linie. 

Die  Küstenebene. 
Es  sind  also  ungeheuere  Massen  von  Feststoffen,  namentlich 
fast  die  ganze  vorhanden  gewesene  Tertiärdecke,  vom  Hochlande 
abgetragen  und  vorzugsweise  an  dessen  Westfuße,  teilweise  aber 
auch  in  den  kleinen  Becken  und  im  Ghor  abgelagert  worden. 
In  diesem  ist  namentlich  zur  Ablagerung  gekommen,  was  bei  Bil- 
dung der  zahlreichen  Schluchten  und  Täler,  die  ins  Ghor  ein- 
münden, vom  rinnenden  Wasser  entführt  worden  ist.  Die  Sohle 
des  Grabens  muß  also  sehr  viel  tiefer  gelegen  haben  wie  heute, 
selbst  wie  die  größte  Tiefe  des  Toten  Meeres.  Am  Fuße  des 
Westjordanlandes  kamen  auch  große  Mengen  von  Sinkstoffen 
hinzu,  welche  die  Küstenströmung,  die  auch  die  Mündungen  der 
meisten  Flüsse  nach  Norden  abgedrängt  hat,  vom  Nil  her  mit 
sich  führte  und  da,  wo  sie  senkrecht  auf  die  Küste  stieß,  ähnlich 
wie  in  den  Landes  der  Gascogne,  zur  Ablagerung  brachte. 
Wesentlich  war  dabei,  daß  die  kalkhaltigen  Gewässer  des  Hoch- 
landes ein  Bindemittel  herbeiführten,  so  daß  die  losen  Ablage- 
rungen vielfach  rasch  zu  festem  Gestein,  einem  an  Muscheln, 
besonders  Pectunculus  glycineris  und  dessen  Trümmern  reichen 
Kalksandstein  verkittet  worden  sind:  eine  Erscheinung,  welche 
sehr  häufig  ähnliche  Bildungen  an  den  Küsten  der  in  großer 
Ausdehnung  aus  Kalkfels  aufgebauten  Mittelmeerländer  kenn- 
zeichnet. Doch  muß  wohl  eine  auch  von  den  Geologen  Lartet 
und  HuU  angenommene  Hebung  des  Landes  damit  Hand  in 
Hand  gegangen  sein,  da  die  Aufschlüsse,  welche  für  den  Bau  der 
1892  eröffneten  Eisenbahn  von  Jaffa  nach  Jerusalem  nötig  wur- 
den, 2 — 4  km  östlich  von  Ramie,  also  etwa  17  km  vom  heutigen 
Meeresufer,  unter  einer  wenig  mächtigen  Humusdecke  i — 4  m 
mächtige  Lager  von  Flußkies,  die  Schuttkegel  der  vom  Hochlande 
herabkommenden  diluvialen  Flüsse,  und  unter  diesen  altquartären 
gelben  Meeressand  ergaben.  So  ist  dem  Hochlande  des  West- 
jordanlandes  als    ein   neues,    die  Mannigfaltigkeit  der  geographi- 


-     96     - 

sehen  Bedingungen  vermehrendes  Glied  die  Küstenebene  vor- 
gelagert worden,  die  im  Mittel  etwa  20  km  breit  wie  zu  erwarten 
sich  von  Norden  nach  Süden  verbreitert  und  wenigstens  im  Süden, 
wo  (von  Hüll  als  eozän  bezeichnete)  rötliche  Kalksandsteine  in 
vereinzelten  bis  100  m  und  mehr  hohen  Hügeln,  die  hier  und 
da  wohl  auch  fest  gewordene  Dünen  sein  dürften,  unter  den 
jüngeren  Auflagerungen  als  Zwischengürtel,  dem  Hochlande  vor- 
gelagert, zutage  treten.  Die  Küstenebene  macht  daher  dort,  zu- 
mal auch  die  vom  Hochlande  kommenden  Gießbäche  das  Land 
in  flache  Täler  gegliedert  haben,  durchaus  nicht  den  Eindruck 
einer  einförmigen  Schwemmlandebene.  Überall  aber  besitzt  sie 
große,  geradezu  sprichwörtlich  gewordene  natürliche  Fruchtbarkeit, 
namentlich  in  dem  Saron  genannten  Teile  nördlich  von  Jaffa,  da 
das  Hochland  ihrem  auf  weite  Strecken  tiefgründigen  dunkeln 
Humusboden  seine  am  Rande  des  Hochlandes  noch  einmal  von 
starken  Quellen  genährten  und  daher  hier  ausdauernden  Ge- 
wässer zusendet,  die  somit  zu  Berieselungszwecken  dienen  können, 
neben  denen  aber  auch  das  in  geringer  Tiefe  erreichbare  Grund- 
wasser durch  Brunnen  emporgehoben  in  Fülle  zur  Verfügung  steht 
und  beispielsweise  die  Schaffung  der  üppigen  Apfelsinenhaine  von 
Jaffa  ermöglicht  hat. 

Gegen  das  Meer  hin  wird  die  Küstenebene  durch  einen 
häufig  recht  breiten  und  bis  40  m  Höhe  erreichenden  Dünen- 
gürtel völlig  abgeschlossen,  hinter  welchem  sich  hier  und  da 
Binnengewässer  stauen  und  Sümpfe  bilden.  Ja  selbst  kleine*  Seen 
kommen  vor.  An  der  Außenseite  der  Düne  treten  hier  und  da, 
wie  bei  Jaffa,  Cäsarea,  'Atlit,  zu  festem  Gestein  verkittete  Ab- 
lagerungen auf,  die  die  Lage'  dieser  Küstenplätze  bestimmten  und 
die  Schaffung  künstlicher  Hafenanlagen  ermöglichten.  An  anderen 
Stellen,  wie  bei  Askalon,  überschütten  die  nicht  verfestigten 
Dünen,  landeinwärts  wandernd,  das  fruchtbare  Land  mehr  und 
mehr.  Die  Küstenebene  macht  etwa  1 1  ^/^  der  Bodenfläche  von 
Palästina  aus.  Ihre  größte  Ausdehnung  und  Selbständigkeit  er- 
langt sie  im  Südwesten.  Doch  hat  sie  in  der  Geschichte  des 
Landes  als  Wohnsitz  der  Philister  (d.  h.  der  Eingewanderten)  eine 
bedeutungsvolle  Rolle  gespielt,  denn  erst  nach  einhalbtausend- 
jährigem  wechselvollem  Kampfe  wurden  diese  von  den  das  Hoch- 
land bewohnenden  Israeliten  unterworfen.  Der  Name  Palästina 
(bei   Arabern    und   Türken   Filistin)   haftete    ursprünglich    nur    an 


—     97     — 

diesem  südlichen  Teile  der  Küstenebene,  wie  auch  der  Name 
Kanaan  ursprünglich  nur  der  Küstenebene  gegolten  zu  haben 
scheint.  Auch  darin  prägt  sich  eine  gewisse  Selbständigkeit  der- 
selben aus,  daß  die  zu  allen  Zeiten  ganz  festländischen,  meer- 
scheuen Israeliten  sich  erst  spät  zu  Herrn  derselben  zu  machen 
vermochten.  Erst  im  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  wird  Jaffa,  bis  dahin 
als  Stützpunkt  ihres  Handels  nach  Ägypten  und  des  palästinen- 
sischen Außenhandels,  den  sie  bis  in  römische  Zeit  völlig  be- 
herrschten, in  den  Händen  der  Phöniker,  völlig  jüdisch.  Es 
scheint,  daß  die  Phöniker  ähnlich  an  der  Küste  von  Palästina 
saßen  und  allen  Seeverkehr  der  durchaus  binnenländischen  Is- 
raeUten  beherrschten,  wie  noch  heute  die  Griechen  den  der  Bul- 
garen und  Türken.  Ursprünglich  reich  gebuchtet  und  keineswegs 
dem  Seeverkehr  ungünstig  gestaltet,  ist  durch  Ausgleichung  aller 
Buchten  und  Vorsprünge  durch  Küstenströmung,  Küstenversetzung 
und  landbildende  Tätigkeit  der  Flüsse  die  heutige  eiserne  Küste 
entstanden.  Nur  von  außen  her  konnte  an  dieser  Küste  Seever- 
kehr heimisch  gemacht  werden.  Jaffa  war  dafür  noch  der 
günstigste  Punkt,  da  hier  vor  einer  felsigen,  natürlich  festen  An- 
höhe (phönik.  Jope)  eine  Reihe  flacher  Klippen  kleinen  Schiffen 
Schutz  gewährte.  Freilich  ist  die  nur  8  m  breite  Einfahrt  in  die 
von  den  Klippen  gebildete  Reede  schwierig  und  gefahrlich.  Cä- 
sarea,  weiter  nach  Norden,  in  römischer  Zeit  die  bedeutendste 
Stadt  Palästinas,  'Atlit  und  'Akka,  Hauptsitze  des  Verkehrs  in 
den  Kreuzzügen  ähnlich  an  felsige  Höhen  geknüpft,  entbehrten 
selbst  dieses  Schutzes  und  vermochten  daher  nur  in  günstigen 
Zeiten  ihre  Kunsthäfen  und  damit  ihre  Bedeutung  zu  erhalten. 
Gaza,  die  größte  Stadt  der  Küstenebene,  obwohl  ganz  nahe  am 
Meere  gelegen,  ist  doch  ohne  alle  Beziehungen  zu  demselben. 

Westjordanland. 
So  von  der  Küstenebene  sanfter,  vom  Ghor  steil  aufsteigend 
erscheint  das  Westjordanland  als  ein  von  Norden  nach  Süden 
an  Breite  und  Höhe  zunehmendes  Hochland.  Bei  einer  mittleren 
Breite  von  50 — 60  km  und  einer  Höhe  von  600 — 800  m  erheben 
sich  auch  die  höchsten,  1000  m  nur  wenig  übersteigenden  Punkte 
durchaus  in  sanften  Wellenlinien.  Die  sich  rasch  mindernde 
Höhe,  dadurch  bedingt  auch  die  Verringerung  der  Niederschläge, 
der  Pflanzendecke  und  der  Anbaufähigkeit  setzen  dem  West- 
Fischer,  Mittelmeerbilder.  7 


-      98     - 

jordanlande  und  damit  ganz  Palästina  ungefähr  unter  den  3 1 .  Pa- 
rallel, seine  Südgrenze  auf  der  Grenze  von  Kulturland  und  Wüste 
(Et  Tih),  während  seine  Nordgrenze  jenseits  des  ;^^.  Parallels 
durch  den  rasch  zu  großer  Höhe  aufsteigenden  Libanon  und  die 
als  Grenzgraben  davor  gelegene  tiefe  Erosionsschlucht  des  Nähr 
Kasimije,  des  Flusses  von  Mittelsyrien  gebildet  wird. 

Trotz  der  geringen  absoluten  Höhen  macht  das  waldarme, 
ja  meist  geradezu  kahl  erscheinende  Land  einen  reich  geglieder- 
ten Eindruck,  häufig,  namentlich  gegen  das  Ghor  hin  ein  schwer 
zu  entwirrendes  Chaos  von  Berg  und  Tal,  dessen  Grundform  nur 
die  in  den  Tälern  aufgeschlossenen  wagrecht  liegenden  Schichten 
zu  erfassen  erlauben.  Wenn  auch  dem  Kalkfels  und  dem  Klima 
entsprechend  arm  an  dauernd  rinnenden  Gewässern;  ja  überhaupt 
an  Wasser,  erscheint  es  doch  überall  auch  wegen  der  großen 
Höhenunterschiede ,  die  den  meist  plötzlich  hereinbrechenden 
Wassermassen  noch  heute  große  Erosionskraft  verleihen,  tief  durch- 
schluchtet  und,  wie  die  meisten  Kalkgebiete  der  Mittelmeerländer, 
arm  an  Humus.  Es  herrscht  also  in  großen  Landesteilea  die 
nackte  Felslandschaft  vor,  nur  von  oasenartigem  Anbau  unter- 
brochen, ja  der  südöstliche  Teil  von  Judäa,  die  hier  ziemlich 
breite,  im  Regenschatten  gelegene  Abdachung  zum  Toten  Meere 
hin,  östlich  der  Linie  Jerusalem— Hebron  wird  geradezu  zur  Fels- 
wüste, der  Wüste  Juda,  die,  auch  wegen  der  Armut  an  Quellen 
und  schwer  zu  findenden  Wasserlöchern,  auch  im  Altertume  ohne 
seßhafte  Bewohner,  im  Sommer  ein  Glühofen,  mit  ihren  tiefen, 
unzugänglichen  Schluchten  und  Höhlen  die  Zufluchtsstätte  von 
Verfolgten  und  Räubern,  wie  noch  heute  die  hier  ihre  Herden 
weidenden  Beduinen  als  Raubgesindel  gefürchtet  sind.  In  früh- 
christlicher Zeit  war  diese  Wüste  Juda  ein  wahres  Paradies  für 
selbstquälerische  Einsiedler.  Das  Kloster  Mar  Saba,  ein  fast  un- 
zugängliches Felsennest,  ist  die  einzige  noch  erhaltene  dieser 
einst  zahlreichen  Siedeleien. 

Wie  schon  erwähnt,  entspricht  der  vorherrschende  Steinbau 
und  Bogenwölbung  der  Fülle  der  vorhandenen  leicht  zu  be- 
arbeitenden Bausteine  und  Kalkmörtel,  nächstdem  dem  Mangel  an 
Bauholz.  Die  Häuser  sind  klein,  würfelförmig,  mit  flachem  oder 
Kuppeldach.  Im  Haurau,  wo  ein  jungeruptives  plattiges  Gestein  zur 
Verfügung  steht,  baut  man  sogar  völlig  unter  Ausschluß  von  Holz. 
Selbst  die  Türen  sind  aus  Stein.     Nur  wo  die  tonigen  Verwitte- 


—     99     — 

rungsrückstände  des  Kalkfels  oder  andere  geeignete  Bodenarten 
vorhanden  sind  (in  den  Ebenen)  wird  der  Steinbau  vielfach  durch 
den  noch  bequemeren  Luftziegelbau  ersetzt.  Freilich  sind  letztere 
Bauten  trotz  der  Beimischung  von  Stroh  wenig  haltbar,  die  Wände 
selbst  nicht  einbruchsicher,  die  Dächer  im  Winter  so  undicht, 
wie  jeder  Reisende  unliebsam  feststellen  kann,  daß  sie  unab- 
lässiger Überwachung  bedürfen  und  schon  in  der  Bibel  sprich- 
wörtlich gebraucht  wurden.  Viele  der  zahllosen  sogenannten  Teil 
sind  nichts  als  Trümmerhügel  solcher  Luftziegelsiedelungen. 

Die  Dürftigkeit  der  Humusdecke  ist,  wie  wir  sahen,  eine 
zunächst  petrographisch  bedingte  Erscheinung,  der  aber  auch  die 
khmatischen  Verhältnisse  entsprechen:  halbjährige  Regenlosigkeit, 
während  deren  die  aufgerissene,  von  Menschen  und  Tieren  noch 
weiter  gelockerte  Humusdecke  vom  Winde  verwehrt  wird,  wech- 
selt mit  darauf  folgender  Regenzeit,  deren  heftige  Güsse  den 
losen  Boden  wegspülen.  Gewiß  ist  aber  die  heutige  Humus- 
armut etwas  im  Laufe  von  Jahrtausenden  durch  diese  Vorgänge, 
durch  Waldverwüstung,  Rückgang  des  Anbaus,  Verfall  der  Ter- 
rassen, durch  die  man  seit  uralten  Zeiten  mit  der  ersten  Verdichtung 
der  Bevölkerung  die  fruchtbare  Erde  zurückzuhalten  gelernt  hatte, 
erst  Gewordenes.  Indessen,  ein  Land,  wo  Milch  und  Honig  fließt, 
konnte  schon  im  Altertume  Palästina  nur  in  den  Augen  von 
Wüstenbewohnern  sein,  genau  so  wie  man  sich  bei  den  Schilde- 
rungen der  Oase  von  Damaskus  als  irdisches  Paradies  seitens 
der  arabischen  Dichter  gegenwärtig  halten  muß,  daß  sie  von 
Wüstenbewohnern  ausgehen.  Nachdem  einmal  geschichtliche  Vor- 
gänge, der  Sieg  der  Wüstenbewohner  über  die  verweichlichten 
Kulturlandbewohner  einen  jähen  Rückgang  des  im  Laufe  einer 
langen  Reihe  friedlicher,  glücklicher  Jahrhunderte  von  vielen  Ge- 
schlechtem stetig  und  sorgsam  gesteigerten  Anbaues  und  der 
Bewohnerzahl  herbeigeführt  hatten,  mußten  sich  in  wesentlich 
kürzerer  Zeit  den  heutigen  ähnliche  Verhältnisse  ausbilden,  wo 
Ackerbau  und  Weidewirtschaft  einander  ungefähr  die  Wage  halten, 
jener  auf  die  Täler,  die  sanften  Hänge  und  die  Ebenen,  dieser 
auf  die  humusarmen  Felslandschaften  begründet.  Fruchtbare 
Ebenen  und  Becken  sind  aber  auf  dem  Hochlande  nur  in  ge- 
ringer Zahl  und  Ausdehnung  vorhanden.  In  Judäa  fehlen  sie  so 
gut  wie  ganz;  mehrfach,  im  Winter  sich  zum  Teil  in  flache  Seen 
verwandelnd,   treten    sie   in  Samaria,   namentlich   aber  in  Galiläa 


—       lOO       — 

auf,  das  durch  vulkanische  Tätigkeit  wechselvoller  gestaltet  ist 
und  fruchtbareren  Boden  besitzt,  wegen  der  nördlicheren  Lage, 
beträchtlicher  Höhen  an  der  Nordgrenze  —  der  Djebel  Dschermak 
ist  mit  I200  m  der  höchste  Punkt  des  Westjordanlandes  —  und 
der  Nähe  des  Libanon  auch  niederschlags-  und  quellenreicher. 
So  ist  Galiläa  durch  diese  und  andere  Sonderzüge  —  Ebene 
Jesreel,  See  von  Tiberias  — ,  wie  auch  in  der  Geschichte  hervor- 
tritt, eine  zu  Judäa  in  noch  höherem  Maße,  wie  das  auch  schon 
reicher  ausgestattete  Mittelland  Samaria  eine  vielfach  gegensätz- 
liche Landschaft,  freilich  nur  von  etwa  4000  qkm  Flächeninhalt. 
Ihre  Südgrenze  bildet  das  steil  über  der  großen,  durch  vulkanische 
Zersetzungsstoffe  und  Wasserreichtum  fruchtbaren  Ebene  Jesreel 
aufsteigende  Bruchgebirge  des  Karmel.  Diese  größte,  in  einem 
Engtale  vom  Kison  nach  Westen  entwässerte  Ebene  des  West- 
jordanlandes hat  darum  und  wegen  der  verhältnismäßig  leichten 
Beziehungen  zum  Ghor  und  zum  Ostjordanlande  als  Durchgangs- 
land des  Verkehrs  die  Rolle  des  großen  Schlachtfeldes  von  Pa- 
lästina gespielt,  auf  welchem  von  Barak  und  Debora  an  bis  auf 
Bonaparte  (1799)  so  und  so  oft  die  Würfel  über  die  Geschicke 
des  Landes  geworfen  worden  sind.  Ihrer  leichten  Zugänglichkeit 
von  Osten  her  verdankte  sie  es  aber  auch,  daß  sie  so  oft  von 
den  Beduinen  geplündert  wurde  und  daher  bis  vor  kurzem  ent- 
völkert war.  Über  ihr  erhebt  sich  in  Galiläa  der  auch  geschicht- 
lich so  wichtige,  wenn  auch  nur  562  m  hohe  vulkanische  Kegel 
des  Tabor. 

Aus  der  reichlichen  Durchschluchtung  des  Landes  ergibt 
sich  eine  ganze  Reihe  wichtiger  geographischer  Tatsachen.  Zu- 
nächst seine  geringe  Wegsamkeit.  Bis  vor  kurzem  gab  es  nur 
eine  einzige  durch  Europäer  gebaute  Straße,  die  von  Jaffa  nach 
Jerusalem,  auf  welcher  deutsche  Unternehmer  und  Kutscher  den 
Verkehr  vermittelten.  Sie  ist  nach  Jericho  verlängert  und  1892 
durch  eine  Eisenbahn  ersetzt  worden,  zu  welcher  neuerdings, 
namentlich  in  Verbindung  mit  der  Reise  des  deutschen  Kaisers, 
Fahrstraßen  von  Haifa  und  Akka  nach  Nazareth  und  Tiberias 
und  die  im  Bau  begriffene  und  bereits  bis  zum  Ghor  vollendete 
Eisenbahnlinie  von  Haifa  nach  Damaskus  hinzugekommen  ist. 
Damaskus  ist  auch  der  Anfangspunkt  von  zwei  das  Ostjordan- 
land erschließenden  Eisenbahnen  geworden,  einer  älteren  nach 
dem    Haurau,    die    jetzt    mit    der    von    Haifa    ausgehenden    ver- 


lOI       — 

bunden  wird,  und  einer  jetzt  von  der  türkischen  Regierung  nach 
Arabien  in  Angriff  genommenen  und  bereits  bis  in  die  Breite 
des  Nordendes  des  Toten  Meeres  in  Betrieb  befindlichen.  Aber 
bis  vor  kurzem  war  Wagenverkehr  in  Palästina  seit  römischer  Zeit 
unbekannt.  Man  mußte  zu  Fuß  gehen  oder  zu  Esel,  zu  Maul- 
tier oder  zu  Pferd  reisen.  Aber  selbst  die  Reitwege  sind  hals- 
brechend in  dem  gebirgigen,  felsigen  Lande.  Nur  in  römischer 
Zeit  war  Palästina  mit  einem  Netz  von  Straßen  überzogen,  die 
aber  nur  bei  sorgsamer  Pflege  erhalten  werden  konnten  und  von 
denen  man  heute  nur  noch  Spuren  erkennt.  Der  uns  schon  aus 
der  Zeit  um  1400  v.  Chr.  auf  einem  ägyptischen  Papyrus  recht 
drastisch  geschilderte  Versuch  eines  hohen  Beamten  des  Pharao, 
das  Hochland  von  Palästina,  wie  er  es  in  Ägypten  gewohnt  war, 
im  Wagen  zu  bereisen,  würde  auch  heute  noch  mit  der  baldigen 
Zertrümmerung  des  Wagens  ein  klägliches  Ende  finden.  Selbst 
die  Verwendung  von  Streitwagen  war  im  Altertum  nur  örtlich 
möglich.  Doch  mag  es  später  teilweise  besser  geworden  sein, 
da  Wagen  in  der  Bibel  erwähnt  werden. 

Eine  zweite  Folgewirkung  der  Durchschluchtung  des  felsigen 
Landes  war  die  Schaffung  zahlreicher,  natürlich  fester,  luftiger, 
gesunder  Lagen,  die  durch  Anlage  von  Zisternen  dauernd  be- 
wohnbar wurden  und  an  welche  fast  alle  älteren,  geschichtlich 
wichtigen  Siedelungen  geknüpft  sind.  Eine  dritte  das  Vorhanden- 
sein einer  natürlichen,  die  verhältnismäßig  geringsten  Gelände- 
schwierigkeiten bietenden  Verkehrslinie  in  nordsüdlicher  Richtung 
auf  der  Wasserscheide,  eine  Verkehrslinie  allerdings  nur  für  den 
inneren  Verkehr,  obwohl  das  als  Damaskustor  bezeichnete  Nord- 
und  Haupttor  von  Jerusalem  auf  weitere  Beziehungen  hinzuweisen 
scheint.  Daraus  ergibt  sich  als  vierte  Folgeerscheinung,  daß  die 
wichtigsten  Siedelungen  des  Westjordanlandes,  ja,  von  den  Küsten- 
städten Gaza,  das  tatsächlich  eine  nur  Landhandel  treibende 
Ackerstadt,  der  Schlüssel  Palästinas  von  Ägypten  her  war,  Jaffa 
und  'Akka,  die  aber  alle  in  der  eigentlich  jüdischen  Zeit  nicht  in 
jüdischem  Besitze  waren,  abgesehen,  überhaupt  alle  wichtigeren 
Orte  Palästinas  recht  im  Gegensatze  zu  Mittelsyrien  als  Binnen- 
orte in  einer  dem  Ghor  nahen  nordsüdlichen  Linie  zu  allen 
Zeiten  lagen  und  noch  liegen.  Um  nur  die  größten  zu  nennen: 
Safed,  Nazareth,  Dschenin,  Nabulus,  Jerusalem,  Bethlehem,  Hebron. 
Nabulus  liegt  so  augenfällig  auf  der  Wasserscheide,  daß  der  Ort 


—       102       

davon  seinen  älteren  Namen  Sichern  ==  Schulter  erhalten  hatte. 
Allen  aber  ist  bedeutende  Meereshöhe  eigen.  Hebron  liegt  sogar 
927  m  über  dem  Meere.  Einzelne  größere  Siedelungen  des  Ost- 
jordanlandes (El  Kerak  1026  m),  namentlich  aber  im  Hauran  (El 
Kanawat  1244  m)  liegen  noch  höher.  Die  kleineren  steileren 
Höhen  dieser  Nordsüdlinie,  namentlich  die  gegen  das  Ghor  vor- 
springenden, sind  ausnahmslos  mit  den  Trümmern  von  Burgen 
aus  den  verschiedenen  Zeiten,  besonders  aus  den  Kreuzzügen, 
gekrönt.  Diese  Linie  ist  somit  in  jeder  Hinsicht  die  geschichts- 
reichste  des  geschichtsreichen  Landes.  In  besseren  Zeiten  war 
allerdings  auch  die  Reihe  der  Küstenstädte  eine  vollständigere. 
Und  ihr  entsprach  eine  dritte  künstlich  geschaffene  und  nur  in 
der  friedlichsten  Zeit  vorhandene  Reihe  von  Siedelungen  in  den 
Berieselungsoasen  an  der  Westseite  des  Ghor,  eine  vierte  im  Ost- 
jordanlande. Eine  besonders  zähe  Lebenskraft  besaßen  aber  nur 
die  Siedelungen  der  Wasserscheidereihe.  Die  Lage  an  diesem 
von  den  Römern  ehemals  auch  als  Heerstraße  ausgebauten  Ver- 
kehrswege, auf  und  an  felsigen  Höhen,  welche  die  weißen  Stein- 
würfel der  Häuser  zu  erklimmen  scheinen,  eine  fruchtbare  Um- 
gebung, das  sind  die  entscheidenden  Umstände  für  die  Entwick- 
lung dieser  Siedelungen.  Als  besonders  günstig  kommt  noch  die 
Kreuzung  des  Meridionalweges  durch  einen  Querweg  hinzu. 

Jerusalem. 
Daß  Jerusalem  seit  den  ältesten  Zeiten  die  bei  weitem  wichtigste 
Stadt  Palästinas  geworden  und  geblieben  ist,  erklärt  sich  aus  der 
natürlichen  Festigkeit  seiner  Lage  und  dem  Umstände,  daß  hier  die 
nordsüdliche  Verkehrslinie  von  der  bequemsten  ostwestlichen  ge- 
kreuzt wird,  die,  Jerusalem  in  die  engsten  Beziehungen  zum  Ghor  und 
zum  Ostjordanlande  setzend,  das  Ghor  und  den  Jordan  unmittel- 
bar am  Nordende  des  großen  Verkehrshindernisses  des  Toten 
Meeres  überschreitet.  Die  Oase  von  Jericho  und  das  Engtal  des 
unteren  Wadi  Kelt  bestimmen  ihren  Aufstieg  aufs  Hochland.  So 
muß  auch  aller  Verkehr  nach  dem  Ostjordanlande  von  der  Küste 
her,  von  Gaza  bis  Cäsarea,  in  Jerusalem  zusammenlaufen.  Jeru- 
salem ist  eine  Bergstadt  in  gebirgigem  Lande,  Felsige  Kalk- 
gebirge ringsum,  wie  ein  Blick  vom  Ölberge  über  die  Stadt  und 
das  Gewirr  kahler  Berge  und  Schluchten,  besonders  nach  Osten 
bis  zum   1200  m  tiefer  gelegenen  Toten  Meere  zeigt.    Die  Wein- 


—      I03     — 

Pflanzungen  und  Olivengärten,  die  dem  Felsboden  abgerungen 
sind,  sind  von  Trockenmauern  aus  den  zusammengelesenen  Ge- 
steinsbrocken umgeben.  Felsengräbern  begegnet  man  allenthalben, 
ebenso  steinreichen  Friedhöfen. 

Jerusalem  ist  ursprünglich  Festung  und  hat  als  solche  in 
allen  Zeiten,  immer  und  immer  wieder  in  wahrhaft  bewunderns- 
werter Weise  hergestellt  und  verstärkt,  eine  Rolle  gespielt.  Noch 
heute  ist  es  von  gewaltigen  12  m  hohen  Mauern  und  von  34  Tür- 
men umgeben,  die  Sultan  Soliman  1542  hat  errichten  lassen. 
Sie  sind  natürlich  heute  um  so  wertloser,  als  die  Stadt,  die  allent- 
halben über  die  Mauern  hinausgewachsen  ist,  von  dem  um  67  m 
höheren  Ölberge  und  anderen  Höhen  beherrscht  wird.  Die  zahl- 
losen Belagerungen,  bei  denen  die  Umgebung  verwüstet  wurde, 
haben  gewiß  sehr  viel  dazu  beigetragen,  daß  diese  selbst  für 
Judäa  recht  öde  erscheint  und  namentlich  bis  vor  kurzem  er- 
schien und  so  der  Pilger,  der  nicht  etwa  auch  die  nördlichen 
Landschaften  kennen  lernt,  einen  doch  gar  zu  ungünstigen 
Eindruck  vom  Heiligen  Lande  erhält.  Die  Lage  von  Jerusalem 
ähnelt  in  gewissem  Grade  derjenigen  unseres  mittelalterlichen 
Schmuckkästchens  Rothenburg  ob  der  Tauber.  Es  liegt  an  der 
Nordwestecke  789  m,  im  Tempelberge  744  m  über  dem  Mittel- 
meere, in  mehr  als  Brockenhöhe  über  dem  nur  2 1  km  entfernten 
Ghor,  auf  einer  an  drei  Seiten  durch  steile  und  noch  heute  tiefe 
Bachtäler  (Kidron-  und  Hinnomtal)  aus  der  wasserscheidenden 
Hochfläche  herausgeschnittenen,  hügeligen  Halbinsel,  deren  ur- 
sprüngliche Formen  allerdings  durch  Unterbauten,  Einebnungen 
und  Abtragungen  der  Felsen,  künstliche  Bearbeitung  der  Fels- 
wände zu  senkrechten  Abstürzen  u.  dgl. ,  vor  allem  aber  durch 
die  ungeheure  Schuttanhäufung  der  Zerstörungen  vielfach  verwischt 
sind.  Mehrfach  erreicht  diese  überall  erkennbare  Schuttschicht 
eine  IMächtigkeit  von  mehr  als  10  m,  ja  die  Täler,  besonders  das 
Tyropöon,  das  den  Osthügel,  Moria-Zion,  auf  dem  David  eine  Burg 
hatte,  wo  der  Tempel  lag,  von  dem  Westhügel  trennte,  sind  durch 
dieselbe  um  25  m  aufgehöht.  Die  heutige  Via  dolorosa  liegt 
12 — 15  m  über  der  alten  Straße.  Bei  Ausgrabungen  und  Funda- 
mentierungen  entdeckt  man  eine  geschichtliche  Periode  mit  ihren 
Trümmern  unter  der  anderen,  oft  Säulentrümmer  und  Werkstücke 
von  gewaltigen  Ausmessungen:  grelle  Gegensätze  zu  der  dürftigen 
Gegenwart!     Die  Stadt  macht  vielfach  einen  verfallenen  Eindruck. 


—     I04     — 

Kuppelgewölbe  herrschen  vor,  doch  sind  auch  Ziegeldächer 
häufig.  Von  den  künstlichen,  neben  den  fast  unter  jedem  Hause 
angebrachten  Zisternen  so  wichtigen  großen  offenen  Wasser- 
behältern ist  der  am  höchsten  gelegene  Mamilateich  vor  dem 
Jaffatore  meist  noch  mit  Wasser  gefüllt,  aber  der  Birket  Israin 
in  der  Stadt,  in  dem  man  früher  den  Teich  Bethesda  sah,  ist 
derartig  mit  Schlamm  und  Unrat  gefüllt,  daß  er  im  Sommer 
mehr  einem  stinkenden  Pfuhle  gleicht.  Auch  der  sogenannte 
Patriarchenteich,  der  von  ersterem  gespeist  wird,  liegt  im  Sommer 
meist  trocken. 

Gegen  den  östlichen  Steilabsturz  zum  Ghor  vorgeschoben 
liegt  Jerusalem  heute  nahe  der  Grenze  des  der  festen  Siede- 
lungen entbehrenden  Gebietes.  Nur  nach  Norden  und  Nord- 
westen bedurfte  die  Stadt  stärkerer  Befestigungen  durch  starke 
und  hohe  Mauern  und  Türme  und  in  den  Felsen  gehauene 
Gräben,  gegen  die  aber  stets  als  dennoch  schwächsten  Punkt  die 
Belagerer  ihre  Angriffe  zu  richten  pflegten.  Die  ehemals  starke 
Zitadelle  am  wichtigsten  Jaffatore,  aus  dem  zugleich  der  Verkehr 
nach  Süden  geht,  umfaßt  wohl  noch  zwei  von  den  Türmen, 
welche  den  Palast  des  Herodes  umgaben.  Der  Davidsturm 
dürfte  der  Turm  Phasael  sein,  den  Josephus  beschreibt.  Er  läßt 
noch  seine  für  jene  Zeit  erstaunliche  Festigkeit  erkennen.  Die 
Zitadelle  liegt  da,  wo  das  Hinnomtal  sich  nach  Westen  wendet 
und  verflacht,  der  natürliche  Schutz,  den  es  gewährt,  also  auf- 
hört, zugleich  aber  auch  ein  Tor  für  den  Verkehr  nach  Westen 
und  Süden  liegen  muß,  daher  von  den  Christen  Jaffator,  von 
den  Muslim  Bab-el-Chalil,  Hebrontor,  genannt.  In  der  Zeit  der 
größten  Ausdehnung  unter  Herodes,  also  zu  Christi  Zeit,  dehnte 
sie  sich  weiter  nach  Norden  aus,  die  einzige  Stelle,  an  der  sie 
organisch  wachsen  konnte,  über  die  heute  außerhalb  der  Soli- 
manischen  Mauer  gelegene,  aber  jetzt  auch  wieder  bebaute  Hoch- 
fläche, andererseits  aber  auch  nach  Süden,  wo  sie  jetzt  nicht 
mehr  in  den  Winkel  zwischen  Kidron-  und  Hinnomtal  hinein- 
reicht, wenn  auch  noch  Häuser  dort  stehen,  vor  allem  aber  sich 
Begräbnisplätze  finden. 

Diese  Gunst  der  Lage  erklärt,  daß  sich  hier  schon  in  weit 
zurückliegender  Zeit  eine  Siedelung  entwickelt  hat.  Schon  in 
vorisraelitischer  Zeit,  um  1400  v.  Chr.  wird  eine  solche  mit  dem 
gleichen    Namen    Urusalim,    Friedensstadt,    auf   den    in    Tell-el- 


—     I05     — 

Amama  in  Ägypten  gefundenen,  in  babylonischer  Keilschrift  und 
in  assyrischer  Sprache  geschriebenen  Tontafeln  erwähnt,  Briefen, 
deren  mehrere  von  dem  damaligen  Ägypten  unterworfenen  Herr- 
scher von  Jerusalem  herrühren,  die  heute  zum  Teil  im  Berliner 
]\Iuseum  aufbewahrt  werden.  Daher  ließ  es  sich  David  soviel 
Mühe  kosten,  die  Stadt  der  jebusitischen  Urbewohner  zu  erobern, 
die  sich,  dank  ihrer  Festigkeit,  Jahrhunderte  lang  nach  der  Ein- 
wanderung der  Israeliten  unabhängig  zu  behaupten  vermocht 
hatte.  Mit  richtigem  Blicke  machte  er  sie  zu  seiner  Hauptstadt. 
Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  das  Übergewicht  des  im 
übrigen  am  dürftigsten  ausgestatteten  Judäa  in  erster  Linie  auf 
dem  Besitze  eines  so  wichtigen  Mittelpunktes  beruhte,  nächstdem 
auf  dem  langen  Kampfe  mit  den  Urbewohnem  und  den  Phi- 
listern. Die  geschichtliche  Bedeutung  und  die  Gunst  der  Lage 
erklären  schließlich  auch,  daß  immer  wieder  ein  neues  Jerusalem 
auf  den  Trümmern  eines  zerstörten  erstanden  ist. 

Seit  David  trat  nämlich  ein  neuer  Faktor  in  Wirksamkeit: 
Jerusalem  wurde  als  Hauptstadt  zugleich  auch  Hauptsitz  des 
jüdischen  Monotheismus  und  somit  eine  heilige  Stadt,  zunächst 
der  Juden,  dann  aber  auch  der  Christen,  der  Mohammedaner, 
bei  denen  sie  geradezu  El  Kuds,  die  Heilige,  genannt  wird.  Als 
Herren  haben  diese  die  Höhe,  welche  den  Tempel  trug,  zu  einem 
heiligen  Bezirke  mit  der  berühmten  Aksa-Moschee  und  dem  Felsen- 
dom, Kubbet-es-(^achra,  über  dem  geheiligten  Felsen,  von  dem  aus 
Mohammed  gen  Himmel  gefahren  sein  soll,  umgeschaffen,  wohin 
zu  wallfahrten  dem  frommen  Muslim  nur  die  Pilgerfahrt  nach 
Mekka  nachsteht.  Die  geschichtliche  Bedeutung  bedingt  seitdem  in 
erster  Linie  das  Wohl  und  Wehe  von  Jerusalem  und  des  ganzen 
Landes.  Auf  Schritt  und  Tritt  begegnet  man  daher  in  Palästina 
geschichtlichen  Denkmälern,  zahlreicher,  verschiedenartiger  als  in 
Griechenland  und  Italien  (Sizilien  vielleicht  ausgenommen),  wenn 
auch  nicht  so  großartig  und  wohlerhalten.  Teils  absichtlich  zer- 
stört, teils  von  späteren  Geschlechtern  als  bequeme  Steinbrüche 
benutzt,  bieten  sie  freilich,  außer  im  Ostjordanlande,  nur  dürftiges 
Trümmerwerk.  Palästina  ist  geradezu  das  geschichtsreichste  Land 
der  Erde  und  es  begreift  sich,  daß  ähnlich  wie  in  Griechenland, 
aber  in  noch  höherem  Maße,  bis  vor  kurzem  die  geschichtliche 
Erforschung  desselben  bis  zum  Überdruß  die  geographisch-natur- 
wissenschaftliche völlig  überwucherte. 


—     io6     — 

Die  geschichtliche  Bedeutung,  die  Eigenschaft  Jerusalems  als 
heilige  Stadt  für  alle  christlichen  Bekenntnisse,  für  Juden  und 
Mohammedaner  dürfte  aber  wohl  noch  niemals  sich  in  so  hohem 
Maße  aufgedrängt  haben  wie  in  der  Gegenwart  mit  ihren  er- 
leichterten Verkehrsverhältnissen.  Unter  den  60  000  Bewohnern, 
die  man  in  der  in  der  Neuzeit  rasch  gewachsenen  und  wachsen- 
den Stadt  jetzt  annimmt,  sind  die  mohammedanischen  Herren, 
Araber  imd  wenige  Türken,  mit  etwa  7000  Köpfen  schon  weit  in 
der  Minderheit,  während  man  die  Zahl  der  Juden,  überwiegend 
wieder  zugewanderte,  zu  40  000,  die  der  Christen  zu  1 3  000  an- 
nimmt. Die  Juden  verfügen  über  mehr  als  70  Synagogen  und 
über  zahlreiche  Hospize;  Christen  aller  Bekenntnisse  und  der  ver- 
schiedensten Nationen  aus  vier  Erdteilen  haben  hier  ihre  Kirchen, 
ihre  Klöster,  die  griechische  deren  allein  21,  ihre  Hospitäler, 
Waisenhäuser,  Schulen  u.  dgl.,  oft  eigenartige  Bauwerke,  ganze 
Stadtteile,  wie  das  große  alte  armenische  Kloster  in  der  Süd- 
westecke der  Stadt,  das  3000  Pilger  aufzunehmen  vermag,  oder 
die  von  einer  hohen  Mauer  umschlossene  russische  Ansiedelung 
nordwestlich  von  der  Altstadt,  die  hochgelegen  die  Stadt  wie 
eine  Festung  beherrscht.  Auf  der  Hochfläche  im  Nordwesten  der 
Altstadt  dehnen  sich  2  km  weit  weitläuftig  gebaute,  große  Höfe 
und  Gärten  umschließende  europäische  Niederlassungen  aus.  Ab- 
gesehen von  den  verschiedenen  deutschen  protestantischen  und 
katholischen  Anstalten  innerhalb  und  außerhalb  der  Altstadt,  das 
Johanniterhospiz,  das  Hospital  der  Kaiserswerther  Diakonissen  usw. 
haben  deutsche  Ackerbauer  und  Handwerker,  eine  Niederlassung 
der  Templer,  zu  400  Köpfen  vor  den  Südtoren  der  Stadt  ein 
geschlossenes  Gemeinwesen  gebildet,  neben  welchem  sich  jetzt 
der  Bahnhof  erhebt.  Die  deutsche  protestantische  Gemeinde 
zählt  200  Köpfe.  Nicht  weniger  als  24  verschiedene  Religions- 
gesellschaften, wovon  allein  12  christliche,  beherbergt  die  Stadt, 
deren  eng  gebaute,  steile,  winklige,  schmutzige  Straßen  in  ihrem 
4  km  messenden  unregelmäßigen  Mauerviereck  längst  nicht  mehr 
genügen.  Sie  zerfällt  in  vier  Viertel  nebst  dem  zu  allen  Zeiten 
für  heilig  gehaltenen  Bezirke  des  heutigen  Haram-esch-Scherif. 
Die  Straßen  sind  schmal,  winkelig,  oft  überdacht  oder  überspannt, 
unsauber,  mit  vielen  Sackgassen  und  wenigen  freien  Plätzen. 
Jerusalem  trägt  heute  mit  den  unablässig  wechselnden  Bildern 
seines  Straßenlebens,  da  sich  auch  die  Nationen  und  Religionen, 


—     I07     — 

namentlich  die  zahlreichen  Priester,  auch  durch  ihre  Tracht  unter- 
scheiden, mehr  als  jemals  den  Charakter  einer  ganz  eigenartigen 
Weltstadt,  grundverschieden  von  denen  etwa  Westeuropas,  nämlich 
einer  heiligen  Stadt,  des  Sitzes  und  Ausgangspunktes  dreier  Welt- 
religionen, in  welcher  sich  das  ganze  Leben  um  Religion  und 
Bekenntnis,  meist  in  wenig  erfreulicher  Weise  dreht,  deren  Be- 
wohner geradezu  von  der  Heiligkeit  ihrer  Stadt  leben.  Wirklich 
erwerbende  Bewohner  hat  Jerusalem  nur  wenige. 

Das  Ghor. 
Das  Ghor,   d.  h.    das  Tiefland,   wird   gekennzeichnet   durch 
den  drei  Seen  verbindenden  Jordan,    der  in  geringer  Entfernung 
>ron   seiner   eigentlichen  Quelle    in   dasselbe  eintritt  und  zunächst 
«die  zum  Teil  wohl  erst   durch   seine  Sinkstoffe  gebildete,  frucht- 
bare,   aber    zum  Teil  versumpfte   und  von   Papyrusdickichten  be- 
deckte, daher  ungesunde  Ebene  am  Nordende  des  Hulesees,  ein 
Paradies    für   Büffel,  Wildschweine   und  Wasservögel    durchfließt. 
Wohl  durch  vulkanische  Massen,  die   sich  in  das  Ghor  ergossen, 
aufgestaut,   ist   der  See   heute  noch  6  km   lang   und   5  km   breit, 
seine  Tiefe  gering.    Sein  Spiegel  liegt  nur  2  m  über  dem  Mittel- 
meere.    Der  Tiberiassee,  in  welchem   die  Gewässer  zum   zweiten 
Male  eine  Ruhelage  annehmen,  liegt  bereits   208  m  und  das  an- 
nähernd an  Fläche  einem  doppelten  Bodensee  gleiche  Tote  Meer, 
wo    sie    dauernd    in   Ruhelage    gelangen,    bei    mittlerem    Wasser- 
.stande  394  m  unter  dem  Mittelmeere.    Südlich  vom  Toten  Meere 
steigt  die  Sohle  des  Grabens  von  rund  800  m  unter  dem  Mittel- 
meerspiegel  wieder   über  denselben    empor,    so    daß    die   wasser- 
scheidende Schwelle   im  Wadi  Arabah,   etwa  zwei  Drittel  Weges 
nach  Akabah   1000  m  über  jenem  tiefsten  Punkte,  nämlich  229  m 
über    dem    Mittelmeere    liegt,     Jenseits    dieser    kaum    merkbaren 
Schwelle    bilden   sich  wenigstens   während    des  Winters    noch    an 
zwei  Stellen   Seen   an   der   Sohle    des  Grabens.     Das  Gefäll   des 
die    Lahn    an   Lauf  länge    nur    wenig   übertreffenden,    aber    noch 
windungsreicheren  Jordan  muß  somit  bei  einem  Höhenunterschiede 
zwischen    Quelle    und    Mündung   von    914  m   und    mit   Rücksicht 
auf  die   beiden   eingeschalteten  Seespiegel   ein  sehr  bedeutendes 
sein.     Reißenden   Laufs    mit    210   m    Gefälle    auf    16   km,    also 
eigentlich  in  ununterbrochenen  Stromschnellen  durchfließt  er  zwi- 
schen dem  Hule  und  dem  Tiberiassee  das   hier  zum  Teil  durch 


—     io8     — 

vulkanische  Massen  ausgefüllte  Ghor  in  tiefer  Erosionsschlucht 
bis  er  am  Nordwestufer  des  Tiberiassees  in  die  fruchtbare  und 
wohlbewässerte,  aber  heute  unbebaute  Ebene  El  Ghuweir  (das 
kleine   Ghor),  einst  ein  großer  Garten,  eintritt. 

Das  Tal  und  der  Lauf  des  Jordan,  der  treffend  benannt 
ist,  hebräisch  Jarden,  der  Herabeilende,  beginnt  weit  im  Nord- 
westen des  Hennon,  im  AntiUbanon,  im  sogenannten  Wadi-el- 
Tein,  der  eigentlichen  Heimat  der  Drusen,  nahe  der  Straße  und 
Eisenbahn  von  Berut  nach  Damaskus,  in  einer  Breite,  die  noch, 
acht  Bogenminuten  nördlich  von  Damaskus  liegt,  also  in  ^^^  38'  N. 
Bis  zum  Hule  beträgt  seine  Lauf  länge  73  km,  zwischen  Hule 
und  Tiberiassee  16  km,  vom  Tiberiassee  bis  zum  Toten  Meere 
144  km,  also  die  ganze  Lauf  länge  330,  die  beiden  Seen  ein- 
gerechnet 357  km.  Aber  das  oberste  Tal  führt  nur  im  Winter 
Wasser,  so  daß  man  als  fernste  Quelle  die  nördlich  von  der 
Hermonstadt  Hasbeya  hervorbrechende  Quelle  des  Nähr  Hasbani 
in  520  m  Meereshöhe  ansieht.  Von  da  an  ist  ein  dauernder 
Wasserlauf  in  enger  Erosionsschlucht  vorhanden,  die  sich  erst 
18  km  nördlich  vom  Hule  zu  dem  breiten  Graben  des  Ghor 
ausweitet.  Diesem  rinnen  von  Nordosten  her  zwei  noch  wasser- 
reichere Bäche  zu,  der  Nähr  el  Leddän  und  der  Nähr  Banijas,. 
die  sich  1 1  km  nördlich  vom  Hule ,  in  seiner  heutigen  Aus- 
dehnung, in  bereits  nur  mehr  43  m  Meereshöhe  miteinander 
und  mit  dem  Nähr  Hasbani  vereinigen.  Diese  beiden  Quell- 
bäche, von  denen  el  Leddän  der  wasserreichere  ist,  führen  die 
Wasservorräte  des  Hermon  herbei,  an  dessen  Fuße  sie,  eigent- 
lich als  zutage  tretende  bisher  unterirdische  Flüsse  aufzufassen^ 
hervorbrechen,  die  el  Leddän  in  einem  fast  kreisförmigen,  50  m 
im  Durchmesser  messenden  kristallklaren  Becken,  die  von  Banijas; 
aus  einer  Höhle  in  steiler  Felswand:  echte  Karstbäche.  Die 
Quelle  von  el  Leddän  führt  doppelt  so  viel  Wasser,  wie  die  vork 
Banijas,  dreimal  so  viel  wie  die  des  Nähr  Hasbani.  Jene  liegt 
154  m  hoch,  diese  32g  m.  In  dem  Namen  der  ersteren  ist  noch 
der  alte  Name  Dan  erhalten,  denn  über  dem  Quellbecken  erhebt 
sich  ein  wohl  künstlicher  Hügel  Tell-el-Kadi,  auf  dem  das  alte 
Dan  lag,  die  nördlichste  Grenzstadt  von  Palästina.  Banijas  ist 
das  alte  griechische  Paneas,  weil  die  Quellgrotte  des  Jordan  dem 
Pan  geweiht  war,  später  Cäsarea  Philippi  genannt,  wohl  der 
nördlichste  Punkt,  welchen  Christus  besucht  hat.     Beide  sind  ge- 


—      log     — 

schichtlich  wichtige  Orte,  reich  an  Altertümern,  Inschriften  usw. 
Über  der  alten  Feste  von  Banijas  erhebt  sich  noch  eine  gewaltige 
Kreuzfahrerfeste,  Kalat  es-Subebe,  die  eine  wundervolle  Aussicht 
auf  den  Hermon  und  den  Hulesee  bietet. 

Das  Nordende  des  Ghor,  in  welchem  sich  so  die  drei  Quell- 
bäche des  Jordan  vereinigen,  wird  von  einem  großen  Sumpfe, 
dem  Ard  el  Hule  eingenommen,  der  teils  von  offenen  Wasser- 
flächen, teils  von  Rohr-  und  Papyrusdickichten  von  größter  Üppig- 
keit gebildet  wird,  durch  welche  sich  der  Jordan  hindurchwindet: 
ein  Paradies  für  Büffel  und  Wasservögel,  im  Sommer  aber  ein 
Malariaherd.  Der  Hulesee,  der  mit  dem  Merom  des  Altertums 
kaum  identisch  sein  kann,  ist  ein  kleines  flaches  Becken,  höch- 
stens 5  m  tief.  Die  Ebene  ist  durch  Anschwemmung  auf  seine 
Kosten  gebildet,  so  daß  der  ursprünglich  ebenfalls  dem  Ghor 
entsprechend  lange,  schmale  See  in  ein  kleines  Dreieck  ver- 
wandelt ist.  Wenig  unterhalb  des  Hule  ist  der  zwar  reißende, 
aber  schmale  Jordan  noch  leicht  furtbar.  Hier  überschritt  ihn 
die  uralte  Karawanenstraße,  die  von  Damaskus  ans  Meer  und 
nach  Ägypten  führte,  der  erste,  daher  auch  strategisch  wichtige 
Übergang  über  den  Graben  südlich  vom  Hermon.  Heute  steht 
hier  eine  aus  Basaltblöcken  erbaute  Brücke,  Djisr  Benät  Jaküb, 
Brücke  der  Töchter  Jakobs  genannt,  einst  befestigt  und  viel  um- 
kämpft, dabei  ein  großer  Chan.  Die  Ufer  des  Flusses  sind  von 
Dickichten  von  Oleandern,  Tamarisken  und  Papyrus  begleitet. 

Der  Tiberiassee  ist  ein  hübsch  ovales  Wasserbecken  von 
171  qkm  Größe,  bis  50  m  tief,  20.5  km  lang  und  9.5  km  im 
Höchstbetrag  breit.  Sein  klares,  trinkbares  Wasser  ist  außer- 
ordentlich fischreich  und  wird  jetzt  auch  wieder  von  einigen 
Fischerbarken  befahren.  Die  ihm  eigenen  plötzlichen  Windstöße 
sind  jedoch  nicht  ungefährlich.  Sein  blauer  Spiegel  ist  heute  in 
einen  Rahmen  kahler,  nur  hier  und  da  mit  Trümmern  übersäter 
felsiger  Ufer  gespannt,  dem  die  wenigen  dürftigen  Siedelungen 
der  Gegenwart  keineswegs  als  Schmucksteine  eingefügt  sind.  Im 
Sommer  ist  es  furchtbar  heiß  und  schwül  am  See.  An  der  Ost- 
seite findet  sich  ein  schmaler,  fruchtbarer  Landstreifen,  an  der 
Nordwestseite  die  schon  erwähnte  kleine  Küstenebene,  Geneza- 
reth,  nach  welcher  der  See  in  den  Zeiten  der  Makkabäer  be- 
nannt wurde.  Heute  gibt  es  am  Tiberiassee  nur  wenig  bewohnte 
Orte   und   auch   nur   am  Westufer.     Außer  Tiberias   ist  nur  noch 


HO       

Medschdel  (Magdala,  Geburtsort  der  Maria  Magdalena)  zu  nennen. 
Teil  Hum,  nahe  der  Einmündung  des  Jordan,  ein  elender  aus 
Basalthütten  bestehender  Ort  ist  das  alte  Kapemaum.  Tiberias^ 
auf  schmaler  Ebene  am  See  war  die  glänzende  Hauptstadt  des 
Herodes  Antipas  zu  Christi  Zeit,  ein  römisch-heidnischer  Ort, 
nach  dem  Kaiser  Tiberius  benannt.  Nach  der  Zerstörung  von 
Jerusalem  war  es  ein  Hauptsitz  der  Juden,  jüdischer  Überliefe- 
rung und  Gelehrsamkeit.  Auch  jetzt  ist  es  vorwiegend  von  Juden 
bewohnt,  enthält  aber  auch  christliche  Klöster.  Zwei  Kilometer 
südwärts  liegen  die  heißen  Bäder  von  Tiberias  mit  62^  C,  die 
wieder  mit  leidlichen  Badeanlagen  versehen  sind. 

Geläutert  verläßt  der  Jordan  den  See,  aber  bald  trübt  sich 
sein  Wasser  wieder  durch  die  von  den  Ufern  losgelösten  Sink- 
stoffe. Die  Sohle  des  Ghor  wird  hier  nämlich  von  vorzugsweise 
mergeligen  Ablagerungen,  den  sogenannten  Lisanmergeln ,  ge- 
bildet, die  sich  am  Grunde  des  großen  Sees  niederschlugen,  der 
in  der  Glazialzeit  das  ganze  Ghor  in  einer  Länge  von  etwa 
250  km,  fast  so  lang  wie  die  mittelrheinische  Tiefebene  zwischen 
Basel  und  Mainz,  und  bis  400  m  über  dem  Spiegel  des  heutigen 
Toten  Meeres  ja  bis  30  m  über  dem  Mittelmeere  füllte,  aber 
nach  HuU  niemals  mit  dem  Meere  in  Verbindung  gestanden  hat. 
Da  die  Schwelle  im  Wadi  Arabah  229  m  über  dem  Meeres- 
spiegel liegt,  so  lag  der  Spiegel  dieses  großen  diluvialen  Ghor- 
sees  noch  immer  235  m  tiefer.  Die  drei  heutigen  Seen,  oder 
wenigstens  die  zwei  großen,  sind  die  die  tiefsten  Stellen  der 
Hohlform  füllenden  Reste  jenes.  Derselbe  hat  allenthalben  Spu- 
ren seines  Daseins  in  der  Form  von  Terrassen  bildenden  Ab- 
lagerungen hinterlassen,  die  einen  zeitweilig  verschiedenen  Stand 
andeuten.  Bei  Jericho  lassen  sich  deren  drei  unterscheiden. 
Eine  Niederterrasse  bildet  die  Ebene  von  Jericho.  Sein  Spiegel 
war  in  der  Pluvialzeit  bedeutenden  Schwankungen  unterworfen. 
Die  heutige  breite  Sohle  der  Lisanmergel  bildete  sich  in  der 
dritten  Pluvialzeit,  während  deren  der  Ghorsee  wahrscheinlich  den 
Tiberiassee  nicht  mehr  umfaßte.  Dieselbe  hat  im  Mittel  eine 
Breite  von  15  km,  verengt  sich  aber  unterhalb  der  fruchtbaren 
Talebene  von  Besan  noch  einmal  auf  2  km.  Sie  liegt  im  all- 
gemeinen 1000  m  unter  der  Umgebung.  Die  seitlich  einmünden- 
den Flüsse  und  Bäche  haben  die  ursprünglich  ebene  Talsohle 
reich   gegliedert   und   zerschnitten   und    der  Jordan   selbst  hat  in 


—     III     — 

derselben,  hin  und  her  pendelnd,  Inseln  bildend,  aber  auch  an 
Stromschnellen  reich  ein  etwa  2  km  breites,  oft  recht  steilwandiges, 
alluviales  Flutbett  etwa  15  m  tief  ausgewaschen.  Heute  genügt 
ihm  aber  meist  innerhalb  desselben  eine  etwa  30  m  breite, 
3 — 4  m  tiefe  Rinne.  Diese  füllt  er  im  Frühling  bei  der  Schnee- 
schmelze im  Antilibanon  bis  zum  Rande,  ja  ausnahmsweise  über- 
spült er  wohl  örtlich  auch  einmal  das  Flußbett.  Ein  echter 
Galeriewald,  Ez-Zör  genannt,  aus  Tamarisken,  Oleandern  usw. 
hier  und  da  300 — 400  m  breit  begleitet  den  Fluß.  Im  Herbste 
ist  der  Fluß  unterhalb  des  Tiberiassees  an  vielen  Stellen  leicht 
zu  überschreiten,  bis  ihn  der  Jarmuk  wieder  wasserreich  macht. 
Er  bildet  mehrfach  üppig  grüne  Inseln.  Auch  erkennt  man,  daß 
er  seinen  Lauf  mehrfach  geändert  hat.  Das  entspricht  den  zahl- 
losen, seinen  Lauf  verlängernden  Windungen,  da  tatsächlich  die 
Entfernung  beider  Seen  voneinander  wenig  über  100  km  beträgt. 
In  römischer  Zeit  wurde  er  von  mehreren  Brücken  überschritten, 
deren  Reste  noch  erhalten  sind.  Heute  sind  deren  zwei  vor- 
handen, die  eine  bei  Jericho,  die  andere  unterhalb  des  Tiberias- 
sees, Dschisr  el  Mudschami,  wo  ihn  auch  die  Eisenbahn  über- 
schreiten wird.  Kein  Boot  belebt  denselben,  und  sein  Fisch- 
reichtum wird  fast  gar  nicht  ausgebeutet.  Die  Befahrung  des 
Flusses  ist  der  Stromschnellen  wegen  äußerst  gefährlich.  Die 
ersten  Befahrer  desselben,  Costigan  1837  und  Molineux  1847, 
die  leichte  Schiffsboote  vom  Meere  herübergebracht  hatten,  gingen 
an  den  überstandenen  Strapazen  zugrunde.  Auch  von  der  dritten 
Expedition  unter  Lynch    1848  erlagen  mehrere  Teilnehmer. 

Auch  im  Altertum  waren  die  Ufer  des  Jordan  wenig  belebt, 
niemals  hat  an  seinen  Ufern  ein  größerer  Ort  gelegen.  Jetzt 
liegen  unterhalb  des  Tiberiassees  einige  kleine  Dörfer  an  ihm. 
Dennoch  war  er  der  Stolz  der  Israeliten  und  heute  ist  er  für  die 
ganze  Christenheit  ein  so  zu  sagen  heiliger  Fluß.  Auch  zu  künst- 
licher Berieselung  ist  er  niemals,  eben  der  reißenden  Strömung 
und  der  tiefen  Lage  des  Wasserspiegels  wegen  verwertet  worden. 
Jetzt  benutzt  man  ihn  unterhalb  des  Tiberiassees  dazu,  indem 
man  niedere,  etwas  urwüchsige  Wehre  errichtet,  die  freilich  nach 
jedem  Hochwasser  wieder  hergestellt  werden  müssen.  Doch 
können  so  nur  kleine  Flächen  im  Sommer  und  im  Herbst  berieselt 
werden.  Aber  wenn  man  dazu  schreiten  wird,  den  Stand  des 
Tiberiassees    durch   ein    Schleußenwerk    zu    regeln,    wie    an    den 


—        112        — 

oberitalischen  Seen,  dann  wird  man  einen  großen  Teil  des  Ghor 
in  einen  Garten  verwandeln,  in  welchem  man  die  Früchte  der 
Tropen  ziehen  kann.  Das  gleiche  gilt  von  den  Nebenflüssen 
des  Jordan,  die  allenthalben  aus  Engtälern  in  das  Ghor  eintreten 
und  an  denen  Talsperren  leicht  zu  errichten  wären,  so  daß 
Wasser  für  Berieselungszwecke  und  für  elektrische  Anlagen  hin- 
reichend zur  Verfügung  steht  und  man  dem  Ghor  eine  Zukunft 
in  wirtschaftlicher  Hinsicht  voraussagen  kann,  welche  die  größte 
Blütezeit  des  Altertums  in  Schatten  stellen  würde.  Der  Jarmuk, 
der  größte  linke  Nebenfluß,  der  unterhalb  des  Tiberiassees  ein- 
mündet, steht  an  Wasserfülle  dem  Jordan  kaum  nach.  Ehemals 
waren  es  fast  ausschließlich  diese  Nebenflüsse  und  Quellen, 
welche  Berieselungen  und  die  Schaff"ung  von  Oasen  ermöglichten. 
Allenthalben  sind  noch  Trümmer  dieser  Bewässerungsanlagen  vor- 
handen. Es  kennzeichnet  das  Ghor,  daß  allenthalben  an  der 
West-  wie  an  der  Ostseite  am  Fuße  des  Steilabsturzes  starke, 
meist  warme  Quellen  hervorbrechen.  Alle  Nebenflüsse  sind  auch, 
soweit  sie  ausdauernde  sind,  von  solchen  gespeist.  Der  Dscha- 
lud  z.  B.,  der  im  Altertume  die  ganze  breite  Ausweitung  des 
Ghor  bei  Besan  (Scythopolis)  in  einen  blühenden  Garten  ver- 
wandelte, entspringt  in  der  gleichnamigen,  starken,  einen  Teich 
bildenden  Quelle  unter  der  Schwelle  von  Zerin.  Es  ist  wohl  die 
Quelle  von  Jesreel,  wo  Saul  und  Jonathan  vor  ihrer  letzten  ver- 
hängnisvollen Schlacht  ihr  Lager  hatten.  Scythopolis  war  zugleich 
dadurch  wichtig,  daß  hier  von  der  Ebene  Esdrelon  (jetzt  Merdsch 
ihn  'Amir  genarmt)  und  vom  Mittelmeere  her  ein  verhältnismäßig 
bequemer  Weg  über  die  Schwelle  von  Zerin  (123)  ins  Ghor  und 
über  Dschisr  el  Mudschami  ins  Ostjordanland  führte.  Reste  von 
Kanälen  und  Brücken,  Trümmer  von  Bauwerken  aus  dem  Alter- 
tum und  Mittelalter  weithin  verstreut  zeugen  von  der  Bedeutung 
dieses  Punktes.  Besan  gegenüber,  jenseits  des  Jordan,  in  der 
Schlucht,  über  welcher  die  kleine  Veste  Pella  thronte,  bricht  noch 
eine  starke  Quelle  hervor.  Von  ähnlicher  Bedeutung,  auch  auf 
der  obersten  Talterrasse  des  Ghor  gelegen  und  von  starken 
Quellen  ins  Leben  gerufen  war  auch  die  Oase  von  Phasaelis, 
südlich  von  Besan.  Dort  kreuzt  der  Weg  von  Es  Salt,  dem 
Hauptorte  des  Ostjordanlandes,  nach  Nabulus  das  Ghor.  Die 
größte  Berieselungsoase  des  Ghor  war  jedoch  die  von  Jericho, 
der    wichtigste   Punkt    im    ganzen    Ghor,    der    denn    auch    zuerst 


—      113     — 

wieder  aufzuleben  beginnt.  Jericho  liegt  da,  wo  der  das  ganze 
südliche  Ostjordanland  jenseits  dem  Verkehrshindernis  des  Toten 
Meeres  mit  dem  Westjordanlande  und  Jerusalem  am  Nordende 
des  Toten  Meeres  das  Ghor  kreuzen  muß,  zumal  die  Schlucht 
des  Wadi  el  Kelt  einen  verhältnismäßig  bequemen  Aufstieg  auf 
das  Hochland  gewährt.  Der  Eingang  in  die  Schlucht  war  durch 
zwei  Vesten  gesperrt,  der  Bach  selbst,  der  sein  Dasein  einer  in 
der  wilden  Schlucht  hervorbrechenden  Quelle,  Ain  el  Kelt,  ver- 
dankt, wurde  zur  Berieselung  nach  Jericho  geleitet  und  über  die 
oberste  Talterrasse  des  Ghor  ausgebreitet.  Noch  früher  aber  wird 
man  zu  gleichem  Zwecke  die  starken,  hier  am  Ostrande  einer 
abgestürzten  Scholle  von  Kreidekalk  am  Fuße  der  Felswand  des 
Dj.  Karantal  hervorbrechenden  Quellen  Ain  es-Sultan  und  Ain 
Duk  verwertet  haben.  Jericho  selbst  liegt  auf  der  Scholle.  Wasser- 
leitungen, zum  Teil  auf  hohen  Aquädukten  über  Wadi  el  Kelt 
geführt,  durchfurchen  die  Ebene  in  allen  Richtungen,  zahlreiche 
Sammelteiche  sind  noch  erkennbar.  Mit  Hilfe  dieser  reichen 
Wasservorräte  war  es  möglich,  in  dieser  tiefen  Erdsenke,  die  mit 
großer  Lufttrockenheit  bei  milden  Wintern  ungeheure  Sommer- 
hitze verbindet,  also  ein  wahres  Dattelpalmenklima  besitzt,  den 
denkbar  üppigsten  Pflanzenwuchs  und  die  höchsten  Erträge  zu 
erzielen.  In  der  Tat  müßte  hier  die  Dattelpalme  Früchte  herv'or- 
brüigen,  die  zu  den  besten  gehören,  die  man  überhaupt  kennt. 
Während  heute  nur  wenige  wieder  neu  angepflanzte  Dattelpalmen 
vorhanden  sind,  lag  hier  im  Altertume  und  zum  Teil  noch  im 
Mittelalter  ein  großer  Palmenhain  und  blühte  namentlich  im 
Mittelalter  hier  Zuckerrohrbau.  Jericho  war  die  prachtvolle  Win- 
terresidenz des  Herodes.  Die  Ernte  ist  dort  vier  Wochen  früher 
wie  bei  Jerusalem. 

Weniger  begünstigt  erscheint  die  Osthälfte  des  Ghor,  obwohl 
dort  größere  und  wasserreichere  Nebenflüsse  einmünden  und  es 
auch  an  heißen  Quellen  nicht  fehlt.  Auch  die  Talsohle  ist  strecken- 
weise 4  km  breit.  Wie  die  von  Jericho  und  von  Tiberias  hatten 
auch  diese  heißen  Quellen  im  Altertume  zur  Entwicklung  von 
Badeorten  den  Anstoß  gegeben.  So  die  Quellen  von  El  Hammi 
in  dem  Talkessel  des  unteren  Jarmuktales,  nahe  seinem  Ausgange 
ins  Ghor.  Noch  sind  hier  die  Trümmer  alter  Prachtbauten  er- 
halten. Da  auf  der  Höhe  darüber  die  altberühmte  Festung  Ga- 
dara  lag,  von  der  auch   noch   großartige  Trümmer  erhalten  sind, 

Fischer.  Mittelmeerbilder.  8 


—     114     — 

so  nannte  man  sie  wohl  auch  die  Bäder  von  Gadara.  Andere 
berühmte  heiße  Quellen  waren  die  63^  C  warme  Kallirrhoe  im 
unteren  Tale  des  Wadi  Zerka  und  die  Ain  es-Sara  unmittelbar 
am  Ufer  des  Toten  Meeres.  Viele  dieser  Quellen  sind  schwefel- 
und  kochsalzhaltig.  Solche  geben  unterhalb  Phasaelis  einem 
Bache  Ursprung,  der  geradezu  danach  Mellaha,  der  Salzbach, 
genannt  wird. 

Eine  erwähnenswerte  Erscheinung  ist  es,  daß  alle  Neben- 
flüsse des  Jordan  bei  ihrem  Eintritt  ins  Ghor  einen  Winkel  tal- 
abwärts machen,  also  ganz  wie  die  Nebenflüsse  des  Rheins  in 
der  so  ähnlichen  mittelrheinischen  Tiefebene.  Natürlich  alles  im 
kleinen.  Ja,  selbst  Gegenstück  von  111  und  Moder,  die  dem 
Rheine  lange  parallel  fließen,  finden  sich  in  dem  eben  genannten 
Wadi  Mellaha  und  im  Wadi  Fara,  der  die  Mukhraebene  ent- 
wässert. Er  fließt  dem  Jordan  9  km  weit  parallel.  Neben  der 
Stoßkraft  des  Hauptflusses  dürften  wohl  Berieselungskanäle  bei 
dieser  Erscheinung  eine  Rolle  spielen. 

Heute  Hegt  das  Ghor,  abgesehen  von  Jericho,  noch  öde  und 
unbelebt  da.  Selbst  die  arabischen  Nomaden,  die  hier  im  Winter 
ihre  schwarzen  Zelte  aufschlagen  und  ihre  Herden  weiden,  auch 
ein  wenig  Ackerbau  treiben,  vertreibt  die  sengende  Glut  des 
Sommers.  Die  Trümmer,  auf  die  man  auf  Schritt  und  Tritt  stößt, 
und  die  zahlreichen  Teils,  die  durch  das  Ghor  verstreut  sind, 
zeugen  aber  von  der  dichten  Besiedelung  im  Altertume  und  er- 
wecken Hoff"nungen  für  die  Zukunft. 

Das  Tote  Meer  ist  die  Verdunstungspfanne  für  alle  Ge- 
wässer des  ganzen  südlichen  Drittels  des  syrischen  Grabens  und 
eines  meridionalen  Landstreifens,  der  an  der  Westseite  des  Ghor 
schmal,  an  der  Ostseite  50,  ja  im  Hauran  100  km  und  mehr 
breit  ist  und  auch  den  ganzen  südlichen  Antilibanon  umfaßt. 
Schon  diese  Eigenschaft  als  Verdunstungspfanne  vermöchte  den 
hohen  Salzgehalt  von  24 — 2  6*yo»  wovon  7%  Kochsalz,  zu  er- 
klären, nach  dem  es  von  den  Israeliten  das  Salzmeer  (Bahr  Lut 
bei  den  Arabern)  genannt  wurde.  Sehr  viel  tragen  aber  auch 
die  an  Kochsalz  und  Chlorkalzium  sehr  reichen  Thermalquellen 
von  Tiberias,  El  Hammi  u.  a.  bei.  Von  diesen  stammen  auch 
die  im  Seewasser  enthaltenen  Brommagnesium  und  Bromkalium 
her.  Die  Farbe  des  Sees  ist  dunkelblau.  Die  ätzende  Salzlauge 
macht  die  Verwendung  kleiner  Ruderboote  unmöglich.    Sie  greift 


—     115     — 

Holz  wie  Metall  an.  Zwei  Metallboote,  die  1894  auf  den  See 
gebracht  worden  waren,  wurden  bald  unbrauchbar.  Ein  kleiner 
Dampfer,  der  1897  auf  den  See  gebracht  war,  namentlich  zur 
Unterhaltung  des  Verkehrs  mit  dem  aufblühenden  Kerak,  ist  auch 
bald  unbrauchbar  geworden.  Ein  kleines  Dampfboot  des  grie- 
chischen Klosters  bei  Jericho  fährt  ein  Stück  auf  dem  Jordan 
und  dem  See.  Die  Ufer  des  Sees  sind  auch  meist  so  steil,  daß 
das  Landen  und  der  Verkehr  auf  dem  See  überhaupt  schwierig  ist. 
Auch  kentern  die  Boote,  da  sie  bei  dem  schweren  Wasser  nicht 
tief  einsinken,  bei  den  alle  derartigen  Seen  kennzeichnenden 
plötzlichen  Windstößen  sehr  leicht.  Wie  bei  Gewitterschwüle 
beängstigend  liegt  es  bei  der  Hitze  und  dem  hohen  Luft- 
drucke von  785 — 790  mm  auf  dem  Menschen.  An  den 
Ufern  und  auch  mitten  auf  dem  See  kommen  Schwefelwasser- 
stoffaushauchungen  vor.  Bei  niedrigstem  Stande  ist  der  See 
rings  von  einem  Salzkrustensaume  umgeben,  den  die  Umwohner 
ausbeuten.  Ja,  sie  legen  kleine  Teiche  an,  in  denen  sie  das 
Seewasser  verdunsten  lassen.  Namentlich  am  Südende  dehnt 
sich  eine  Salzebene  (Es  Sebcha)  aus,  die  nur  bei  höchstem 
Wasserstande  überflutet  ist.  Man  erkennt  allenthalben,  daß  der 
See  vor  nicht  langer  Zeit  weiter  nach  Süden  reichte  und  bei 
geringem  Steigen  seines  Spiegels  wieder  so  weit  reichen  würde. 
Dort  gibt  es  gute  Winterweide  und  auch  ausgedehnte  Bestände 
von  Tamarisken,  Akazien  u.  dgl.  Hier  erhebt  sich  südwestlich 
vom  See  der  Dj.  Usdum,  ein  30 — 45  m  hoher  Berg,  in  den  un- 
teren Schichten  aus  bläulichem,  kristallinischem  Salze,  darüber 
Mergelschichten,  die  hier  und  da  in  eine  schützende  feste  Kalk- 
kruste übergehen,  noch  18  m  über  dem  Seespiegel,  von  den 
Regenwassern  wild  zerrissen,  reich  an  Löchern  und  Höhlen  und 
zu  phantastischen  Formen  gegliedert.  Eine  dieser  Salzsäulen  hat 
das  Volk  mit  dem  Namen  Tochter  des  Schechs  Lot  bezeichnet. 
Auch  an  Asphalt  ist  die  Umgebung  des  Toten  Meeres  reich. 
Die  Gesteine  erscheinen  mit  Asphalt  durchtränkt,  nach  heftigen 
Erdbeben  steigen  wohl  Asphaltschollen  von  der  Sohle  des  Sees 
auf.  Der  asphaltdurchtränkte  Kalkstein  von  Nebi  Musa  (Moses 
Grab)  bei  Mar  Saba  wird  in  Bethlehem  als  Mosesstein  zu  Schmuck- 
steinen verarbeitet.  Nach  dem  Geologen  Blankenhorn,  wohl  dem 
besten  Kenner  des  Toten  Meeres,  würde  hier  eine  bedeutende 
Asphaltgewinnung  möglich  sein.    Das  Wasser  des  Toten  Meeres, 


—      ii6     — 

das  so  schwer  ist,  daß  der  Mensch  darin  nicht  untersinkt,  ist  für 
alles  Tierleben  ungeeignet.  Die  Fische,  welche  der  Jordan  hinein- 
trägt, sterben  sofort.  Den  jeweiligen  Wasserstand  des  Sees  kenn- 
zeichnen hier  und  da  vorhandene  Lagen  von  Treibholz.  HuU 
ist  der  Meinung,  daß  sich  der  Spiegel  des  Sees  noch  immer 
senkt. 

Die  Länge  des  Sees  beträgt  76  km,  also  so  viel  wie  der 
Genfer  See,  seine  größte  Breite  15.7  km,  der  Flächeninhalt  915  qkm. 
Nach  Süden  hin  verengt  er  sich,  indem  von  Osten  eine  flache 
Halbinsel,  El  Lisan,  die  Zunge  genannt,  vorspringt,  auf  4.5  km. 
In  der  so  abgetrennten  südlichsten  Bucht  beträgt  die  größte  Tiefe 
nur  3.6  m,  ja,  bei  niedrigstem  Wasserstande  im  Spätsommer  kann 
man  hier  zuweilen  den  See  queren.  Im  Hauptbecken  ist  eine 
größte  Tiefe  von  399  m  bekannt.  Im  Frühling  hebt  sich  der 
Wasserspiegel  infolge  der  dann  reichlichen  Wasserzufuhr  durch 
den  Jordan  um  4 — 6  m  über  den  niedrigsten  Stand.  Man 
schätzt  die  Wasserzufuhr  durch  den  Jordan  auf  6  Mill.  Tonnen 
im  Tagesmittel,  so  daß  also  eine  Schicht  von  13.5  mm  täglich 
verdunsten  muß.  Eine  dicke  Dunstschicht,  die  sich  bisweilen 
über  den  See  lagert,  macht  die  Verdunstung  förmlich  sichtbar. 
Der  See  ist  so  steil  in  das  Tafelland  eingesenkt,  daß  man  an 
vielen  Stellen  fast  auf  ebenem  Wege  bis  nahe  an  den  See  heran- 
kommen kann,  ohne  es  zu  ahnen,  bis  man  ihn  plötzlich 
1000 — II 00  m  tief  unter  sich  liegen  sieht.  So  liegt  El  Lisan 
gegenüber  auf  steiler  Höhe  die  alte  Veste  Masada  der  Makka- 
bäer  und  des  Herodes,  die  letzte  Zufluchtsstätte  der  jüdischen 
Kämpfer  nach  Jerusalems  Zerstörung.  Und  auf  der  Ostseite 
ähnlich  die  Veste  Machärus.  Die  Ufer  des  Sees  sind  daher 
völlig  unbelebt.  An  der  Westseite  gibt  es  überhaupt  nur  eine 
einzige  Süßwasserquelle,  A'in  Dschidi  (Engedi,  Bocksquelle),  120  m 
über  dem  See.  Sie  hatte  im  Altertum  eine  kleine  üppige  Oase 
geschaff"en,  und  ist  noch  heute  reich  an  seltenen  tropischen  Pflan- 
zen.    Ein  schmaler  Felspfad  führt  am  Westufer  entlang. 

Sodom  und   Gomorrha. 

Eine  besondere  Beachtung  verdient    das  Südende  des  Sees. 

Der   Name    des   Dj.  Usdum   erinnert   an    Sodom.     An   Stelle    der 

südlichen  seichten  Bucht  und  des  anschließenden  Salzmorasts  sei 

das  Tal  Siddim   und  die  Stätte  von  Sodom,   Gomorrha,  Adama, 


—      117      — 

Zebojim  und  Zoar  zu  suchen.  Hier  lag  offenbar  nach  den 
Worten  der  Bibel  eine  üppige  Berieselungsoase.  Zoar,  die  fünfte 
nicht  untergegangene  Stadt,  lag  im  Osten  am  Rande  der  Oase 
auf  festem  Felsboden,  vielleicht  an  Stelle  des  heutigen  Chirbet 
es  Safije,  das  noch  heute  in  einer  kleinen  üppigen  Berieselungs- 
oase liegt,  die  der  vom  Hochlande  von  Moab  herabkommende 
gleichnamige  Fluß  am  Südostende  des  Sees  schafft.  Daß  es  sich 
bei  dem  Untergange  von  Sodom  und  Gomorrha,  an  deren  Stelle 
das  Salzmeer  trat,  um  ein  geschichtliches  Ereignis  handelt,  unter- 
liegt keinem  Zweifel,  ja  man  glaubt  das  Ereignis  mit  Rücksicht 
auf  die  in  der  Bibel  erwähnte  Sonnenfinsternis  und  andere  Um- 
stände vielleicht  auf  1780  v.  Chr.  festlegen  zu  können.  Die 
versunkene  und  überflutete  Fläche  mag  50 — 100  qkm  betragen 
haben.  Über  die  Deutung  ist  ein  wissenschaftlicher,  der  Sache 
jedenfalls  förderlicher  Streit  zwischen  den  beiden  orts-  und  sach- 
kundigen deutschen  Geologen  Blankenhorn  und  Nötling  ent- 
brannt. Nötling  bringt  das  Ereignis  mit  einem  vulkanischen  Aus- 
bruche in  Verbindung,  wie  solche  in  geschichtlicher  Zeit  hier 
noch  stattgefunden  hätten.  Ganz  in  der  Nähe  in  Moab  zeigen 
sich  überall  Spuren  vulkanischer  Tätigkeit.  Durch  das  Erdbeben 
sei  ein  verstopfter  Eruptionskanal  geöffnet  worden,  ein  Ausbruch 
habe  Asche  und  LapiUi  ausgeschüttet  und  habe  eine  Rauchsäule 
aufsteigen  machen:  die  Rauchsäule,  die  Abraham  am  Rande 
des  Hochlandes  bei  Hebron  im  Osten  aufsteigen  sah,  „glich 
der  Rauchsäule  aus  einem  Schmelzofen".  Blankenhorn  dagegen 
bringt  das  Ereignis  in  Verbindung  mit  einer  weiteren  Entwick- 
lung der  Grabenversenkung  durch  Untersinken  längs  der  Spalten. 
Er  sieht  in  demselben  die  Fortsetzung  oder  das  letzte  Stadium 
der  Vorgänge,  die  die  ganze  Grabenversenkung  gebildet  haben. 
Den  Feuer-  und  Schwefelregen  erklärt  er  durch  hervordringende, 
durch  Selbstentzündung  in  Brand  geratene  Kohlenwasserstoff- 
gase und  Schwefelwasserstoffgase.  Die  Bibelworte  deuten  auf 
Niederwerfen  und  Einsturz  der  Städte  durch  Erdbeben.  Die 
ersten  leichten  Stöße  warnten  Lot.  Die  Städte  wurden  „um- 
gekehrt". Die  losen  Massen  auf  der  Talsohle  setzten  sich  zu- 
sammen, das  Grundwasser  brach  hervor  und  das  Tote  Meer 
überflutete  die  Niederung,  Erscheinungen,  die  ähnUch  auch  in 
neuerer  Zeit,  z.  B.  1862  am  Südende  des  Baikalsees  beobachtet 
worden  sind. 


—     ii8     — 

Ostjordanland. 

In  höherem  Maße  als  das  Westjordanland  ist  das  Ostjordan- 
land noch  als  Tafelland  und  Hochebene  erhalten.  Nur  gegen 
das  Ghor  hin  in  einem  etwa  50  km  breiten  Gürtel  ist  es  je 
näher  am  Ghor  um  so  mehr  zerschnitten.  Die  tiefen,  engen 
Flußtäler  haben  auch  hier  kleine  Sonderlandschaften  geschaffen, 
die  alle  ihr  Gesicht,  so  zu  sagen,  dem  Ghor  und  dem  West- 
jordanlande zukehren.  Der  Arnon  (Modschib),  der  wasserreichste 
Zufluß  des  Toten  Meeres,  kommt  Am  Dschidi  gegenüber  aus 
einer  engen  Felsschlucht  heraus,  die  heute  die  Grenze  zwischen 
Kerak  und  Belka,  wie  im  Altertum  zwischen  Moab  und  den 
Amoritern  bildet.  Nördlich  davon  liegt  die  Landschaft  Belka 
nordwärts  bis  zum  Jabbok,  zwischen  diesem  und  dem  Jarmuk 
Adschlun.  Der  Jarmuk,  dessen  unteres  Tal  auf  einer  langen 
Strecke  ungangbar  ist,  wird  im  Sommer  von  den  Quellen  von 
El  Muzerib,  den  Sümpfen  bei  Dilly  und  dem  Allan  genährt.  Im 
Winter  führt  er  die  Gewässer  des  Hauran  und  der  ihm  vor- 
gelagerten Hochebene  zu.  Nördlich  vom  Jarmuk  bis  zum  Her- 
mon  liegt  östlich  vom  Tiberiassee  die  Landschaft  Dcholan.  Ost- 
lich von  dieser  liegt  En  Nukra,  die  im  weiteren  Sinne  schon  zum 
Hauran,  dem  sich  östlich  davon  auftürmenden  vulkanischen  Ge- 
birgslande  gerechnet  wird. 

Die  südlichen  Landschaften  sind  einförmige  Kreidekalktafel- 
länder, deren  höchste  stets  dem  Ghor  nahegerückte,  aber  wenig 
ausgeprägte  Erhebungen  11 00  ja  1200m  übersteigen.  Sie  be- 
sitzen zum  Teil  wie  Moab  eine  fruchtbare  Decke  von  Terra  rossa, 
dem  unlöslichen,  tonigen  Rückstande  des  verwitterten  Kalkfels, 
und  haben  so  ausgezeichneten,  von  dem  Winterregen  befruchteten 
Weizenboden.  Treten  auch  schon  in  Moab  vielfach  und  in 
größerer  Ausdehnung  vulkanische  Gesteine  auf,  so  verschwinden 
jenseits  des  Jarmuk  die  Kreidegesteine  unter  ungeheuren  Basalt- 
decken, Lavaströmen  und  den  Zersetzungsstoffen  jungeruptiver 
Gesteine.  So  steigt  auch  das  Dscholan  mit  etwa  700  m  mittlerer 
Höhe,  Galiläa  um  etwa  100  m  überhöhend,  nach  Norden  und 
Osten  bis  auf  etwa  1000  m  an,  wo  sich  einzelne  eine  ^;^  km 
lange  südsüdöstliche  Reihe  bildende  Vulkankegel,  alle  als  Teil 
bezeichnet,  mit  wohlerhaltenen  Kratern  bis  nahe  an  1300  m, 
höchstens    300   m    relativ    erheben    und    selbst    kleine,    dauernd 


—      119     — 

(Birket  Ram)  oder  nur  im  Winter  gefüllte  Maare  vorkommen. 
Obwohl  meist  steinig,  ist  der  Boden  doch  auch  hier  außerordent- 
lich fruchtbar.  Noch  mehr  gilt  dies  von  der  sich  ostwärts  bis 
zum  Fuße  des  Haurangebirges  von  550  m  im  Westen  sich  auf 
42  km  allmähUch  zu  880  m  im  Osten  erhebenden  Hochebene 
En  Nukra.  Sie  wird  so,  die  Höhlung,  genannt  wegen  ihrer  von 
Bergen  und  Hügelzügen  umgrenzten  fiachkess eiförmigen  Ober- 
fläche. Es  ist  die  Landschaft  Basan,  das  weiche  Land,  der 
Israeliten,  ein  Name,  den  man  auch  mit  dem  arabischen  batne, 
betene,  steinloses,  daher  fruchtbares  Land  in  Beziehungen  setzt. 
In  der  Tat  herrscht  hier  rotbrauner,  tiefgründiger,  lockerer  Boden, 
die  bekannte  Hauranerde  (ard  hamra),  vor,  ein  vulkanischer  Zer- 
setzungsstoff, der  das  herrlichste  Weizenland  liefert.  Wird  doch 
noch  heute  das  nur  im  Winter  Wasser  führende  Wadi  Zedi,  die 
größte  aus  dem  Hauran  zum  Jarmuk  gehende  Wasserrinne,  Wadi 
ed  Deheb,  d.  h.  die  Goldaue  genannt.  Wunderbare  Farben- 
gegensätze bietet  dieses  Land  im  ersten  Frühling,  wenn  sich 
unter  intensiv  blauem  Himmelszelt  die  schwarzen  Steinmassen  der 
Ortschaften  inmitten  der  üppig  grünen  Weizenfelder  ringsum  auf- 
fällig abheben.  Im  Sommer  herrscht  nur  eine  Farbe:  rotbraun. 
Diese  jetzt  wieder  besiedelte  und  fast  durchaus  angebaute  Land- 
schaft ist  etwa  3000  qkm  groß.  Um  die  reichen  Weizenernten 
derselben  zur  Ausfuhr  zu  bringen,  wurde  von  Damaskus  her  bis 
El-Muzerib,  dem  wasserreichen  Rastplatze  an  der  großen  Pilger- 
straße, ins  Herz  dieser  Weizengefilde  die  erste  Eisenbahn  gebaut. 
Über  En  Nukra  hat  hochgradige  vulkanische  Tätigkeit  auf 
etwa  900  m  hoher  Unterlage  das  Haurangebirge,  nach  seinen 
jetzigen  Bewohnern  wohl  auch  Drusengebirge  genannt,  aufgetürmt, 
teils  aus  losen  Auswurfsmassen,  teils  aus  Laven,  ein  sich  auf 
80  km  bis  35  km  Breite  in  nordsüdUcher  Richtung  erstreckendes 
Gebirgsland,  ein  Wechsel  mächtiger  Kegel  oft  mit  noch  wohl- 
erhaltenen Kratern  und  sanft  geneigten,  steinigen  Lavafeldern. 
Der  höchste  dieser  Kegel,  der  Teil  ed  Dschena  erreicht  1839  m 
Höhe,  die  höchste  Erhebung  von  Palästina  überhaupt.  Das  Hau- 
rangebirge bewirkt  hier  die  Verbreiterung  des  Ostjordanlandes 
(und  Palästinas)  von  etwa  50  km,  Grenze  des  Kulturlandes  und 
der  Wüste,  auf  130  km,  indem  durch  dieses  Gebirge  als  Wolken- 
verdichter das  Kulturland  so  weit  nach  Osten  vorgeschoben  wird. 
Zu  Palästina  muß  dies  Gebiet  gehören  und  hat  es  auch  fast  stets 


—        I20       

historisch  gehört,  da  es  sich  nach  Westen  zum  Ghor  neigt  und 
dorthin  entwässert  wird,  das  große  Lavafeld  El  Ledscha  auch 
von  Damaskus  scheidet.  Durch  dies  Gebirge  ist  Palästina  um 
drei  kleine  Sondergebiete  bereichert  worden:  die  bereits  ge- 
schilderte Landschaft  En  Nukra,  steinloses  ebenes  Weizenland, 
Hauran,  durch  Aufsammeln  der  Steinbrocken  zum  großen  Teil 
anbaufähiges  Gebirgsland  und  El  Ledscha,  eine  Felslandschaft 
mit  eingestreuten  kleinen  anbaufähigen  Flecken.  Durch  die  Ar- 
beit vieler  Geschlechter  ist  in  einem  großen  Teile  des  Hauran 
die  Fülle  lose  herumliegender  Steinbrocken,  die  den  Boden  be- 
deckten, zu  Feld-  und  Flurgrenzwällen  aufgetürmt  —  die  gleiche 
Absicht  gab  in  Schleswig-Holstein  Anlaß  zur  Bildung  der  Knicks  — ■ 
und  die  War  (griech.  Trachon)  in  Kulturland  umgewandelt  wor- 
den. Dieses  Gebiet  war  vor  allem  in  den  Jahrhunderten  vor 
dem  Einbruch  der  nomadischen  Träger  des  Islam  aus  Arabien 
ein  dicht  bevölkertes  Kulturland.  Bostra,  heute  Bosra  eski  Scham 
genannt,  war  im  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  nach  Ammian  ein  ingens 
oppidum,  dessen  Umfang  auf  6 — 7  km  geschätzt  werden  kann. 
Es  mag,  wenn  man  die  niedrigen  Häuser,  die  großen  Teiche 
innerhalb  der  Stadt  in  Betracht  zieht,  80000  Einwohner  gehabt 
haben.  Und  andere  Siedelungen  standen  Bostra  nur  wenig  nach. 
Eine  letzte  Sonderlandschaft  haben  die  gewaltigen,  von  den 
Hauranvulkanen  nach  Nordwesten  geflossenen  Lavamassen  ge- 
schaffen, El  Ledscha,  d.  h.  die  Zuflucht,  nämlich  der  Drusen 
gegenüber  den  räuberischen  Beduinen,  wohl  auch  Kalat  Allah, 
Festung  Gottes  genannt.  Es  ist  ein  ungeheures,  sich  von  goo 
auf  600  m  nach  Nordwesten  abdachendes  Lavafeld.  Mit  seiner 
scharfkantigen,  von  Sprüngen  durchsetzten  Oberfläche,  daher  in 
hellenistischer  Zeit  Trachon,  Trachonitis  genannt,  gleicht  es  einem 
wild  erregten,  plötzlich  erstarrten  Meere  und  ist  es  namentlich 
für  Kamele  und  Pferde  ganz  ungangbar,  nur  schmale  Fußpfade 
winden  sich  hindurch.  Die  Römer  freilich  hatten  von  Damaskus 
her  eine  Straße  hindurchgelegt.  Mit  einem  etwa  10  m  hohen 
Steilrande,  Lohf  genannt,  steigt  es  auf  der  ebenen  Umgebung 
auf  und  ist  so,  namentlich  mit  Hilfe  schon  vorher  aufgehäufter 
Steine  leicht  zu  verteidigen.  Zahlreiche  Höhlen  und  sonstige 
Verstecke  finden  sich,  natürliche  durch  Zisternen  ergänzte  Wasser- 
löcher, die  nur  dem  Einheimischen  bekannt  sind,  kleine,  mit 
fruchtbaren  Zersetzungsstoffen  gefüllte  und  daher  fruchtbare  Ver- 


121        — 

tiefungen,  die  ehemals  mit  Reben  und  Fruchtbäumen  bepflanzt 
waren,  sind  durch  die  Felswildnis  verstreut,  ermöglichen  dauernde 
Bewohnung.  Noch  1838  bestürmte  Ibrahim  Pascha  von  Ägypten 
mit  seinem  ganzen  Heere  den  von  5000  Drusen  verteidigten  Lohf 
neun  Monate  lang  mit  einem  Verluste  von  20  000  Mann  ver- 
gebens.    Ähnlich  ein   türkisches  Heer   1850. 

Das  Klima. 
Das  Klima  von  Palästina  ist  nicht  lediglich  von  der  Lage 
des  Landes  im  südlichen  INIittelmeergebiet  und  am  Mittelmeere 
bedingt,  auch  die  wechselnden  Oberflächenformen,  die  Höhe,  die 
Entfernung  vom  Ozeane  und  die  Umgebung  ausgedehnter  Wüsten- 
gebiete üben  ihren  Einfluß  aus.  Obwohl  man  es  noch  als  medi- 
terran bezeichnen  muß,  hat  es  doch  bereits  nach  dem  Wärme- 
gange in  der  täglichen  und  jährlichen  Periode,  nach  dem  geringen 
Ausmaß  der  Niederschläge  und  der  das  ganze  Jahr  herrschenden 
ziemlich  bedeutenden  Lufttrockenheit  einen  ziemlich  festländischen 
Anstrich.  Die  mittlere  Jahreswärme  von  Jerusalem  beträgt  bei 
nicht  ganz  800  m  Meereshöhe  17.1°  C  und  dürfte  ungefähr  der- 
jenigen des  ganzen  West-  und  Ostjordanhochlandes  entsprechen, 
ebenso  die  des  Februar  mit  8.8°  C,  des  August  mit  24.5**  C. 
Pie  Küstenebene  dürfte  demnach  im  Jahresmittel  2  2  '^  C,  in  den 
extremen  Monaten  12°  C  und  weniger  als  30"  C  haben,  im  Ghor 
dagegen,  etwa  Jericho,  dürften  dieselben  Werte  24°  C,  13 — 14*^0 
und  S-^  ^  betragen.  Das  Ghor  wäre  also  thermisch  den  aus- 
gezeichneten Datteloasen  des  Wed  Rirn  und  Wed  Suf  in  der 
algerischen  Sahara  zur  Seite  zu  stellen.  Wie  in  Jerusalem  in 
etwa  4 — 5  Nächten  jeden  Winter  leichter  Frcst  (absolutes  Mini- 
mum — 4°  C)  eintritt  und  Schneefälle  dort  mindestens  jedes 
dritte  jähr  vorkommen,  wenn  auch  eine  andauernde  Schneedecke 
selten  ist,  so  ähnlich  auch  sonst  auf  dem  Hochlande.  Im  Ost- 
jordanlande sind  freilich  Fröste  und  Schneefälle  häufiger  und 
intensiver.  Ganze  Karawanen  sind  dort  schon  im  Schnee  zu- 
grunde gegangen.  Die  Küste  und  das  Ghor  erfreuen  sich  sehr 
milder  Winter  und  sind  als  von  Frösten  und  Schnee  frei  an- 
zusehen. Dagegen  steigt  im  Sommer  die  Wärme  außerordentlich, 
besonders  werm  heiße  Winde  von  Süd  und  Südost  her  wehen. 
Ihretwegen  verhüllen  sich  die  Weiber  im  Hauran  bei  der  Feld- 
arbeit  das    Gesicht  völlig   bis    auf  die  Augen.     Leichte  Aufbaue 


—       122       

aus  Matten  auf  den  flachen  Dächern,  besonders  als  luftige  Schlaf- 
gemächer in  der  heißen  Zeit,  hier  und  da  wohl  auch  wegen  der 
dann  das  Innere  der  Häuser  unsicher  machenden  Skorpione,  sind 
daher  sehr  beliebt.  Doch  mildert  im  Sommer,  wenigstens  in 
freien  Lagen  des  Westjordanlandes,  aber  auch  noch  im  Hauran, 
die  am  Tage  fast  immer  bewegte  Luft,  besonders  der  feuchte, 
kühle  Seewind  die  Hitze  sehr  wesentlich,  die  daher  des  Morgens 
vor  Durchbruch  des  Seewindes,  des  Abends  nach  Abflauen  des- 
selben am  empfindUchsten  zu  sein  pflegt.  Das  Ausbleiben  des 
Seewindes  wird  daher  sehr  empfunden  und  das  Ghor  ist  im 
Sommer  unerträglich  heiß,  weil  es  so  tief  liegt  und  dem  Einfluß 
der  Seewinde  ganz  entzogen  ist.  Die  wunderbare  Klarheit  der 
Luft,  der  hell  leuchtende  Mond  und  die  funkelnden  Sterne 
bieten  gerade  im  Sommer  einen  gewissen  Reiz.  Der  Herbst 
zeichnet  sich  infolge  häufiger  südöstlicher  Winde  durch  angenehme 
Wärme  aus. 

Wichtiger  als  das  Ausmaß  der  Wärme,  die  in  dieser  Breite 
unter  allen  Umständen  genügen  muß,  ist  die  Menge  und  die 
jahreszeitliche  Verteilung  der  Niederschläge.  Diese  sind,  wie 
überhaupt  in  den  südlichen  Mittelmeerländern,  auf  die  kühlere 
Jahreshälfte  beschränkt,  weil  nur  in  dieser  regenbringende  ver- 
änderliche Winde,  vorherrschend  Südwest-  und  Westwinde,  also 
vom  Mittelmeere  her  wehen,  während  im  Sommer  dauernd  Winde 
nördlicher  Richtung,  der  Passat,  wehen,  die  keinen  Regen  bringen 
können.  Die  Übergangsjahreszeiten  sind  sehr  kurz,  wie  man 
auch  schon  in  der  Bibel  meist  nur  Sommer  und  Winter  unter- 
schied. 

Die  Regenzeit  beginnt  ini  Oktober,  nimmt  bis  Ende  Januar, 
der  in  Jerusalem  im  Mittel  zehn  Regentage,  jeden  mit  14  mm 
Niederschlag,  hat,  zu  und  endigt  im  Mai.  Die  mittlere  Dauer  der 
Regenzeit  ist  im  33jährigen  Mittel  nach  einer  Berechnung  von 
Hilderscheid  192  Tage,  so  daß  also  auf  die  Trockenzeit  173^2  Tage 
kommen.  Es  nehmen  die  Niederschläge  im  allgemeinen  von 
Norden  nach  Süden,  von  Westen  nach  Osten  ab  und  das  Ghor 
ist  der  niederschlagsärmste  Teil  des  ganzen  Landes.  Der  Januar 
ist  fast  überall  der  Hauptregenmonat.  Im  Küstenlande  fallen 
allein  in  den  drei  Wintermonaten  (Dezember-Februar)  65%  der 
ganzen  Niederschlagsmenge,  auf  dem  Hochlande  67 ^q,  im  Ghor 
63"/(,.     Die  Zahl   der  Regentage   ist   an   der  Küste  58,  auf  dem 


—       123       — 

Hochlande  55,  im  Ghor  49  und  auf  die  drei  Wintermonate 
kommen  in  diesen  drei  Landgürteln  ^;^,  31,  11  Regentage.  Die 
mittleren  jährlichen  Niederschlagsmengen  können  nach  den  bisher 
vorliegenden  Messungen  in  den  Küstenstationen  Gaza  zu  447  mm, 
Jaf^'a  559,  Sarona  517,  Haifa  604,  Karmel  611  mm  angenommen 
werden.  An  den  Hochlandstationen  Bethlehem  zu  593,  Jerusa- 
lem (im  Mittel  von  drei  dort  bestehenden  Beobachtungsstationen) 
zu  596,  Nazareth  zu  709  mm,  während  die  einzige  Beobachtungs- 
station im  Ghor,  Tiberias,  nur  433  mm  aufweist,  aber  wegen 
der  Lage  am  See  gewiß  mehr  als  dem  Ghor  im  allgemeinen 
zuteil  werden  dürfte.  Im  Ostjordanlande,  von  wo  noch  keine 
Beobachtungen  vorliegen,  ist  im  allgemeinen  die  winterliche 
Niederschlagshöhe,  eben  weil  dasselbe  das  Westjordanland  etwas 
überragt  und  somit  nicht  in  seinem  Regenschatten  liegt,  trotz 
der  schon  größeren  Meerferne  noch  genügend  für  Getreidebau 
ohne  künstliche  Berieselung,  d.  h.  es  muß  dieselbe  nach  Be- 
obachtungen, die  in  Tunesien  ungefähr  unter  gleichen  Verhält- 
nissen gemacht  worden  sind,  mindestens  400  mm  betragen.  Das 
Haurangebirge  bedeckt  sich  allwinterUch  reichlich  mit  Schnee, 
dessen  Schmelzen  im  Frühlinge  lange  Zeit  die  Bäche  reichlich 
speist  und  so  Berieselungen  in  der  vorliegenden  Hochebene  er- 
möglicht. 

Tagelang  anhaltende  Regen  sind  in  Palästina  selten,  sie 
fallen  meist  in  kurzen,  heftigen  Güssen,  nach  denen  die  Sonne 
rasch  wieder  hervortritt  und  den  durchfeuchteten  Boden  erwärmt. 
Auch  noch  heute  legt  man,  wie  in  der  Bibel,  das  größte  Ge- 
wicht auf  die  Frühregen,  im  Oktober  und  November,  die  den 
harten  Boden  durchfeuchten  und  ihn  zu  pflügen  und  zu  bestellen 
erlauben,  und  die  Spätregen,  im  April  und  Mai,  welche  dem 
Getreide  die  Körnerentwicklung  ermöglichen. 

Schon  in  der  Bibel  wird  der  Gegensatz  der  so  gut  wie 
regenlosen  Niloase  Ägypten  zu  dem  sich  regelmäßiger  Regen  er- 
freuenden Palästina  treffend  geschildert.  Als  Moses  das  Volk 
Israel  nach  dem  Gelobten  Lande  führte,  beschrieb  er  es  ihnen 
im  Unterschiede  von  Ägypten:  denn  das  Land,  da  du  hinkommst, 
ist  nicht  wie  Ägypterland,  davon  ihr  ausgezogen  seid,  da  du 
deinen  Samen  säen  und  selbst  tränken  mußtest,  wie  einen  Kohl- 
garten, sondern  es  hat  Berge  und  Auen,  die  der  Regen  vom 
Himmel    tränken   muß.     Denn   der  Herr,    dein  Gott,    führet  dich 


124       — 

in  ein  gut  Land,  ein  Land,  da  Bäche  und  Brunnen  und  Seen 
inne  sind,   die  an  den  Bergen  und  in  den  Auen  fließen. 

Wie  überall  im  südlichen  Mittelmeergebiete  sind  die  Nieder- 
schlagsmengen von  einem  Jahre  zum  andern  sehr  verschieden 
und  INIißernten  infolge  ungenügender  Winterregen  nicht  selten. 
In  den  so  fruchtbaren  Landschaften  Dscholan,  En  Nukra  und 
Hauran  rechnet  man  alle  vier  Jahre  auf  eine  Mißernte,  die  man 
aber  bei  dem  ungeheuren  Ertrage  der  übrigen  Jahre  leicht  ver- 
schmerzen kann.  Während  der  langen  Trockenzeit  ist  die  Pflan- 
zenwelt, wo  nicht  künstliche  Berieselung  stattfindet,  auf  die  reich- 
lichen Taufälle  angewiesen,  welche  Palästina  kennzeichnen.  Der 
Seewind  führt  große  Mengen  Wasserdampf  ins  Land  hinein,  die 
sich  dann  bei  der  bedeutenden  nächtlichen  Abkühlung,  die  in- 
folge von  Wärmestrahlung  einzutreten  pflegt,  derartig  verdichten 
und  sich  als  Tau  niederschlagen,  daß  ein  Übernachten  im  Freien 
unmöglich  ist  und  selbst  die  Zelttücher  meist  so  naß  werden, 
daß  man  sie  erst  von  der  hochsteigenden  Sonne  wieder  trocknen 
lassen  muß,  ehe  man  sie  zusammenpacken  kann.  Daß  Gideon 
eine  Schale  Tau  aus  dem  Fell  drücken  konnte,  war  keine  un- 
gewöhnliche Erscheinung.  So  wertvoll  sind  diese  Taufälle,  die 
allerdings  bei  der  Beständigkeit  des  Wetters  im  Sommer  selten 
ausbleiben,  daß  man  ihr  Ausbleiben  als  ein  Zeichen  des  gött- 
lichen Zornes  deutete.  Sehr  häufig  lagern  im  Sommer  am  frühen 
Morgen  über  Ebene  und  Hügeln  dichte  Nebel,  aus  denen  nur 
die  höchsten  Berge  wie  Inseln  aus  wogendem  Meere  aufragen. 
Die  steigende  Sonne  zerteilt  sie  bald,  als  flatternde  weiße  Wolken 
steigen  sie  an  den  Bergen  empor  und  lösen  sich  im  Blau  des 
Himmels  auf:  „die  Morgenwolken  und  der  Tau,  der  frühmorgens 
vergeht"  (Hos.  6,  4).  Dennoch  darf  man  erwarten,  daß  das  Land 
bei  der  langen  Regenlosigkeit  und  hohen  Wärme  im  Sommer 
selbst  da  öder,  sonnenverbrannter  Steppe  gleicht,  wo  im  Winter 
und  Frühling  üppiggrüne  Weizen-  und  Gerstenfelder  Tal  und 
Hügel,  selbst  den  Ölberg  bis  zum  Gipfel  bedecken.  Wer  eine 
richtige  Vorstellung  von  Palästina  haben  will,  darf  es  nicht  im 
Sommer  oder  Herbst  besuchen,  am  besten  im  Frühling,  im  April 
und  Mai. 

Es  leuchtet  ein,  daß  Palästina  bei  so  lange  andauernder 
Regenlosigkeit  überhaupt  an  Wasser,  aber  namentlich  an  dauernd 
fließenden   Bächen    und    Flüssen   arm    sein   muß.     Demnach  wird 


—      125      — 

es  auch  an  Wasserkräften  und  an  diese  geknüpften  gewerblichen 
Anlagen  in  der  Gegenwart  und  in  der  Zukunft  arm  sein.  Immer- 
hin kann  man  hier  und  da  in  Galiläa  und  auch  im  Ostjordan- 
lande kleine  Wassermühlen  klappern  hören,  angeblich  eine  Hinter- 
lassenschaft der  Kreuzfahrer.  Ja,  sogar  Wasserfälle,  Zukunftsmusik 
elektrischer  Kraftübertragung,  kommen  vor,  wie  am  Modschib  und 
Jabbok  des  Ostjordanlandes.  Auch  sind  dauernd  fließende  Bäche 
und  Flüsse,  meist  als  Nähr  von  Wadi  unterschieden,  abgesehen 
vom  seengespeisten  Jordan,  nicht  so  selten,  als  man  nach  der 
zeitweiligen  Regenlosigkeit  schließen  möchte,  weil  das  Kalkgebirge 
die  Meteorwasser  verschluckt,  zu  unterirdischen  Wasserläufen  ver- 
einigt und  an  geeigneten  Stellen,  besonders  am  Fuße  des  Hoch- 
landes als  starke  Quelle  zutage  treten  läßt.  Dr.  Schumacher,  der 
hochverdiente  Erforscher  des  nördlichen  Ostjordanlandes,  zählt 
im  Westhauran  nicht  weniger  als  13  ausdauernde  Bäche  und 
Flüsse.  Und  die  meisten  Flüsse,  die  vom  Westjordanhochlande 
herabkommen,  werden  am  Fuße  desselben  von  Quellen  verstärkt 
zu  ausdauernden.  An  starken  Quellen,  wie  sie  alle  Kalkgebiete 
rings  um  das  IMittelmeer  kennzeichnen,  ist  Palästina  nicht  arm. 
Der  häufig  wiederkehrende  Name  Ras  eKAin  deutet  auf  solche 
hin.  Er  ist  gleichbedeutend  mit  dem  italienischen  Capo  d'  acqua, 
dem  griechischen  Kephalarion,  dem  spanischen  Nacimiento.  Nicht 
selten  bilden  diese  Quellen  Quellbecken,  die  von  dem  herrlich- 
sten, kristallklaren  Wasser  gefüllt  sind,  ähnlich  der  papyrus- 
umwachsenen Cyane  bei  Syrakus.  So  die  Quelle  des  Jordan  bei 
Tell-el-Kadi,  die  des  Nähr  el-'^Audscha,  des  wasserreichsten 
Mittelmeerflusses  von  Palästina,  der  unter  Kalat  Ras  el  '^A'in,  dem 
alten  Antipatris,  mit  solcher  Wasserfülle  hervorbricht,  daß  er  nicht 
durchritten  werden  kann  und  im  Sommer  dem  Jordan  an  seiner 
Mündung  gleichkommt.  Noch  größer,  2  km  im  Umfange,  also 
ein  kleiner  See,  ist  das  fischreiche  Quellbecken  des  Jarmuk  bei 
El  Muzerib,  das  dadurch  zum  großen  Rastplatze  der  Pilgerkara- 
wanen geworden  ist. 

Eine  Quelle  ist  daher  in  Palästina  ein  kostbarer  Besitz. 
Viele  Siedelungen  sind  an  solche,  wenige,  fast  keine,  an  Flüsse 
gebunden,  ein  grellster  Gegensatz  zu  Mitteleuropa.  Doch  ge- 
nügten der  sich  mehrenden  Bevölkerung  bald  die  Quellen  nicht 
mehr.  Man  legte  Zisternen  an,  worauf  die  natürlichen  Wasser- 
ansammlungen  und    Felslöcher    hinwiesen.     Fast  jedes  Haus   hat 


126        

seine  Zisterne.  Viele  sind  von  gewaltiger  Größe,  die  Felsdecke 
von  Pfeilern  gestützt.  Dazu  kommen  ehemals  in  ungeheurer  Zahl, 
namentlich  im  Ostjordanlande,  vorhanden  gewesene  offene  Sammel- 
teiche, denen  in  in  den  Felsen  gehauenen  und  zementierten 
Rinnen  das  winterliche  Regenwasser  von  allen  Seiten  zugeführt 
wurde.  Sie  unterlagen  freilich  in  hohem  Grade  der  Verdunstung 
und  mögen  wohl  alle  zu  Ende  der  Trockenzeit  leer  gelegen 
haben.  Der  höhlenreiche,  zugleich  guten  Zement  Hefernde  Kalk- 
boden, in  welchem  härtere  und  weichere  Schichten  wechseln, 
eignete  sich  besonders  für  solche  Anlagen.  Die  Frostfreiheit 
begünstigte  sie.  Weit  verbreitet  ist  namentlich  eine  1.5  m  mäch- 
tige, feste,  die  Oberfläche  bildende  Kalkschicht,  unter  welcher 
eine  zuweilen  bis  14  m  mächtige  weichere  Schicht  liegt.  Man 
bohrte  daher  nur  ein  enges,  einem  Flaschenhalse  ähnliches  Loch 
in  die  erstere  und  arbeitete  die  Zisterne  darunter  aus.  Es  ist 
geradezu  staunenswert,  was  viele  Geschlechter  an  solchen  Arbeiten 
in  Palästina  geleistet  haben,  im  Ostjordanlande,  wo  es  noch 
nötiger  war  und  ganze  fruchtbare  Landschaften  durch  Aufspeiche- 
rung und  Zusammenleitung  von  Wasser  erst  dauernd  bewohnbar 
gemacht  worden  sind,  noch  mehr  wie  im  Westjordanlande.  Die 
so  fruchtbare  Landschaft  En  Nukra  wäre  ohne  solche  künstliche 
Wasserbeschaffung  zum  großen  Teil  im  Sommer  nicht  einmal  für 
Nomaden,  geschweige  für  eine  so  dichte,  hochgesittete  Bevölke- 
rung bewohnbar  wie  in  frühchristlicher  Zeit.  Fast  allenthalben 
lebt  die  heutige  verkommene  Bevölkerung  von  den  mehr  oder 
weniger  gut  erhaltenen  Resten  der  Anlagen  einer  besseren  Zeit. 
Noch  heute  werden  wie  in  alter  Zeit  die  im  freien  Felde  oder 
an  den  Wegen  gelegenen  Zisternen  und  Brunnen  — ■  es  ist  oft 
nicht  leicht  zu  unterscheiden,  ob  man  eine  Zisterne  oder  einen 
Brunnen  mit  dauerndem  Zustrom  aus  dem  Grundwasser  vor  sich 
hat  —  zu  jedermanns  Benutzung  als  Zeichen  der  Kostbarkeit 
des  Wassers  mit  einem  so  schweren  Steine  verschlossen,  daß  nur 
mehrere  Hirten  vereinigt  denselben  wegzuwälzen  vermögen,  damit 
nicht  ein  einzelner  alles  Wasser  für  seine  Herde  verbrauchen 
kann.  In  Jerusalem  hat  jedes  Haus  seine  sich  flaschenförmig 
nach  unten  erweiternde  Zisterne,  die  gegen  Licht,  Sonne  und 
Unrat  geschützt  kühles,  gutes  Wasser  das  ganze  Jahr  hält.  Quellen 
besitzt  die  Stadt  nur  eine,  die  schwachsalzige  Marien-  oder  Jung- 
frauenquelle, deren  Wasser  unterirdisch  zum  Siloahteiche  geleitet 


—       127       — 

und  von  dort  durch  einen  Tunnel,  wohl  schon  im  8.  Jahrhundert 
V.  Chr.  in  die  Stadtbefestigung  einbezogen  wurde.  Daneben  wur- 
den aber  noch  sehr  früh  die  schon  erwähnten  Sammelteiche  an- 
gelegt, die  auch  zum  Baden,  wie  zur  Schafwäsche  und  zum  Be- 
wässern der  Gärten  verwendet  wurden.  Wenn  das  Wasser  eine 
gewisse  Höhe  erreicht  hatte,  gab  es  ein  Teich  an  den  anderen 
ab.  Die  ganze  Fläche  des  Harem-esch-Scherif  ist  von  Zisternen 
unterhöhlt,  welche  gewaltige  Wassermassen  zu  fassen  vermögen, 
die  von  den  Salomonsteichen  hergeleitet  wurden.  Diese  1865 
wiederhergestellte  Wasserleitung  dürfte  doch  vielleicht  in  den  ersten 
Anlagen  bis  auf  Salomo  zurückführen.  Ihr  eigentlicher  Erbauer 
ist  aber  Herodes  der  Große.  Sie  führt  Wasser  von  den  so- 
genannten Salomonsteichen,  drei  Stunden  südlich  von  Jerusalem 
bei  Bethlehem,  ja  noch  weiter  aus  der  Gegend  von  Hebron  herbei. 
Jeder  einsichtige  Herrscher  war  bemüht,  die  Wasservorräte  zu 
vermehren,  wie  König  Mesa  von  Moab  auf  seiner  erhaltenen  be- 
rühmten Steininschrift  mitteilt,  daß  er  jedem  Hauswirte  von  Kircha 
Dibon  befohlen  habe,  in  seinem  Hause  eine  Zisterne  anzulegen. 
So  kam  es,  daß  die  Belagerer  von  Jerusalem  stets  unter  Wasser- 
mangel sehr  zu  leiden  hatten,  während  die  Belagerten  Wasser  in 
Fülle  hatten. 

Wasserleitungen,  wie  diese  Jerusalem  speisende,  scheinen 
aber  nur  ausnahmsweise  angelegt  worden  zu  sein.  Am  reichsten 
daran  war  das  nördliche  Ostjordanland,  wo  vom  Haurangebirge 
her  die  Wasservorräte,  welche  die  winterlichen  Schneemassen 
lieferten,  weithin  geleitet  und  in  großen  Sammelteichen  auf- 
gespeichert wurden.  Den  Anstoß  zur  Anlegung  solcher  gaben 
die  match  genannten  natürlichen  Vertiefungen  im  Felsboden,  in 
denen  sich  die  Winterwasser  sammelten  und  lange  hielten.  Auch 
große  unterirdische  und  so  gegen  die  große  Verdunstung  ge- 
schützte Zisternen  legte  man  an.  Einzelne  Gemeinden  gaben 
nach  den  noch  erhaltenen  Inschriften  große  Summen  für  diese 
Anlagen  aus.  Es  war  kein  Ort  ohne  ein  oder  mehrere  solcher 
Sammelbecken,  die  in  den  hellenistischen  Zeiten  XCiivtj  oder  Aaxoj 
genannt  wurden.  Die  Wasserleitungen  machten  Gegenden  seß- 
haft bewohnbar,  die  im  Sommer  nicht  einmal  für  Nomaden  be- 
wohnbar waren.  Die  eine,  der  Luwakanal,  hatte  in  der  östlichen 
Ledscha  auf  35  km  20  blühende  Ortschaften  ins  Leben  gerufen, 
von    denen    heute    nur   noch    eine   einige   wenige   Einwohner   hat. 


—        128       — 

Die  größte  war  der  80  km  lange  Kanat  Firaun,  die  auf  mäch- 
tigen Basaltlagen  ganze  Täler  überschritt  und  von  dem  noch 
heute  vorhandenen  reichen  Quellbecken  El  Gab  bei  Dilli  aus, 
mitten  in  En  Nukra,  nach  Derat  (Adroa)  und  von  da  nach  Westen 
bis  Mukes  oder  Um  Kes  (Gadara),  5  km  von  der  Mündung  des 
Jarmuk  führte.  Eine  andere  war  von  Trajans  Feldherrn  Corne- 
lius Palma  erbaut.  Auf  diesen  Anlagen  also  beruhte  die  hohe 
Kultur  dieses  Landes  in  vorarabischer  Zeit:  in  der  Tat  eine  zarte, 
stetiger  Pflege  bedürftige  Pflanze! 

Pflanzenwelt. 
Solche  klimatische  Verhältnisse  müssen  ihren  Ausdruck  auch 
im  Charakter  der  Pflanzenwelt  finden.  Vor  allem  wird  dieselbe 
Schutz  gegen  die  lange  Trockenheit  suchen.  Dies  geschieht  in 
derselben  Weise,  wie  sonst  in  der  Mittelmeerflora.  Die  Holz- 
gewächse sind  verhältnismäßig  zahlreich  und  tragen  immergrüne, 
lederartige  Blätter  meist  mit  kleiner  Blattfläche,  so  daß  sie  gegen 
Verdunstung  geschützt  sind.  Einjährige  Gewächse,  denen  die 
Winterregenzeit  genügt,  und  Zwiebelgewächse  spielen  eine  Rolle. 
Die  Blattarmut  der  Holzgewächse  steigert  sich  oft  zu  einer  Be- 
domung,  wie  schon  die  Bibel  immer  und  immer  wieder  der  Dornen 
und  Disteln  gedenkt.  Domige  Vertreter  der  Steppenflora  Vorder- 
asiens sind  bis  ins  Westjordanland  verbreitet.  Auch  aromatisch 
sind  sehr  viele  Pflanzen  von  Palästina.  Dadurch,  daß  im  Ghor 
sich  noch  tropische  Formen,  wie  sie  am  Südrande  der  Sahara 
vorkommen,  zum  Teil  aber  auch  solche  mit  indischen  Beziehungen 
beimischen,  erscheint  die  Flora  des  kleinen  Landes  mit  etwa 
3000  Arten  als  sehr  reich.  Von  den  der  Mittelmeerflora  fremd- 
artigsten Formen  tritt  die  Papyrusstaude  massenhaft  in  den 
Sümpfen  nördlich  vom  Hulesee  auf,  während  Salvadora  persica 
und  Calotropis  procera  (der  Oschurstrauch,  der  den  sogenannten 
Sodomsapfel  trägt)  nur  nahe  dem  Toten  Meere  vorkommen.  Die 
merkwürdige  sogenannte  Jerichorose,  Anastatica  hierochuntica, 
eine  Crucifere,  kommt  auch  nur  im  Ghor  und  erst  im  Süden  von 
Engedi  vor.  Weiter  verbreitet  im  Ghor  ist  Acacia  seyal,  die 
ägyptische  Sykomore  und  Melia  Azedarach,  besonders  im  Küsten- 
gebiet. Die  Dattelpalme  ist  in  ganz  Palästina  keine  seltene  Er- 
scheinung, selbst  in  Jerusalem  kommt  sie  noch  vor,  aber  nur  als 
Zierbaum ,    kaum    daß  sie  in  Gaza  und  einigen  noch  weiter  süd- 


129      — 

wärts  gelegenen  Oasen  als  Fruchtbaum  gelten  kann,  so  aus- 
gezeichnete Datteln  das  Ghor  im  Altertume  auch  hervorbrachte 
und  heute  hervorzubringen  imstande  wäre. 

Im  allgemeinen  macht  das  Pflanzenkleid  von  Palästina  einen 
dürftigen  Eindruck,  den  klimatischen  Verhältnissen,  dem  vorherr- 
schenden Felsboden  und  der  langen,  wechselvollen  Geschichte 
entsprechend.  Kahle  Felslandschaften  sind  nicht  selten,  namenthch 
nach  dem  Ghor  hin.  Üppigen  Pflanzenwuchs  findet  man,  ab- 
gesehen von  den  heute  so  seltenen  Berieselungsanlagen,  heute 
nur  auf  reich  bewässertem  Boden,  namentlich  längs  des  Jordan, 
der  von  einem  Saume  von  Pappeln,  Tamarisken,  Oleandern, 
Keuschbäumen,  Elaeagnus  usw.  begleitet  ist,  ein  schwacher  Ab- 
glanz der  Galeriewälder  des  tropischen  Afrika.  Der  Keuschbaum, 
der  Oleander,  auch  der  Ricinus  sind  die  steten  Begleiter  der 
Wasserläufe.  Geringer  Höhenwuchs  kennzeichnet  alle  Holz- 
gewächse des  trockenen  Landes,  das  überhaupt,  von  Frucht- 
bäumen abgesehen,  als  baumarm  und  namentlich  als  arm  an 
Bauholz,  wie  schon  im  Altertume,  angesehen  werden  kann.  Wo 
noch  einzelne  Bäume  oder  Gruppen  solcher,  namentlich  immer- 
grüne Eichen,  vorkommen,  da  werden  sie  fast  als  heilig  betrachtet. 
Wälder,  die  man  aber  besser  als  lichte  Haine  bezeichnen  sollte, 
besonders  von  immergrünen  Eichen  (Quercus  ilex  und  Quercus 
aegylops),  niedrigen,  aber  stämmigen  Wuchses  kommen  noch  heute 
in  Samaria,  im  Dscholan,  Belka,  am  Westhange  des  Hauran,  be- 
sonders aber  in  Galiläa  vor.  In  der  nördlichen  Saronebene  gibt 
es  noch  einen  Eichenwald  von  14  km  Umfang.  In  Galiläa  be- 
zeichnet man  i37o  des  Bodens  als  waldbedeckt.  Noch  heute  sind 
ausgedehnte  Waldungen,  vorherrschend  Eichen,  aber  auch  andere 
Laubbäume  und  Wachholder  eingestreut,  in  800  —  1000  m  Höhe 
in  den  Tälern  um  Es  Salt,  jetzt  dem  größten  Orte  des  Ostjordan- 
landes, vorhanden.  Im  südlichen  Haurangebirge  ist  der  Wallnuß- 
baum, auch  der  wilde  Mandelbaum  als  Waldbaura  zu  betrachten. 
Vereinzelte,  an  Quellen  auftretende  mächtige  Platanen,  auch 
Terebinthen,  sind  nicht  selten.  Nadelhölzer  gibt  es,  wenn  man 
von  den  angepflanzten  Pinien  und  Zypressen  absieht,  in  Palästina 
eigentlich  nicht.  Nur  der  Wachholder  kommt  vor.  Die  Wald- 
verwüstung schreitet  aber  noch  immer  fort.  Meist  von  Triest 
eingeführtes  Bauholz  ist  sehr  kostbar  und  wird  daher  wenig  ver- 
wendet. 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  q 


—     ISO     — 

Größere  Flächen  sind  mit  den  für  die  Mittelmeerländer 
charakteristischen  Gestrüppdickichten,  den  Machien,  bedeckt, 
niedrigen,  hier  stets  domenreichen  Sträuchem.  Der  Sidr,  Zizy- 
phus  lotus,  aus  dessen  Domen  die  Dornenkrone  Christi  bestanden 
haben  soll,  ist  besonders  häufig.  Daneben  Myrthen,  Pistacia 
Lontiscus,  Arbutus,  immergrüne  Eichen  u.  dgl.  Brennholz  und 
Holzkohle  liefern  allein  diese  Gestrüppe.  Getrockneter  Dünger 
muß  es  ergänzen.  Die  offenen  Flächen  sind,  wo  sie  nicht  völlig 
kahl  sind,  mit  Halbsträuchern,  Stauden,  Zwiebelgewächsen  und 
einjährigen  Gräsern  bedeckt.  Sie  vermögen  selbst  im  Frühling 
dem  Boden  nur  einen  grünen  Schimmer  zu  verleihen,  der  Nähr- 
wert dieser  Matten,  auf  die  die  Herden  allein  angewiesen  sind, 
ist  ein  geringer.  Schon  im  Mai  erliegt  dies  Grün  dem  Sonnen- 
brande. Von  jeher  müssen  Brände  während  der  langen  Sommer- 
dürre der  Vegetation  höchst  schädlich  gewesen  sein.  Absicht- 
liches Anzünden  der  Gestrüppe  wurde  daher  schwer  bestraft,  da, 
wie  oft  in  der  Bibel  erwähnt  wird,  die  reifen  Saaten  davon  er- 
griffen wurden.  Die  Beduinen  des  Ghor  töten  heute  noch  un- 
weigerlich jeden,  der  einen  solchen  Brand  anfacht.  Selbst  in 
der  heftigsten  Fehde  darf  keine  Partei  des  Feindes  Land  in 
Brand  stecken. 

An  Kulturgewächsen  ist  Palästina  reich,  alle  auch  sonst  in 
den  Mittelmeerländern  vorkommenden  sind  vorhanden.  Der  Öl- 
baum, der  Feigenbaum,  die  Apfelsine  sind  die  wichtigsten  Frucht- 
bäume, der  Johannisbrotbaum,  der  Granatbaum,  der  Maulbeer- 
baum, Pfirsiche,  Aprikosen  sind  weniger  häufig,  die  Zucht  der 
Rebe  schreitet  vor.  Sie  wird  besonders  auf  terrassierten  Hängea 
gezogen,  wie  um  Bethlehem  und  Hebron,  und  Wein  wird  ein 
immer  wichtigerer  Gegenstand  der  Ausfuhr.  Die  Trauben  er- 
reichen oft  eine  außerordentliche  Größe.  Alte,  in  den  Felsen, 
gehauene  Keltern  zeugen  häufig  von  nicht  mehr  bestehenden 
Weinbergen.  Selbst  Ortschaften  sind  danach  benannt,  wie  Karjet- 
el-Eneb,  die  Traubenstadt,  auf  dem  Wege  von  Jaffa  nach  Jeru- 
salem. Im  Hauran  selbst  blühte  im  Altertum  der  Weinbau,  wie 
man  schon  aus  den  häufig  in  den  Felsskulpturen  verwendeten 
Reben  schließen  kann.  Ähnlich  in  dem  heute  verödeten  „Süd- 
lande", dem  Landstreifen  an  der  Südgrenze  von  Judäa.  Haine 
südlicher  Fruchtbäume,  die  der  Landschaft  etwas  Gartenartiges 
verleihen,    finden   sich   nicht   gar   so    selten,    sei   es  aus  besseren 


—      131      — 

Zeiten  erhaltene,  sei  es,  wie  die  großen  Apfelsinenhaine  der 
deutschen  Ansiedler  bei  Jaffa,  neu  angepflanzte.  Namentlich 
Bet-Lehein,  hebräisch  Haus  des  Brotes  nach  der  Fruchtbarkeit 
seiner  Umgebung,  ist  von  seinen  christlichen  Bewohnern  wieder 
weithin  von  Oliven-  und  Feigengärten,  Weinpflanzungen  und 
Weizenfeldern  umgeben  worden.  Der  Ölbaum  ist  ein  uralter 
Besitz  des  Landes.  In  den  ältesten  Zeiten,  bis  in  welche  die 
biblische  Überlieferung  zurückreicht,  erscheint  das  Land  schon 
überreich  an  Ölbäumen.  „Ölbäume,  die  du  nicht  gepflanzet  hast", 
werden  den  Juden  unter  den  Gütern  genannt,  die  ihnen  im  Lande 
der  Verheißung  zufallen  sollen.  Neben  Wein  und  Getreide  wird 
der  Ölbaum  als  die  Quelle  des  Wohlstandes  in  der  Bibel  oft 
hervorgehoben.  Wie  im  Altertume,  so  ist  noch  heute  der  Öl- 
baum der  Charakterbaum  des  Heiligen  Landes  und  Olivenöl  ein 
wichtiger  Gegenstand  der  Volksnahrung.  Noch  heute  ist  der 
Ölberg  bei  Jerusalem  mit  einzeln  stehenden  Ölbäumen  übersäet 
und  von  den  acht  uralten  im  Garten  Gethsemane,  von  denen  der 
stärkste  in  Brusthöhe  2  m  im  Durchmesser  hat,  —  der  Ölbaum 
erreicht  in  der  Tat  ein  sehr  hohes  Alter  und  galt  schon  den 
Griechen  als  unvergänglich  —  wird  behauptet,  daß  sie  aus  by- 
zantinischer Zeit  stammen,  ja,  daß  Christus  unter  ihnen  gewandelt 
sei.  Von  dem  einst  im  Mittelalter  im  Ghor  blühenden  Zucker- 
rohrbau werden  noch  heute  von  den  Arabern  alte  Bauwerke  als 
Zuckennühlen  bezeichnet.  Die  Opuntie  ist  nicht  so  häufig  und 
wichtig  wie  sonst  in  den  südlichen  Mittelmeerländern.  Unter  den 
Getreidearten  steht  der  Weizen  bei  weitem  obenan,  nächstdem 
Gerste;  weniger  wichtig  sind  Mais,  Reis  und  Hirsearten.  Die 
verschiedenen  Höhenlagen  bedingen  anselinliche  Unterschiede  der 
Erntezeit.  Im  Ghor  erntet  man  die  Gerste  Ende  April,  den 
Weizen  Mitte  Mai,  auf  dem  Hochlande  anfangs  und  Mitte  Juni. 
Der  Anbau  von  Bohnen,  Kürbisen,  Gurken,  vor  allem  auch  von 
Zwiebeln  und  Melonen,  sowie  von  Gemüsen  ist  örtlich  sehr 
wichtig.  Die  noch  heute  in  großen  Mengen  auf  der  Trümmer- 
stätte von  Askalon  gebauten  Zwiebeln,  ascaloniae  der  Kreuzfahrer, 
^chalottes,  Schalotten  haben  davon  ihren  Namen.  Von  Handels- 
gewächsen eignet  sich  das  Land  vorzüglich  für  Baumwolle, 
Sesam  und  Tabak. 

Die  Tierwelt  Palästinas   ist   im   allgemeinen  dem  Klima  und 
der   Pflanzenwelt    angepaßt.      Sie    ist    aber    nicht   gerade    arm   zu 


—      132      — 

nennen  und  bietet  besondere  Anziehung  dadurch,  daß  die  Fisch- 
fauna des  Jordan  und  des  Tiberiassees  große  Übereinstimmung 
mit  derjenigen  Afrikas,  besonders  des  Nils  hat.  Selbst  das  auch 
im  Altertume  erwähnte  Krokodil  kommt  noch  heute  im  Nähr  ez 
Zerka  südlich  vom  Karmel  vor,  wie  die  Erlegung  eines  solchen 
von  3  m  Länge  im  Jahre  1877  durch  deutsche  Kolonisten  be- 
weist. Von  Raubtieren  dürfte  der  Bär  am  Hermon  noch  nicht 
ganz  ausgerottet  sein,  was  vom  Löwen  seit  dem  12.  Jahrhundert 
gilt.  Der  Panther  ist  in  den  Dickichten  am  Jordan  nicht  selten, 
der  Wolf  und  der  Fuchs  finden  sich  allenthalben,  der  Schakal 
ist  überaus  häufig,  so  daß  man  auch  heute  ihrer  leicht  dreihundert 
fangen  könnte,  wie  einst  Simson.  Auch  die  gestreifte  Hyäne  ist 
nicht  selten.  Von  großen  Jagdtieren  ist  das  Wildschwein  in  den 
Jordandickichten  häufig,  da  es  nur  als  Verwüster  der  Saaten  ver- 
folgt wird.  Der  Steinbock  bewohnt  noch  die  Felswüste  Juda, 
Antilopen  sind  noch  durch  drei  Arten,  besonders  im  Süden  und 
Osten  vertreten,  der  Rothirsch  und  der  Damhirsch  sollen  noch 
in  Galiläa,  das  Reh  am  Karmel  vorkommen.  Der  Klippschliefer 
(Hyrax  syriacus),  ein  Vielhufer,  der  in  den  Felsklüften  um  das 
Tote  Meer  haust,  das  Kaninchen  der  Bibel,  gehört  zu  den  äthio- 
pischen Beziehungen,  die  sich  auch  in  der  Vogelfauna  des  Ghor 
(Sonnenvögel)  ausprägen.  Der  Grundfarbe  dieses  Wohnraumes 
angepaßt  sind  alle  Tiere  hier  rotbraun  gefärbt:  Füchse,  Igel, 
Rebhühner,  Lerchen.  Außerordentlich  zahlreich,  wie  schon  im 
Altertume,  kommt  die  Turteltaube  in  den  Dickichten  am  Jordan 
vor,  ebenso  die  Felstaube,  wenn  auch  nur  im  Sommer.  In  den 
Felslöchem  der  Steilwände  der  Erosionstäler  nisten  sie  massen- 
haft. Eines  derselben  nordwestlich  von  Tiberias  heißt  danach 
geradezu  das  Taubental.  Sie  wird  in  der  Bibel  sehr  häufig 
erwähnt  und  durfte  allein  von  allen  Vögeln  auf  dem  Altare  ge- 
opfert werden.  Als  noch  wertvolleres  Federwild  reihen  wir  das 
rotfüßige  Rebhuhn  an.  Geier,  Adler,  Falken  sind  außerordent- 
lich häufig,  ebenso  der  Storch  und  die  Schwalbe.  Wasservögel 
beherbergen  die  Dickichte  am  Jordan,  am  Tiberiassee  und  be- 
sonders am  Hulesee  in  Menge.  Der  Strauß  kommt  im  Ostjordan- 
lande noch  zuweilen  vor,  der  Wildesel  jedoch  nur  noch  in  der 
nordarabischen  Steppe.  Den  Boden  durchwühlende  Springmäuse 
und  andere  Nager  kennzeichnen  die  Grenzen  gegen  die  umgeben- 
den Wüsten;   diese  sind  auch  die  Brutstätten  der  das  Land  von 


—     ^33     — 

Zeit  zu  Zeit  verwüstenden  Heuschrecken.  Aber  wie  in  Arabien 
werden  sie  auch  hier  in  Menge  gesammelt,  auf  Platten  leicht 
geröstet,  in  der  Sonne  vollends  getrocknet  und  mit  etwas  Salz  in 
Säcken  aufbewahrt,  um  dann  zur  Stillung  des  Hungers  zu  dienen. 
Giftige  Skorpione  sind  so  häufig,  daß  sie  im  Spätsommer  zum 
Teil  die  Häuser  unbewohnbar  machen. 

Von   Haustieren   ist   das   einhöckrige   Kamel   erst  vom  Men- 
schen eingeführt  und  allgemein  verbreitet,  aber  doch  mehr  in  den 
Grenzlandschaften.     Das   Pferd    ist    nicht    häufig,    wohl   aber   der 
Esel,    der   mit  Recht   hoch   geschätzt   wird.     Dem  Rind   sagt  die 
trockene  Pflanzennahrung  Palästinas  nur  wenig  zu.    Es  wird  zwar 
allenthalben  gehalten,  aber  in  geringer  Zahl,  und  spielt,  klein  und 
struppig,    als   Milch-    und    Fleischtier    eine    untergeordnete   Rolle. 
Nur   in   der   südwestlichen    Küstenebene   kann   noch   von   Rinder- 
zucht gesprochen  werden.     Sehr  kleine  Ochsen  ziehen  den  Pflug, 
nicht    selten    auch    ein    Kamel    und    Esel    nebeneinander.     Der 
Büffel  ist  im  Ghor  nicht  selten.    Das  wichtigste  Haustier,  sozusagen 
das  Charaktertier   Palästinas,    ist   wie   in    den   ältesten  Zeiten,    so 
noch  heute  das  (Fettschwanz-)  Schaf,  dem  die  vorhandene  Pflan- 
zennahrung   am   besten   zusagt.     Es   liefert   Milch,   Käse,    Fleisch 
und  Wolle.     Es   ist    unmöglich,    ein  Landschaftsbild   in  Palästina 
aufzunehmen,  ohne  Schafe  darauf  zu    haben.     In  der  Bibel  wird 
es    500 mal    erwähnt,    das   Rind    selten.     In   den   ältesten    Zeiten 
war  die  Zahl  der  Schafe  ungeheuer,   später  mit  wachsendem  An- 
baue  immer   geringer.      Selbst   wir   sprechen   noch   mit   der   Bibel 
vom  Opferlamm.    Nächstdem  die  Ziege,  namentlich  die  schwarze, 
deren  Haar  die  Decken  für  die  Zelte  der  Beduinen  liefert.    Auch 
sie  war  im  alten  Palästina  häufig.    Der  Dichter  des  Hohen  Liedes 
vergleicht  das  reiche,  schwarze  Haar,  das  der  Geliebten  um  die 
Schulter   wallt,    einer  Herde   Ziegen   an   den   lichten  Bergen   von 
Gilead.     Das  Huhn  fehlt  im  Alten  Testament  noch  als  Haustier, 
wird  aber  im  Neuen  erwähnt  und  heute  in  Menge  gehalten. 

Bevölkerung. 
Die  Bevölkerung  Palästinas  ist,  wie  die  Lage  des  Landes 
und  die  reiche  Geschichte  erwarten  läßt,  eine  ethnisch  außer- 
ordentlich gemischte,  wenn  auch  das  Arabische,  von  der  tür- 
kischen Amtssprache  abgesehen,  die  allein  herrschende  Sprache 
ist.     Den  ältesten  Bestandteil  bildet   gewiß  die  Landbevölkerung, 


—      134      — 

die  man  auch  hier  gewönlich  als  Fellachen  bezeichnet  und  von 
denen  man  die  am  buntesten  gemischte  Stadtbevölkerung  und 
die  erst  später  eingewanderten  Beduinen  unterscheiden  muß.  So- 
viel die  Herren  und  selbst  die  Sprache  gewechselt  hat,  so  dürfte 
die  Landbevölkerung  im  wesentlichen  als  aus  Nachkommen  der 
vorisraelitschen,  ursprünglich  hamitischen,  aber  schon  vor  der  Ein- 
wanderung der  Israeliten  wenigstens  sprachlich  semitisierten  Ur- 
bevölkerung, der  Kanaaniter,  bestehend  anzusehen  sein.  Sie 
vermochten  sich,  von  der  Landesnatur,  wie  wir  schon  sahen,  be- 
günstigt, zäh  am  Boden  haftend,  als  Ackerbauer  auch  den  Er- 
oberen wertvoll,  unter  allen  Überflutungen  zu  behaupten,  die  ja 
auch,  soweit  die  Eindringlinge  im  Lande  blieben,  meist  nicht 
kopfreich  waren.  Auch  die  Zähigkeit,  mit  welcher  sich  die  alten 
Ortsnamen  erhielten,  bestätigt  das.  Die  Bibel  selbst  bezeugt,  daß 
viele  Kanaaniter  zwischen  den  eingewanderten  Israeliten  sitzen 
blieben.  Sie  waren  als  altansässig  den  zu  Nomaden  gewordenen 
Israeliten  im  Landbau  und  Gewerbe  überlegen.  Die  Amoniter 
im  nördlichen  Ostjordanlande,  die  Jebusiter  von  Jerusalem,  das 
unter  ihnen  schon  eine  wichtige  Siedelung  war,  gehörten  zu  ihnen. 
Die  Sprache  der  Kanaaniter  war  dem  Hebräischen  verwandt,  wie 
das  Phönikische  von  diesem  nur  mundartlich  verschieden  war. 
Den  Israeliten  verwandt  waren  die  Edomiter  im  Gebirge  Seir  und 
im  Wadi  Arabah,  die  Moabiter,  die  Ammoniter  nördlich  von 
ihnen.  In  den  Israeliten  gingen  schließlich  nach  jahrhunderte- 
langen Kämpfen  noch  die  Philister  auf,  ursprünglich  ihnen  ganz 
fremd,  zunächst  auch  aus  Ägypten,  weiterhin  vielleicht  aus  Kreta 
eingewandert:  Palischtim,  die  Eingewanderten.  Als  Cyrus  538  v.  Chr. 
den  Israeliten  die  Heimkehr  aus  der  babylonischen  Gefangen- 
schaft gestattete,  kehrten  fast  nur  Angehörige  des  Reiches  Juda 
heim.     Es  blieben  daher  viele  Fremde  im  Lande. 

In  den  Sitten,  Gebräuchen  und  religiösen  Vorstellungen  der 
heutigen  Fellachen  ist  noch  viel  uralt  Heidnisches  erhalten. 
Fetzenbäume,  als  welche  besonders  Eichen  dienen,  spielen  bei 
ihnen  eine  große  Rolle.  Zum  Dank  für  die  Befreiung  von  Krank- 
heit bzw.  zur  Übertragung  aller  Krankheit  und  alles  Übels  von 
sich  auf  den  Baum  knüpft  man  an  denselben  einen  Fetzen  seines 
Gewandes.  Ebenso  werden  noch  heute  Felskuppen  verehrt,  nur 
dem  Islam  angepaßt,  indem  ihnen  kleine,  weiße  Kuppelbauten 
aufgesetzt   sind,  welche  Gräber   von  Häuptlingen   oder  Propheten 


—     135     — 

sein  sollen:  die  Nebi,  die  alten  Ortsgötter.  Diese  Makamstationen 
sind  die  uralten  Makam,  gegen  welche  die  Propheten  eiferten. 
Wie  vor  3000  Jahren  opfert  man  noch  Lämmer  vor  diesen  Kup- 
pehi.  Auch  von  den  Dolmen,  deren  Errichtung  man  den  Kana- 
anitem  zuschreibt,  haben  sich  im  Ostjordanlande,  besonders  in 
Moab  noch  viele  erhalten,  die  noch  heute  von  den  Arabern  als 
Altäre  angesehen  werden.  Die  Nebi  gelten  für  so  heilig,  daß 
selbst  die  nomadischen  Araber  im  Schutze  derselben  ihre  Vor- 
räte niederlegen.  Dem  Schutze  und  der  Gunst  des  Orts-Makam 
—  Makam  bedeutet  eigentlich  Ort,  d.  h.  heiliger  Ort  — ,  wird 
mehr  Wert  zugeschrieben  wie  Allah  und  Mohammed  selbst.  Viele 
Dörfer  haben  gar  keine  Moschee  und  mancher  Fellache  betritt 
sein  Leben  lang  keine  solche.  Diese  Fellachen  sind  eine  körper- 
lich gut  beanlagte  Rasse.  Namentlich  sieht  man  unter  den 
Fellachenmädchen  oft  Schönheiten.  Freilich  haben  sie  sonst  alle 
Fehler  lange  geknechtet  gewesener  Völker. 

Im  4.  und  5.  nachchristlichen  Jahrhundert  fand  eine  große 
christliche  Einwanderung  aus  den  von  den  Barbaren  venvüsteten 
Ländern  des  römischen  Reiches  statt,  namentlich  aus  Nordafrika 
und  Italien,  da  damals  Palästina  der  friedlichste,  gesichertste 
Winkel  des  ganzen  Römerreiches  war.  Diese  Einwanderung  trug 
außerordentlich  zum  Aufblühen  und  zur  Romanisierung  des  Lan- 
des bei.  Geknickt  wurde  diese  Blüte  dadurch,  daß  auch  hier 
endlich  die  allgemeine  Schwäche  des  Reiches  zutage  trat  und 
der  uralte  Kampf  zwischen  der  Wüste  und  dem  Kulturlande 
wieder  einmal  zugunsten  der  ersteren  entschieden  wurde.  Der 
Einbruch  der  eben  zum  Islam  bekehrten  Araber  hat  Palästina 
aufs  gründlichste  und  bis  auf  den  heutigen  Tag  beeinflußt,  den 
Islam  und  die  arabische  Sprache  zur  Herrschaft  und  rein  semi- 
tische Volksteile  ins  Land  gebracht.  Denn  reine  Semiten  sind 
die  zeltbewohnenden,  als  halbseßhaft  zu  bezeichnenden,  meist 
auch  etwas  Ackerbau  treibenden  Beduinen,  die  infolge  mangeln- 
den Schutzes  der  Grenzen  in  neuerer  Zeit  ähnlich,  wenn  auch 
nicht  so  zahlreich  wie  im  7.  Jahrhundert,  in  das  Ostjordanland, 
ja  selbst  in  das  Ghor,  von  Süden  her  gegen  Judäa  und  über  die 
Schwelle  von  Zerin  in  das  Westjordanland  eingedrungen  sind. 
Das  Ghor  ist  in  Galiläa  ganz  von  arabischen  Nomaden  be- 
setzt und  im  südlichen  Galiläa,  in  der  Ebene  Jesreel  und  in 
einigen  umliegenden  Dörfern  ist  die  durchaus  mohammedanische 


—    136    — 

Bevölkerung  rein  arabisch.  Sie  wissen,  daß  sie  von  jenseits  des 
Jordan  gekommen  sind.  Auch  bei  diesen  Arabern  findet  sich 
viel  uralt  Heidnisches,  z.  B.  Mondverehrung.  Die  60000  Be- 
wohner von  Zentralgaliläa  gehören  vielen  Sekten  an:  Moham- 
medaner, Christen,  Juden,  Drusen  und  einige  Metawilegeraeinden. 
Solche  gibt  es  auch  auf  dem  Karmel.  Die  jüdische  Bevölkerung 
ist  erst  seit  dem  Mittelalter  dort  wieder  eingewandert.  Außer 
den  Juden  sind  aber  alle  Bewohner  reine  Fellachen,  die  vom 
Landbau  leben  und  die  Fellachenmundart  sprechen. 

Aus  den  allerverschiedensten  Bestandteilen  ist  aber  die  Be- 
völkerung der  Städte  zusammengesetzt.  In  ihr  findet  die  wechsel- 
volle Geschichte  des  Landes  ihren  Ausdruck.  Es  möge  nur  an 
die  griechischen  und  römischen  Militärkolonien  erinnert  werden, 
die  ja  auch  aus  den  verschiedensten  ethnischen  Elementen  be- 
standen. Durch  sie  vor  allem  wurde  die  griechische  Sprache, 
wenigstens  bei  den  Gebildeten,  die  herrschende,  wie  das  Neue 
Testament  zeigt.  Das  Volk  sprach  Aramäisch.  Dann  kam  die 
arabische  Überflutung,  die  Kreuzzüge,  die  eine  außerordentliche 
Blutmischung  und  Zufuhr  neuer  ethnischer  Bestandteile  bedingt 
haben,  die  türkische  Eroberung.  Noch  bunter  gestaltet  sich  das 
Bild  in  allerneuester  Zeit  infolge  des  erleichterten  Verkehrs  und 
der  geringeren  Widerstandsfähigkeit  der  Türkei.  Und  bereits 
sind  es  nicht  bloß  die  Städte,  wenn  auch  sie  vorzugsweise,  welche 
aus  religiösen  Gründen  zuwandernde  Angehörige  des  jüdischen 
und  der  allerverschiedensten  christlichen  Völker  aufnehmen,  von 
den  Abessiniern  bis  zu  den  Nordamerikanern,  nein,  es  haben 
sich  jüdische  und  deutsche  Acker-  und  Weinbauer  im  Lande 
niedergelassen,  letztere  meist  Angehörige  der  sich  vorzugsweise 
aus  Schwaben  ergänzenden  christlich-protestantischen  Sekte  der 
Templer,  biedere,  frommgläubige,  fleißige  und  betriebsame  Leute. 
Ihre  erste  Niederlassung  wurde  1869  bei  Haifa  begründet,  heute 
die  größte  und  stattlichste  von  allen  mit  600  Einwohnern.  Andere 
folgten  dieser,  so  eine  auch  1869  in  Jaffa,  1872  die  große 
Ackerbau-  und  Weinbaukolonie  Sarona  bei  Jaffa,  dann  1883  die 
Niederlassung  Rephaim  bei  Jerusalem.  Dazu  ist  ganz  neuerdings 
die  Niederlassung  Wilhelma  in  der  Ebene  östlich  von  Jaffa  ge- 
kommen. Doch  besteht  in  allen  ein  Teil  der  Bevölkerung  aus 
sonstigen  deutschen  Protestanten,  zusammen  etwa  1500  Köpfe. 
Dieselben    haben    einen    sehr    wohltätigen    Einfluß    auf    die    Ein- 


—     137     — 

geborenen  ausgeübt,  namentlich  in  wirtschaftlicher  Hinsicht.  Daß 
heute  in  Palästina  Wagen  verwendet  werden,  wo  sie  zu  brauchen 
sind,  ist  ihr  Verdienst.  Freilich  haben  sie  in  der  Landesnatur 
und  in  der  türkischen  Verwaltung  begründete  große  Schwierig- 
keiten zu  überwinden  gehabt.  Aber  Handel  und  Verkehr  ist 
zum  großen  Teil  in  deutschen  Händen.  Deutsche  Gasthäuser 
und  Kaufläden  mehren  sich  und  das  Deutsche  beginnt  mit  dem 
Französischen  immer  erfolgreicher  in  Wettbewerb  zu  treten. 
Frankreich  hat  nur  Kirchen  und  Ordensniederlassungen  geboten, 
aber  sein  altgeschichtlicher  Einfluß  ist,  wie  in  ganz  Syrien,  noch 
sehr  groß.  Auch  erzielt  die  deutsche  protestantische  Mission 
immer  größere  Erfolge  unter  den  Eingeborenen.  In  den  beiden 
Waisenhäusern  werden  loo — 200  Knaben  und  Mädchen  deutsch- 
protestantisch erzogen.  Neuerdings  haben  sich  auch  große  Ge- 
sellschaften zur  Besiedelung  Palästinas  mit  jüdischen  Ackerbauern 
gebildet,  jüdische  Ackerbauschulen  und  jüdische  landwirtschaft- 
liche Niederlassungen  sind  an  verschiedenen  Punkten  gegründet 
worden.  Erfolge  sind  freilich  bisher  noch  nicht  zu  verzeichnen, 
gewiß  zum  Teil  weil  die  Zeit  noch  zu  kurz  ist.  Die  jüdischen 
Einwanderer  lassen  sich  auch  hier  am  liebsten  in  den  Städten 
nieder,  vor  allem  in  Jerusalem,  und  leben  fast  auschließlich  von 
den  Unterstützungen,  die  sie  von  ihren  Volksgenossen  in  Europa 
erhalten.  Bekannt  sind  die  sogenannten  zionistischen  Bestre- 
bungen, welche  Massenrückkehr  der  Juden  nach  Palästina  be- 
zwecken. Ältere  jüdische  Gemeinden  bestehen,  außer  in  Jeru- 
salem, namentlich  in  Tiberias,  das  nach  Jerusalems  Zerstörung 
Hauptsitz  der  Juden  in  Palästina  war,  und  in  Safed,  das  seit 
dem  16.  Jahrhundert  an  Stelle  von  Tiberias  ein  Hauptsitz  jüdischer 
Gelehrsamkeit  war.  Viele  Juden  wandern  auch  im  Alter  nach 
Palästina  ein,  um  im  Heiligen  Lande  zu  sterben.  Die  Zahl  der 
Juden  in  Palästina  wird  jetzt  auf  65  000  geschätzt.  Abgesehen 
von  den  russischen  Juden  sendet  Rußland  zwar  keine  Ansiedler 
ins  Land,  wohl  aber  jährlich  30  000  Pilger. 

Dazu  kommen  nun  schon  seit  längerer  Zeit  aus  dem  Liba- 
non eingewanderte  Drusen  im  Hauran,  im  nordöstlichen  Dscholan 
gegen  den  Hermon  hin  und  in  zwei  Dörfern  des  Karmel,  die 
sich  allein  von  einer  großen  Zahl  solcher  zu  erhalten  vermocht 
haben,  die  hier  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  bestanden.  Ferner 
sind  in  Belka,  Adschlun   und  Dscholan  Tscherkessen  angesiedelt 


—     138     - 

worden,  die  ihre  neuen  Wohnsitze  in  Bulgarien  nach  der  Abglie- 
derung  Bulgariens  von  der  Türkei  wieder  hatten  räumen  müssen, 
Sie  haben  eine  ganze  Anzahl  Niederlassungen  gegründet,  die  im 
Aufblühen  begriffen  erscheinen,  namentlich  den  Hauptort  El  Ku- 
netra  und  zwölf  Dörfer  in  der  Umgebung,  Sie  sind  die  rechten 
Leute,  um  die  räuberischen  Beduinen  im  Schach  zu  halten. 
Selbst  ein  kleiner  Turkmenenstamra  wohnt  im  Dcholan.  Bei 
Banijas  gibt  es  auch  drei  Dörfer  der  syrischen  Sekte  der  Ansai- 
rier,  in  Galiläa,  wie  schon  erwähnt,  Metawile.  Die  Zahl  der 
Türken,   fast  auschließlich  Beamte  und  Soldaten,  ist  gering. 

Vorherrschend  ist  natürlich  durchaus  der  Islam,  aber  es 
haben  sich  viele  alte  christliche  Dörfer  und  Gruppen  solcher, 
meist  am  besseren  Aussehen  und  besserem  Anbau  des  Landes 
kenntlich,  erhalten.  Die  Sekte  der  Samaritaner  ist  durch  Inzucht 
im  Aussterben  und  zählt  nur  wenig  über   loo  Köpfe. 

Wirtschaftliche  Verhältnisse, 
Die  Bevölkerung  von  Palästina  ist  in  erster  Linie  eine  land- 
bauende. Daneben  treibt  sie  Viehzucht,  wenige  diese  allein. 
Beide  aber  in  urtümlicher,  wenig  lohnender  Weise,  Dresch- 
schlitten, von  Ochsen  gezogen,  unten  mit  harten  Basaltsteinen  als 
Zähnen,  sind  noch  meist  in  Gebrauch.  Sie  zerschneiden  das 
Stroh  zu  Häcksel.  Nur  in  flachen  Mulden  und  an  sanften  Hängen 
kann  gepflügt  werden,  sonst  wird  der  Boden  mit  der  Hacke  be- 
arbeitet. Die  bekannte  Art  der  türkischen  Verwaltung  und  Be- 
steuerung, der  Mangel  an  Schutz  für  Person  und  Eigentum,  wie 
an  Verkehrswegen  sind  natürlich  einem  Aufschwünge  ungünstig. 
Wenn  der  arme  Bauer  von  einem  Ölbaume  mehr  Steuern  zahlen 
muß,  als  er  einbringt,  haut  er  ihn  lieber  um.  Bei  aller  Willkür 
und  allem  Steuerdruck  geschieht  nichts,  um  den  Absatz  der  Er- 
zeugnisse zu  erleichtern  und  damit  den  Anbau  zu  heben.  Doch 
sieht  man  allenthalben,  namentlich  in  der  Umgebung  der  Städte, 
den  Anbau  des  Bodens  fortschreiten.  Baumzucht,  wenn  wir  die 
Rebe  einschließen,  steht  obenan.  Jaff'a  ist  auf  mehrere  Kilometer 
im  Umkreise  von  wohlgepflegten  Apfelsinenhainen  umgeben,  die 
die  sogenannten  Jerusalemapfelsinen,  eine  dickschalige,  große,  an 
Gestalt  mehr  der  Limone  ähnelnde  Art  liefern.  In  Jerusalem 
selbst  kommt  die  Apfelsine  nur  unter  winterlichem  Schutze  fort, 
Wassermangel  schlösse  ihren  Anbau  auch  aus.    Olivenhaine  kom- 


—     139     — 

men  an  allen  Punkten  des  Landes,  selbst  im  Ostjordanlande  vor, 
die  größten  im  Südwesten  in  der  Gegend  von  Gaza.  Ägypten 
ist  seit  den  ältesten  Zeiten  das  nächste  und  wichtigste  Absatz- 
gebiet für  Öl  und  Wein  aus  Palästina  gewesen.  Auch  Feigen- 
zucht ist  nicht  unbedeutend.  Mehr  und  mehr  dehnt  sich  auch 
der  Weinbau  wieder  aus,  für  welchen  sich  das  Land  ausgezeichnet 
eignet.  Schon  im  Altertume  spielte  neben  dem  Öl-  und  Feigen- 
baume die  Rebe  die  erste  Stelle,  ihrem  Anbau  galten  in  erster 
Linie  die  heute  meist  nur  noch  in  Spuren  erhaltenen  Terrassie- 
rungen,  die  in  ihrer  ungeheuren  Ausdehnung  eine  großartige 
Kultur-  und  Arbeitsleistung  darstellen.  Um  die  friedliche  Wohl- 
fahrt des  Volkes  zu  veranschaulichen,  braucht  die  Bibel  mehrfach 
die  Wendung:  ein  jeder  werde  unter  seinem  Weinstocke  und 
Feigenbaume  wohnen.  Um  Haifa,  Jaffa,  Jerusalem,  Es  Salt  und 
an  anderen  Punkten  wird  jetzt  Weinbau  im  großen  getrieben, 
am  meisten  und  von  altersher  am  Hebron.  Stundenweit  ist  diese 
Stadt  hügelauf,  hügelab  von  meist  ummauerten  Weinpflanzungen 
mit  Wachttürmen  darin  umgeben,  sorgsam  sind  die  Terrassen 
erhalten  und  die  Steine  zu  Einfriedigungen  gesammelt.  Die  meist 
riesigen  Trauben  werden  sowohl  frisch  genossen,  wie  zu  Sirup 
und  Wein  verarbeitet,  namentlich  aber  auch  getrocknet.  Der 
Karmel  ist  von  den  deutschen  Ansiedlern  in  Haifa  in  großer 
Ausdehnung  terrassiert  und  mit  Reben  bepflanzt  worden.  Wie 
wichtig  die  Baumzucht  ist,  zeigt  schon  der  Umstand,  daß  sie 
allein  zwei  Drittel  der  Ausfuhr  liefert,  trotzdem  die  ihr  gewidmete 
Fläche  klein  ist.  Die  Baumpflanzungen  gleichen  mehr  Oasen 
und  sind  in  Galiläa  und  Samaria  am  häufigsten.  Doch  hat  der 
Fleiß  der  christlichen  Bewohner  auch  in  dem  felsigen  Judäa 
die  Umgebung  von  Bethlehem  wie  von  Hebron  in  blühende 
Gärten  venvandelt.  So  mag  einst  das  ganze  Land  ausgesehen 
haben. 

Der  Getreidebau,  obwohl  auch  er  mehr  als  den  Bedarf 
der  Bewohner  hervorbringt,  tritt  neben  Baumzucht  etwas  zurück, 
ebenso  der  Anbau  von  Sesam,  Tabak  und  Baumwolle.  Der 
Weizen  von  Palästina,  namentlich  die  harte,  glasig  durchsichtige 
Art,  die  der  vulkanische  Boden  des  Hauran  ohne  jede  Düngung 
hervorbringt,  wird  hoch  geschätzt.  Der  Ertrag  der  Felder  ist  bei 
der  Art  der  Behandlung  trotz  noch  immer  vorhandener  natür- 
licher  Fruchtbarkeit    ein   geringer,    im    Mittel   etwa    das    1 6  fache. 


—     140     — 

im  Hauran,  abgesehen  von  Mißernten,  das  60 — 100  fache.  Auch 
die  dem  Ackerbau  überhaupt  gewidmete  Fläche  ist  nur  ein  Bruch- 
teil des  anbaufähigen  Landes.  Derselbe  wird  im  ganzen  Lande 
durchaus  ohne  künstliche  Berieselung  bloß  mit  Hilfe  der  Winter- 
regen  betrieben,  doch  hat  man  vielfach,  besonders  in  dem  regen- 
armen Judäa,  die  Seiten  der  Täler  mit  Querdämmen  versehen, 
hinter  denen  die  gute  Erde  aufgefangen  und  eine  gründliche 
Durchfeuchtung  des  mit  Getreide  zu  bestellenden  Bodens  er- 
zielt wird. 

Die  Viehzucht  wird  ohne  Ställe  und  Stallfütterung,  ohne 
künstliche  Wiesen  lediglich  mit  Hilfe  des  natürlichen  Weidelandes 
betrieben. 

Zur  Entwicklung  der  Gewerbetätigkeit  fehlen,  wie  wir 
sahen,  im  Lande  selbst  die  Bedingungen  fast  durchaus.  Immer- 
hin sind  auch  heute  noch  kleine  Ansätze  zu  einer  gewissen, 
selbstverständhch  bodenständigen  Gewerbetätigkeit  vorhanden.  So 
wird  an  mehreren  Orten,  welche  bedeutende  Olivenzucht  besitzen, 
wie  in  Nabulus,  Gaza,  Jaffa  das  Olivenöl  zu  Seife  verarbeitet. 
Die  Salzpflanzen  der  Steppe  des  Ostjordanlandes  liefern  von 
altersher  dazu  die  Soda.  Der  Müllerei  gedachten  wir  schon. 
Doch  herrschen  durchaus  Handmühlen  für  jeden  Haushalt  vor. 
Hebron  verfertigt  eigenartige  Glaszierate,  besonders  Glasringe  als 
Armbänder  und  Lampen,  irdenes  Geschirr,  Lederschläuche,  auch 
noch  grobe  Wollstoffe.  Teppichweberei  kommt  noch  vielfach 
vor.  In  Bethlehem  nährt  sich  ein  bedeutender  Teil  der  Bevölke- 
rung von  der  Anfertigung  von  Andenken  aus  dem  Heiligen  Lande 
aus  Olivenholz,  Perlmutterschalen  u.  dgl.  Rascheja  am  Hermon 
ist  durch  seine  Töpfereien  berühmt,  deren  Erzeugnisse  trotz  der 
felsigen  Wege  auf  Eseln  und  Maultieren  durch  ganz  Syrien  ver- 
trieben werden. 

Daß  ein  großer  Teil  der  Bevölkerung  des  Landes  selbst 
nichts  hervorbringt,  sondern  von  dem  Gelde  lebt,  welches  Christen 
und  Juden  aus  der  ganzen  Welt  zu  ihrem  Unterhalte  beisteuern, 
wurde  schon  angedeutet.  Eine  immer  reicher  fließende,  überaus 
bequeme  Erwerbsquelle  bilden  auch  die  Pilger.  Bei  dem  Dar- 
niederliegen aller  Erwerbszweige  der  überaus  dünn  gesäeten  Be- 
völkerung kann  naturgemäß  die  Hervorbringung  von  Waren  (Roh- 
stoffen) zur  Ausfuhr,  wie  die  Kaufkraft  für  die  Erzeugnisse 
europäischen    Gewerbefleißes,    demnach    auch    der   Handel    nur 


—      141      — 

gering  sein.  Die  Summe,  um  welche  es  sich  bei  der  Aus-  und 
Einfuhr  handelt,  ist  sehr  gering,  doch  ist  ein  stetiger,  wenn  auch 
langsamer  Fortschritt  bemerkbar,  der  selbstverständlich  von  außen 
her  bewirkt  ist.  Die  Einfuhr  findet  vorzugsweise  über  Jaffa,  die 
Ausfuhr  über  Jaffa,  Haifa  und  'Akka  statt.  Der  Mangel  an 
Wegen  und  Häfen  war  bisher  und  ist  noch  heute  der  Entwick- 
lung des  Landes  nachteilig.  Hafenbauten  sind  wenigstens  in 
Jaffa  und  Haifa  unerläßlich^  wie  die  Römer  Kunsthäfen  in  Cäsa- 
rea,  die  Kreuzfahrer  in  'Akka  und  Atlit  hergestellt  hatten.  Bei 
den  zu  überwindenden  Schwierigkeiten  würden  freilich  die  Kosten 
so  hohe  sein,  daß  auf  lange  eine  Verzinsung  der  angelegten 
Summen  nicht  zu  hoffen  wäre.  Fahrstraßen  verbinden  heute 
Jaffa  mit  Jerusalem  und  durch  die  Ebene  mit  Haifa.  Jerusalem 
ist  auch  mit  Hebron  durch  Fahrstraße  verbunden,  Haifa  und 
'Akka  mit  Nazareth.  Der  1892  fertiggestellten  Eisenbahn  Jaffa- 
Jerusalem  folgte  1895  die  Linie  Damaskus-El  Muzerib,  Seitdem 
ist  die  von  Haifa  ausgehende  Linie  nach  Damaskus  bis  zum 
Jordan,  die  türkische  nach  Arabien  bis  östlich  vom  Toten  Meere 
vollendet  worden. 

Der  ganze  heutige  Zustand  des  Landes  findet  einen  scharfen 
Ausdruck  in  der  Volksdichte  desselben.  Wie  groß  dieselbe 
ist,  kann  nur  geschätzt  werden.  Jedenfalls  ist  sie  sehr  gering,  da 
recht  gut  bewohnbare  Gebiete,  wie  z.  B.  der  Karmel,  heute  fast 
menschenleer  sind.  Doch  ist  durch  die  starke  Zuwanderung  die 
Bevölkerungszahl  beträchtlich  gestiegen.  Einen  guten  Anhalt  für 
eine  Schätzung  hat  uns  die  Feststellung  einer  Volksdichte  von 
21  —  22  Köpfen  auf  i  qkm  für  die  Landschaft  Dscholan  gegeben. 
Für  Galiläa,  dessen  Volksdichte  aber  kaum  größer  sein  dürfte 
als  die  von  Judäa,  wegen  Jerusalem,  Hebron,  Gaza,  hat  neuer- 
dings Schwöbel  auf  Grund  einer  sorgsamen  Untersuchung  eine 
Volksdichte  von  28  Köpfen  angenommen.  Ich  glaube  daher  für 
das  ganze  Land  eine  mittlere  Volksdichte  von  25  Köpfen  auf 
I  qkm  annehmen  zu  sollen,  was  bei  rund  30000  qkm  eine  Ge- 
samtbevölkerung von  750000  Köpfen  geben  würde.  Im  all- 
gemeinen ist  die  Volksdichte  an  der  Regenseite,  der  Westseite 
des  West-  wie  des  Ostjordanlandes  am  größten  und  nimmt  sie 
mit  der  Höhe  zu.  Namentlich  der  tiefstgelegene  Landstreifen 
des  Ghor  zeigt   auch    die   größte  Auflockerung  der  Bevölkerung. 

Es  verteilt  sich  die  Bevölkerung  Palästinas  entsprechend  dem 


—       142       — 

überwiegen  der  ländlichen  Bevölkerung  über  meist  kleine  Siede- 
lungen^  Dörfer,  höchstens  Landstädtchen  in  unserem  Sinne.  Klein- 
siedelungen herrschen  durchaus  vor,  wenn  auch  heute  schon 
weniger  wie  vor  kurzem.  In  Galiläa  wohnten  in  den  siebziger 
Jahren  nur  30  Prozent  der  Bevölkerung  in  Städten  von  mehr 
als  2000  Einwohnern.  Großstädte  sind  naturgemäß  nicht  vor- 
handen, selbst  Jerusalem  mit  seinen  etwa  60000  Einwohnern 
kann  erst  seit  kurzem  als  eine  Mittelstadt  bezeichnet  werden. 
Bei  allen  anderen  Städten  überwiegt  die  ländliche  Bevölkerung. 
Es  fehlt  überhaupt  eine  Individualisierung  der  Siedelungen  etwa 
als  Sitze  des  Handels,  der  Gewerbetätigkeit,  als  Badeorte  u.  dgl. 
fast  ganz.  Bei  einzelnen  tritt  ihre  geschichtliche  Bedeutung  auch 
in  der  Gegenwart  schärfer  hervor,  indem  diese  sie,  wie  wir  das 
ganz  besonders  bei  Jerusalem  sehen,  zum  Ziele  von  Pilgerfahrten 
machte,  und  Anlagen  zur  Aufnahme  von  Pilgern  ihnen  ein  be- 
sonderes Gepräge  verleihen.  Das  Fremdengewerbe  beginnt  bei 
ihnen  ähnlich,  wenn  auch  in  bescheidenerem  Maße  und  in 
anderen  Formen  wie  etwa  in  der  Schweiz  eine  Rolle  zu  spielen. 
Die  Bedingtheit  der  wichtigsten  Siedelungen  kennzeichneten  wir 
bereits.  Die  meisten  sind  an  Quellen,  deren  Vielheit  in  Galiläa 
auch  Vielheit  der  Siedelungen  bedingt,  im  Wüstenlande  an 
Brunnen  gebunden,  wenige  an  rinnendes  Wasser,  schon  weil  dies, 
wo  vorhanden,  meist  in  engen  Schluchten  fließt.  Nicht  wenige 
aber  auch  lediglich  an  Zisternen,  welche  Seßhaftigkeit  zur  Aus- 
beutung des  fruchtbaren  Landes  oft  allein,  namentlich  bei  Höhen- 
lage, ermöglichten.  Selbst  in  dem  quellenreichen  Galiläa  sind 
noch  22^ Iq  der  Siedelungen  an  Zisternen  gebunden.  Besondere 
Hervorhebung  verdient,  daß  die  Seen  im  grellsten  Gegensatze 
etwa  zu  mitteleuropäischen  Verhältnissen  in  keiner  Periode  der 
Geschichte  eine  Verdichtung  der  Bevölkerung,  keine  Entwick- 
lung größerer  Siedelungen  herbeigeführt  haben.  Tiberias  ist 
die  einzige  Ausnahme  von  dieser  Regel.  Hohe  freie  Lage, 
sei  es  auf  vereinzelten  Höhen,  auf  Bergspornen  zwischen  Fluß- 
tälern, wohl  auch  an  freien  Hängen,  luftig,  gesund  und  zugleich 
natürlich  geschützt,  kennzeichnet  sehr  viele  Siedelungen  Palästinas. 
Allenthalben  strebt  hier  die  Bevölkerung  den  Höhen  zu,  die  Siede- 
lungsdichte  nimmt  allgemein  mit  der  Höhe  zu.  In  Galiläa  wohnt 
die  Hälfte  der  Bevölkerung  auf  36°/^  der  Fläche  oberhalb  der 
Isohypse    von    300   m.     Mit    den    meist    kleinen    weißgetünchten 


—      143      — 

Steinwürfeln  der  Häuser  mit  ihren  flachen  oder  Kuppeldächern, 
eines  über  das  andere  getürmt,  gleichsam  die  Höhe  erklimmend, 
die  ein  alter  Turm,  das  Haus  des  Schechs  oder  eine  Moschee 
mit  hohem  Minareh  krönt,  mit  hier  und  da  zwischen  den  Häu- 
sern stolz  aufragenden  Dattelpalmen  oder  über  die  Mauern  hängen- 
den Fruchtbäumen  ist  der  Anblick  dieser  Ortschaften  meist  ein 
sehr  malerischer.  Im  Inneren  freilich  wird  dieser  Eindruck  durch 
die  engen,  von  Schmutz  und  Unrat  gefüllten  Gassen  rasch  ver- 
wischt, die  oft  teilweise  überwölbt  oder  mit  mehr  oder  weniger 
schadhaften  Matten  überspannt  sind  und  auf  die  sich  die  nach 
außen,  meist  fensterlosen  Häuser  nur  mit  dunklen  höhlenähnlichen 
Hauseingängen  öffnen.  Die  Höhle  scheint  auch  vielfach  das 
Vorbild  dieser  Häuser  gewesen  zu  sein.  Selten  sind  dieselben 
in  tadellosem  baulichen  Zustande,  halb  oder  ganz  in  Trümmern 
liegende  findet  man  überall.  Manche  Dörfer,  die  mit  ihren 
niedrigen  Häusern  an  die  Felswände  geklebt  sind,  denen  der 
Baustein  entnommen  ist,  sind  von  fem  kaum  zu  erkennen.  Tal- 
und  Kesselsiedelungen  sind  aus  gesundheitlichen,  wie  aus  Sicher- 
heitsgründen nicht  häufig.  Nur  im  nördlichen  Ostjordanlande, 
besonders  in  En  Nukra  finden  sich  Siedelungen  häufig  in  freier 
Ebene.  Diese  dürften  aber  wohl  meist  erst  in  der  Zeit  der  höch- 
sten Sicherheit,  die  das  römische  Reich  bot,  entstanden  sein,  wie 
sie  dann  auch  zuerst  dem  Ansturm  der  Wüste  erlagen.  Manche 
Siedelungen  Hegen  oder  lagen  auch  auf  sogenannten  Teils,  nied- 
rigen, vereinzelt  aus  der  Ebene  aufsteigenden  Hügeln,  die  zuweilen 
natürlichen,  häufiger  aber  künstlichen  Ursprungs,  namentlich  durch 
übereinander  gehäufte  Schuttmassen  von  Lehmhäusern  sind. 
Wie  fast  überall  im  Orient  zerfällt  jede  etwas  größere  Siedelung 
in  ganz  gesonderte  Viertel,  wenn  dieselben  auch  selten,  wie  in 
Marokko  allgemein,  durch  Mauern  und  Tore  voneinander  ge- 
sondert sind.  Jedes  Viertel  ist  von  Angehörigen  einer  anderen 
Religion  oder  Konfession  bewohnt,  die  sich  gegeneinander  ab-,  um 
so  enger  aber  zu  gegenseitigem  Schutze  zusammenschließen.  Auch 
heute  noch  ist  dieser  unerläßlich,  da  ja  jeden  Augenblick  reli- 
giöser Fanatismus  und  Unkultur  zu  blutigen  Metzeleien,  mit  Vor- 
liebe der  Christen  untereinander  führt.  Auch  die  deutschen 
Templer  bilden  geschlossene  Ansiedelungen  für  sich  abseits  der- 
jenigen der  Eingeborenen.  Einige  wenige  Chans  und  Mühlen  an 
dauernd    rinnende   Bäche    meist   in   engen   Schluchten   gebunden, 


—     144     — 

aber  auch  nur  in  Galiläa  und  im  Ostjordanlande  machen  eine 
Ausnahme  von  der  Regel  des  geschlossenen  Wohnens.  Die  meisten 
etwas  ansehnlicheren  Siedelungen  Palästinas  dürften  uralt  sein. 
Zahllose  Ruinenstätten,  deren  Schwöbel  allein  in  Galiläa  460  zählt, 
neben  32g  vorhandenen  Siedelungen,  zeugen  davon,  daß  in  der 
Blütezeit  des  Landes  dasselbe  viel  dichter  mit  Siedelungen  be- 
deckt war,  von  denen  sich  im  allgemeinen  wohl  nur  die  lebens- 
kräftigsten erhalten  haben  und  nur  durch  wenige  Neugründungen 
ergänzt  worden  sind.  Die  Siedelungsdichte  ist  heute  eine  weit 
geringere  als  in  der  Blütezeit,  jedenfalls  auch  die  Größe  der 
Siedelungen. 

In  Judäa  lassen  sich  nach  Volksdichte  und  Siedelungen  drei 
parallele  Landstreifen  unterscheiden,  die  ähnlich  noch  im  Mittel- 
lande Samaria  vorhanden  sind.  Im  Osten  die  sich  von  Norden 
nach  Süden  von  15  auf  25  km  verbreiternde  Felswüste  Juda, 
die,  abgesehen  von  dem  Kloster  Mar  Saba,  heute  völlig  menschen- 
leer ist,  und  nur  im  Winter  von  Beduinen  besucht  wird.  In  der 
Mitte  das  sich  ebenfalls  von  Norden  nach  Süden  von  30  auf 
35  km  verbreiternde  Hochland,  ihm  gegen  das  Meer  hin  vor- 
gelagert das  Küstenland,  Hügelland  und  Ebene  20 — 40  km  breit. 
Die  südliche  Erstreckung  Judäas  und  damit  Palästinas  überhaupt 
rechnet  man  gewöhnlich  bis  Beerseba,  40  km  SSW  von  Hebron. 
Die  Grenze  seßhaften  Wohnens  war  aber  in  der  besten  Zeit  noch 
viel  weiter  nach  Süden  gerückt,  während  sie  heute  schon  15  km 
südlich  von  Hebron  liegt.  In  der  Niederung  reicht  sie,  abgesehen 
von  einem  ganz  schmalen,  wasserreichen  Streifen  hinter  den 
Küstendünen,  der  erst  25  km  südlich  von  Gaza  endigt,  nicht  ein- 
mal so  weit.  Die  in  der  Bibel  so  viel  erwähnten  Brunnen  von 
Beerseba,  um  die  sich  der  Ort  gruppierte,  liegen  im  Bette  des 
Wadi  Gaza,  der  seinen  Ursprung  auf  dem  Hochlande  bei  Hebron 
hat,  nach  dem  er  dort  auch  genannt  wird.  Wenn  wir  von  Gaza 
(c.  35000  E.)  und  Jaffa  (c.  45000  E.)  und  den  weniger  be- 
deutenden Randstädten  am  Fuße  des  Hochlandes  Er  Ramie  und 
Ludd  absehen,  liegen  alle  wichtigen  Siedelungen,  die  wichtigsten 
in  der  ganzen  Geschichte  Palästinas,  auf  diesem  schmalen,  im 
Mittel  etwa  800  m  hohen  Hochlandstreifen  von  Judäa.  So  das 
bereits  geschilderte  Jerusalem,  ferner  Hebron  (arabisch  El  Chalil, 
d.  h.  die  Stadt  Abrahams,  des  Freundes  Gottes),  heute  auch  als 
nahe  der  Grenze  des  seßhaft  bewohnten  Landes  wichtig,  an  den 


—     145     — 

Hängen  eines  Tales,  das  zwei  große  Sammelteiche  enthält,  eine 
heilige  Stadt  des  Islam,  welche  die  Gräber  Abrahams,  Isaaks 
und  Jakobs  enthält,  wo  infolgedessen  die  Bevölkerung  besonders 
fanatisch  und  nur  einer  beschränkten  Zahl  von  Juden  der  Aufent- 
halt gestattet  ist.  Es  mag  i8 — i  g  ooo  Einwohner  haben.  Die 
Lage  von  Bethlehem,  Christi  und  König  Davids  Geburtsort,  ähnelt 
der  von  Jerusalem.  Es  hat  heute  etwa  8000  meist  christliche 
Einwohner.     Die  Geburtskirche  Christi   ist   ihr   größtes  Heiligtum. 

In  Samaria  liegen  die  Verhältnisse  im  allgemeinen  ähnlich 
wie  in  Judäa.  Auch  dort  ist  der  dem  Ghor  benachbarte  Land- 
gürtel der  ungünstigste,  auf  dem  Hochlande  selbst  aber  begünstigt 
größerer  Quellenreichtum  und  das  Vorkommen  von  kleinen, 
fruchtbaren  Becken  Anbau  und  Volksverdichtung.  Das  wichtigste 
derselben  ist  die  INIachnaebene,  an  deren  Nordwestende,  in  einem 
sich  nach  Norwesten  öffnenden  Tale,  570  m  hoch  das  alte  Sichem 
liegt,  in  hellenistischer  Zeit  Neapolis  genannt,  davon  heute  Na- 
bulus.  In  quellen-  und  baumreicher  Umgebung,  reich  an  mur- 
melnden Wasserrinnen,  die  Hänge  ringsum  bis  Ebal  im  Norden, 
bis  Garizim  im  Süden  terrassiert  und  bepflanzt,  macht  Nabulus 
einen  außerordentlich  lieblichen  Eindruck,  wenn  es  auch  fast 
ganz  von  fanatischen  Mohammedanern  (25  000)  bewohnt  ist.  An 
der  Nordgrenze  von  Samaria  liegt  Dschenin  ähnlich  über  dem 
südöstlichen  Zipfel  des  Merdsch  el  'Amir,  daher  nur  158  m  über 
dem  Meere,  inmitten  palmenreicher  Gärten.  Zwischen  beiden, 
näher  an  Nabulus,  ist  das  alte  Samaria,  das  zur  Zeit  der  Makka- 
bäer  dieser  mittleren  Landschaft  des  Westjordanlandes  seinen 
Namen  gab,  als  Sebastije  (nach  Augustus  Sebaste  genannt)  heute 
ein  kleines,  einen  aus  der  Hochebene  aufragenden  terrassierten 
Hügel  krönendes  Dorf.  Die  Sekte  der  Samaritaner  hat  aber 
ihren  Sitz  in  Nabulus. 

In  dem  etwa  4000  qkm  großen  Galiläa  nimmt  die  am  Ras 
en  Nakura  am  Südende  der  Scala  Tyriorum  anhebende  Küsten- 
ebene um  die  Bucht  von  Haifa  nur  7  Prozent  der  Landschaft  ein. 
Historisch  weit  wichtiger  als  das  es  heute  überflügelnde  Haifa 
ist  'Akka,  das  im  Altertum  auch  vielfach  zu  Phönikien  gerechnet 
wurde  und  erst  später  eine  jüdische  Niederlassung  erhielt.  Seine 
größte  Bedeutung  erlangte  es  während  der  Kreuzzüge  als  Seetor 
von  Palästina  in  der  Hand  der  Christen.  Nur  durch  eine  Tal- 
enge   geschieden    schließt    sich    die   Binnenebene  Jesreel   an    die 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  10 


- —     146     — - 

Küstenebene  an.  Da  die  östliche  Abdachung  sehr  schmal,  aber 
auch  nur  dünn  bevölkert  ist,  so  gehört  fast  Dreiviertel  von  Gali- 
läa dem  Hochlande  an,  welches  aber  einerseits  in  ein  südwest- 
liches Nieder-  und  ein  nordöstliches  Obergaliläa  geschieden  wer- 
den kann.  Aber  auch  ersteres  erhebt  sich  ziemlich  steil  aus  der 
Querverwerfung  von  Jesreel  und  weitet  sich  nach  Norden  zu  dem 
flachen  Becken  El  Battof  aus.  Obergaliläa,  etwa  44%  ^^^^  Land- 
schaft, erscheint  als  eine  etwa  600  m  hohe  von  Tälern  durch- 
schnittene Tafel  mit  Erhebungen  bis  zu  1200  m.  Sie  ist  deshalb 
der  niederschlags-  und  noch  waldreichste  Teil  von  Palästina  und 
war  wohl  auch  immer  einer  der  dichtestbesiedelten.  Hier  liegt 
auch  heute  der  größte  Ort  Safed,  838  m,  mit  30000  Einwohnern, 
in  für  Obergaliläa  besonders  charakteristischer  Lage  auf  und  um 
einen  vulkanischen  Kegel.  Dieser  natürlichen  Festigkeit  und 
seiner  Eigenschaft  als  heilige  Stadt  verdankt  Safed  seine  Be- 
deutung und  sein  Wachstum  in  neuester  Zeit,  keineswegs  etwa 
einer  günstigen  Verkehrslage.  Es  ist  aber  auch  die  einzige 
Siedelung  Obergaliläas  von  über  2000  Einwohner.  Nicht  so 
groß,  aber  auch  rasch  gewachsen,  wohl  wesentlich  wegen  seiner 
größeren  geschichtlichen  Bedeutung  als  heiliger  Ort,  die  zahlreiche 
christliche  Gründungen  veranlaßt  hat,  ist  der  Hauptort  von  Nieder- 
galiläa Nazareth,  349  m,  mit  10  000  Einwohnern,  in  wasserreicher 
Umgebung,  aber  abgeschlossener,  verborgener  Lage.  Die  kleinen 
Becken  und  Ebenen  sind  auch  hier  teils  wegen  der  Versumpfung, 
teils  wegen  des  mangelnden  natürlichen  Schutzes  keineswegs  heute 
die  dichtestbevölkerten  Gebiete.  Doch  wird  sich  das  wohl  wieder 
rasch  ändern.  Im  allgemeinen  nimmt  die  Volksdichte  mit  der 
Höhe  zu  und  ist  namentlich  in  der  Gegenwart  durch  Zuwande- 
rung auch  hier  vorzugsweise  in  die  größeren  Siedelungen  im 
Wachsen.  Sie  erreicht  heute  bereits  an  der  Nordgrenze,  wo 
kleine  Siedelungen  am  dichtesten  gesäet  sind  und  schon  die 
günstigeren  Verhältnisse  des  Libanon  einwirken,  bis  50  Köpfe  auf 
I  qkm,  in  Niedergaliläa  etwa  30. 

Im  Ostjordanlande,  dessen  Volksdichte  durchweg  eine  ge- 
ringere ist,  wo  alle  Kultur  wegen  der  Nähe  der  Wüste  dauernd 
kräftigen  Schutzes  bedarf,  hat  selbst  die  meridionale  Verkehrs- 
linie, so  wichtig  sie  ist,  keine  größeren  Siedelungen  in  der  Gegen- 
wart hervorzubringen  vermocht,  weil  sie  aus  bodenplastischen 
Gründen  sich,    außer   an    der  Westseite  des  Haurangebirges,  auf 


—      147     — 

der  Grenze  von  Wüste  und  Kulturland  hält.  In  der  vorarabischen 
Blütezeit  hatte  hier  allerdings  der  Verkehr  mit  reich  lohnendem 
Anbau  des  Bodens  im  Bunde  an  der  Westseite  des  Hauran- 
gebirges selbst  Großstädte  geschaffen.  Alle  etwas  bedeutenderen 
Siedelungen  liegen  heute  westlich  der  großen  Pilgerstraße  nahe 
dem  Ghor  in  einem  noch  verhältnismäßig  niederschlagsreichen 
Gürtel  in  bedeutender  Meereshöhe,  mehr  durch  Anbau  des  Bodens 
als  durch  Verkehr  bedingt.  So  im  Süden  jenseits  des  Toten 
Meeres,  aber  nur  12  km  von  und  1400  m  über  demselben  El 
Kerak  (Kir  Moab  der  Bibel),  auf  einer  Anhöhe  der  Hochfläche, 
hoch  über  dem  tief  eingeschnittenen  Tale  des  zum  Toten  Meere 
eilenden  gleichnamigen  Flusses,  natürlich  fest  und  einen  der 
Karawanenwege  nach  Arabien  und  Ägypten  beherrschend,  daher 
eine  zu  allen  Zeiten  wichtige  Festung,  heute  wieder  mit  etwa  20 
bis  22000  Einwohnern.  Es  ist  Sitz  der  türkischen  Verwaltung  für 
den  Südosten  und  einer  starken  türkischen  Besatzung.  Gegen 
die  meist  niedrigen  Häuser  und  Hütten  der  vorzugsweise  von 
Ackerbau  und  Viehzucht  lebenden  Bewohner  sticht  die  gewaltige 
Mauer  und  das  noch  massigere  Kastell  auf  der  Höhe,  von  dem 
der  Blick  bis  zum  Ölberge  schweift,  das  im  wesentlichen  als  ein 
Werk  der  Kreuzfahrer  angesehen  werden  kann,  merkwürdig  ab. 
Große  Zisternen  überall  in  der  Stadt  suchen  dieselbe  von  den 
Quellen  im  Tale  unabhängig  zu  machen.  Es-Salt,  der  Hauptort 
von  El  Belka,  liegt  ebenfalls  835  m  hoch  am  Hange  eines  von 
einem  alten  Kastell  gekrönten  Berges,  auch  über  einem  wasserreichen, 
sich  zum  Ghor  öffnenden  Tale  und  nur  10  km  von  diesem.  Es 
ist  ebenfalls  vorwiegend  Ackerstadt.  Stammt  Es-Salt  wohl  erst 
aus  christlicher  Zeit,  so  liegt  weiter  nach  Norden,  schon  in  Ad- 
schlun,  das  heute  kleine  und  unbedeutende  Dscherasch  (5 1 6  m), 
erst  durch  Tscherkessen  wieder  besiedelt,  inmitten  des  weiten, 
noch  von  mächtigen  Mauern  umschlossenen  Trümmerfeldes  von 
Gerasa,  das  in  den  ersten  christlichen  Jahrhunderten  eine  Großstadt 
war.  Etwas  größer  (4000  Einwohner)  ist  Derät,  das  sehr  alt  ist  und 
als  Knotenpunkt  der  Hedschaseisenbahn  wohl  einer  neuen  Blüte  ent- 
gegengeht. An  seinen  antiken  Ringmauern  trägt  noch  jeder  Stein 
einen  vier  Zoll  hohen  griechischen  Buchstaben,  das  Steinmetzeichen. 

Verwaltungseinteilung. 

Die  im  allgemeinen  noch  traurige  Gegenwart  Palästinas  be- 

10* 


—     148     — 

ruht  im  wesentlichen  auf  seiner  Zugehörigkeit  zum  türkischen 
Reiche.  Den  wichtigsten  Teil  des  Landes  bildet  das  selbständige 
Liwa  El-Kuds  (Jerusalem),  das  also  unmittelbar  unter  der  Regie- 
rung in  Konstantinopel  steht.  Das  Ostjordanland,  in  die  Liwas 
des  Hauran  und  Maän  (El  Kerak)  eingeteilt,  gehört  zu  dem 
Vilajet  Sürtja  (Syrien),  dessen  Hauptstadt  Damaskus  ist.  Samaria 
und  Galiläa  gehören  als  Sandschaks  Nabulus  und  'Akka  zu  dem 
Vilajet  Berut. 

Zukunft  des  Landes. 

Werfen  wir  zum  Schluß  einen  Blick  auf  die  Zukunft  von 
Palästina,  so  können  wir  die  früher  viel  erörterte  Frage,  ob  die 
Länder  des  Orients  nicht  infolge  einer  Klimaänderung  für  alle 
Zeiten  zu  der  Verwahrlosung  verurteilt  seien,  in  welcher  sie  heute 
zum  großen  Teile  daliegen,  als  dahin  entschieden  ansehen,  daß 
die  Landesnatur  wohl  durch  die  alte  Kultur,  eine  lange  Ge- 
schichte und  den  Unverstand  der  Menschen  beeinflußt  worden 
ist,  daß  aber  von  einer  Klimaänderung  hier  keine  Rede  sein 
kann  und  daß  diese  Länder  vollends  mit  den  technischen  Hilfs- 
mitteln der  Gegenwart  unter  einer  guten  Verwaltung  wieder  zu 
einer  Blüte  gebracht  werden  können,  die  der  glänzendsten  Zeit 
des  Altertums  gleichkommen  könnte.  In  Palästina  läßt  sich 
schon  heute  der  türkischen  Verwaltung  zum  Trotz  unter  dem 
sich  immer  gewaltiger  aufdrängenden  Kultureinflusse  Europas 
überall  eine  aufsteigende  Bewegung  erkennen.  Am  auffälligsten 
tritt  dieselbe  naturgemäß  in  den  Städten,  allen  voran  in  Jeru- 
salem, entgegen.  Aber  sie  macht  sich  auch  in  den  kleinen  Land- 
städten, auf  dem  Lande  und  selbst  im  Ostjordanlande  geltend. 
Es  sind  gewaltige  Summen,  welche  die  christlichen  Bekenntnisse 
durch  die  Pilger,  durch  dauernde  Niederlassungen  der  ver- 
schiedensten Art,  durch  die  Eisenbahnbauten  usw.  jahraus  jahrein 
dem  Heiligen  Lande  zuwenden  und  mit  denen  sie  dessen  Wirt- 
schaftsleben befruchten.  Von  Tag  zu  Tag  zieht  das  Land  mehr 
Vorteil  von  seiner  Eigenschaft  als  heiliges.  So  besitzt  beispiels- 
weise das  kleine  Nazareth  allein  drei  Hospitäler,  sieben  Klöster, 
zwölf  Schulen  europäischer  Völker,  einzelne  auch  zur  Ausbildung 
von  Handwerkern  in  arabischer  Sprache. 

Besonders  anziehend  zu  beobachten  ist,  wie  heute  selbst 
das    am   meisten   verödete    Ostjordanland   wieder    aufzuleben    be- 


—      149     — 

ginnt.  Der  englische  Reisende  Cyrill  Graham  besuchte  1857  im 
südwestKchen  Hauran  Um-ed-Dschimal  (Mutter  der  Kamele),  eine 
Gründung  der  christlichen  Ghassaniden  und  eine  der  am  besten 
erhaltenen  unter  den  zahlreichen  Ruinenstädten  des  Landes.  Mit 
ihren  zahlreichen  unversehrten,  ganz  aus  Stein  erbauten  Häusern, 
mit  ihren  gepflasterten  Straßen  und  viereckigen  Plätzen,  das 
Ganze  noch  von  starken  Ringmauern  umschlossen,  machte  es, 
völlig  menschenleer,  den  Eindruck  einer  verzauberten  Stadt.  Der 
englische  Reisende  R.  Lees  fand  sie  1893  wieder  bewohnt  und 
voller  Leben!  Ähnliches  gilt  von  Es-Suweda  (1078  m,  an  der 
Westseite  des  Hauran,  Maximianopolis?),  das  1860  noch  menschen- 
leer war,  aber  1893  nicht  ein  unbewohntes  Haus  mehr  hatte, 
heute  der  bedeutendste  Ort  des  Hauran  ist  und  dessen  Straßen 
ein  echt  orientalisch  belebtes  Bild  bieten.  Und  so  zahlreiche 
alte  Ortschaften  dieser  Gegend.  Die  ersten  neuen  Zuwanderer 
besetzen  die  besten  noch  völlig  bewohnbaren  Häuser,  spätere 
bessern  die  beschädigten  aus,  so  daß  eine  Umwandlung  wie 
bei  den  genannten  und  vielen  anderen  sich  so  rasch  voll- 
ziehen kann. 

Was  Palästina  in  der  besten  Zeit,  dem  3. — 6.  Jahrhundert 
n.  Chr.,  gewesen  ist,  das  zeigen  am  besten  die  über  das  ganze- 
Land  verstreuten  Ruinen,  vor  allem  aber  die  so  gut  erhaltenen 
Ruinenstädte  im  ganzen  Ostjordanlande,  besonders  im  Hauran 
und  Dscholan,  ebenso  aber  in  dem  sogenannten  Negeb  oder  dem 
Südlande  der  Bibel,  an  der  Südgrenze  von  Judäa,  kurz  ringsum 
in  den  Grenzlandschaften  gegen  die  Wüste,  die  heute  menschen- 
leer daliegen  oder  höchstens  von  wenigen  schweifenden  Noraaden 
bewohnt  sind.  Südlich  vom  heutigen  Kulturlande  von  Judäa 
findet  man  weithin  bis  in  die  heutige  Wüste  hinein  Dämme  in 
den  Wadis,  terrassierte  Hänge,  Spuren  ehemaligen  Weinbaues 
und  Weinpressen,  die  sich  ja  in  dem  trockenen  Klima  lange 
erhalten,  Trümmer  von  Siedelungen,  namentlich  in  den  Wadis 
Hanein  und  El  Aujeh,  die  zum  Wadi  El  Arisch  gehören. 
Arabische  Überlieferung  nennt  Wadi  Hanein  ein  Gartental.  El 
Aujeh  und  Sebaita  müssen,  nach  den  Trümmern  zu  schließen, 
bedeutende  Städte  gewesen  sein.  In  letzterer  fand  der  englische 
Forscher  E.  H.  Palmer  die  großartigen  Ruinen  von  drei  Kirchen, 
wohl  aus  dem  4.  und  5.  Jahrhundert.  Jedes  Haus  besaß  eine 
jetzt  trockenliegende  Zisterne,  aber  in  weitem  Umkreise  ist  keine 


-      I50     — 

lebende  Quelle  zu  finden.  Auf  engem  Räume  konnten  die 
Trümmer  von  einem  halben  Dutzend  Städten  nachgewiesen  wer- 
den. Ähnlich  wie  hier  und  im  Ostjordanlande  heute  Steppe  und 
Wüste  herrscht,  ist  Mitteltunesien  heute  fast  baumlose,  aber  mit 
zahllosen  Trümmern  großer  und  kleiner  Siedelungen  übersäete 
Steppe.  In  spätrömischer  Zeit  war  es  durch  Aufspeicherung  allen 
Wassers  und  durch  Baumzucht,  namentlich  Ölbäume,  reiches, 
dicht  besiedeltes  Kulturland.  Diese  Landschaften  lehren,  mit 
welchen  Mitteln  eine  solche  Blüte  möglich  war  und  die  Unter- 
suchung der  Landesnatur,  wie  sie  heute  ist,  läßt  keinen  Zweifel 
aufkommen,  daß  mit  denselben  Mitteln  ein  gleiches  Wieder 
aufblühen  möglich  ist.  Der  Vorgang  des  Verfalls  und  des 
Wiederauflebens  mag  sich  in  diesen  Grenzlandschaften  mehrfach 
wiederholt  haben.  Das  letztere  fand  immer  statt,  wenn  dieselben 
einem  großen,  starken,  wohlgeordneten  Staatswesen  angehörten, 
das  dem  Kulturlande  den  nötigen  Schutz  gegen  die  Wüste  zu 
gewähren  und  auch  die  günstige  Handelslage  zur  Geltung  zu 
bringen  vermochte.  Seit  dem  ig,  Jahrhundert  hat  wenigstens  im 
Ostjordanlande  eine  Neubesiedelung  der  alten  Ruinenstädte  be- 
gonnen, aber  selbst  in  Galiläa  hegen  nach  Schwöbel  von  je  etwa 
fünf  Siedelungen  der  Blütezeit  noch  drei  in  Trümmern. 

Mag  auch  in  Palästina  die  Decke  fruchtbarer  Ackererde  im 
Laufe  der  Jahrtausende  und  durch  mangelnden  Schutz  dünner 
und  lückenhafter  geworden  sein,  mögen  die  Niederschläge  wenig- 
stens unregelmäßiger,  wenn  auch  nicht  geringer  geworden  sein, 
es  sind  noch  in  vollem  Maße  die  Bedingungen  gegeben,  um  von 
innen  heraus  das  Land  einer  neuen  Blüte  zuzuführen.  Zieht 
man  in  Betracht,  daß  die  Bedürfnislosigkeit  der  Bevölkerung  süd- 
licherer Länder  auch  bei  gleich  hoher  Gesittung  stets  größer,  das 
Nahrungsbedürfnis  geringer  ist,  so  leuchtet  ein,  daß  die  Volks- 
dichte eines  wärmeren  Landes  bei  gleicher  Fruchtbarkeit  des 
Bodens  größer  sein  kann  wie  die  eines  kälteren.  Schwöbel 
nimmt  für  Galiläa  in  der  besten  Zeit  eine  Volksdichte  von 
I20  Köpfen  auf  i  qkm  an,  Socin  für  ganz  Palästina  96 — 115. 
Jedenfalls  erscheint  uns  eine  Vervierfachung  der  heutigen  Volks- 
dichte von  25  Köpfen,  also  100  Köpfe  auf  i  qkm  und  somit 
3  Millionen  für  das  ganze  Land  durchaus  möghch,  lediglich  durch 
Entwicklung  des  Anbaus  des  Bodens,  ohne  Hinzutreten  etwa  von 
Handel  und  Gewerbetätigkeit,    für  welche   in  der  Gegenwart  die 


Bedingungen  nicht  gegeben  sind.  Freilich,  eine  Volksdichte,  wie 
sie  Sizilien  besitzt,  das  man  zum  Vergleiche  heranziehen  könnte, 
141  Köpfe  auf  I  qkm,  scheint  mir  für  Palästina  unmöglich,  da 
dort  auch  Bergbau  und  Handel,  schon  wegen  der  günstigen 
Lage,  der  Länge  und  Beschaffenheit  der  Küsten,  auch  Gewerbe- 
tätigkeit ins  Gewicht  fallen,  welch  letzterer  billige  Zufuhr  von 
Rohstoffen  und  niedrige  Löhne  günstig  sind.  Es  scheint  uns 
ausgeschlossen,  daß  Palästina  jemals,  wie  auch  behauptet  worden 
ist,   5  Millionen  Einwohner  gehabt  habe. 

Wenn  wir  die  einzelnen  Landschaften  auf  ihre  Entwicklungs- 
möglichkeit untersuchen,  so  ist  zunächst  die  ganze  Küstenebene 
bei  ihrem  fruchtbaren  Boden  und  den  ungemessenen  Wasser- 
vorräten, welche  das  Grundwasser,  Bäche  und  Quellen  darbieten, 
dichtester  Besiedelung  auf  Grund  von  Apfelsinen-,  Baumwollen-, 
Tabak-  und  Zuckerrohrbau  zugänglich.  Auch  auf  dem  West- 
jordanhochlande bedarf  es  nur  der  Verwertung  der  vorhandenen 
und  der  Aufspeicherung  der  winterlichen  Wassermengen,  um 
neben  Getreidebau  Baumzucht  (Ölbäume,  Feigenbäume,  Granat- 
bäume, Johannisbrot-  und  Mandelbäume  usw.)  und  Weinbau  in 
großer  Ausdehnung  zu  betreiben,  wie  sie  heute  nur  in  der  Um- 
gebung einiger  Städte  getrieben  wird.  Ebenso  Tabakbau  und 
Seidenraupenzucht.  Beide  spielen  ja  in  Syrien  eine  große  Rolle 
und  ein  großer  Teil  von  Palästina  eignet  sich  für  Maulbeer- 
pflanzungen. Syrien  ist  ja  die  Heimat  des  edeln  Ölbaumes.  Die 
Opuntie,  die  beispielsweise  in  Tunesien  ohne  Pflege  eine  Fülle 
billiger  Volksnahrung  liefert,  würde  dies  auch  hier  vermögen.  Das 
Ghor  ist  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  in  einen  tropischen  Garten 
zu  verwandeln.  Hier  könnten  Wintergemüse  der  verschiedensten 
Art,  Bananen,  Apfelsinen,  Zuckerrohr,  Baumwolle,  Datteln  gezogen 
werden,  die  bei  der  hier  herrschenden  Lufttrockenheit,  Wärme 
und  möglichen  reichen  Bewässerung  zu  den  besten  der  W^elt 
gehören  würden.  An  Absatzmärkten  würde  es  nicht  fehlen,  denn 
über  Saloniki  würde  Berlin  in  fünf  Tagen  zu  erreichen  sein. 
Jericho,  heute  auf  einem  Morgenspaziergange  von  Jerusalem  zu 
erreichen,  aber  1050  m  tiefer  und  im  Januar  um  2^  C  wärmer 
als  Kairo,  kann  wieder  werden,  was  es  zur  Zeit  des  Herodes 
war,  eine  prachtvolle  Winterresidenz,  deren  Wert  noch  durch  die 
dicht  dabei  sprudelnden  Thermen  von  Teil  el  Hammam  (Ain  es 
Sultan),    durch    das  Tote  Meer   mit    seinen   großartigen  Szenerien 


—     152     — 

und  seinen  Thermalquellen,  wie  ^Ain  Dschidi,  Hammam  ez  Zerka 
(Kallirrhoe),  schon  im  Altertum  ein  Luxusbad,  'Ain  es  Sara  u.  a.  m. 
durch  eine  Fülle  anziehender  Altertümer  ringsum,  durch  den 
fischreichen  Jordan  usw.  erhöht  wird.  Es  kann  hier  eine  Be- 
rieselungsoase von  etwa  55  qkm  Flächeninhalt  geschaffen  werden. 
Wenn  ich  i8g6,  wo  die  Stätte  von  Jericho  noch  wüst  lag,  schrieb, 
es  könne  der  Geograph  ähnlich  wie  es  dem  weisen  Thaies  von 
Milet  nachgesagt  wird  —  er  habe  einem  Spötter  den  Beweis 
geliefert,  daß  seine  Philosophie  auch  großen  praktischen  Wert 
haben  könne,  indem  er,  eine  reiche  Olivenernte  als  Naturkundiger 
voraussehend,  alle  Ölpressen  in  lonien  pachtete  und  dann,  als 
dieselbe  wirklich  eintraf,  mit  großem  Gewinne  wieder  ver- 
pachtete —  den  Rat  zu  lohnender  Geldanlage  in  Jericho  geben, 
so  ist  diese  Voraussage  sehr  rasch  eingetroffen:  schon  heute  be- 
stehen neben  dem  russischen  Hospiz  vier  Gasthäuser  mit  üppigen 
Gärten,   die  Anfänge  einer  neuen  Entwicklung. 

Das  Ostjordanland  eignet  sich  nur  örtlich  beschränkt  für 
Baumzucht,  Baumwollen-  und  Tabakbau,  da  nicht  genügend 
Wasser  zu  ausgedehnten  Berieselungen  vorhanden  ist.  Wohl 
aber  ist  es  in  großer  Ausdehnung,  vor  allem  in  En  Nukra,  dem 
Hauran,  aber  auch  noch  in  Moab,  eines  der  reichsten  Weizen- 
länder der  Welt.  Hier  würden  die  fruchtbarsten  Gebiete,  die 
im  Frühling  unabsehbar  wogenden  Weizengefilden  gleichen,  im 
Sommer  von  den  Bewohnern  verlassen  werden  müssen,  wenn 
nicht  durch  Aufspeicherung  der  Winterregen  in  Zisternen  und 
Sammelteichen,  durch  Wasserleitungen  wirklich  seßhafte  Bewoh- 
nung  durch  gesittete  INIenschen  ermöglicht  wird.  Das  war  in 
reichem  Maße  in  den  ersten  nachchristlichen  Jahrhunderten  ge- 
schehen. Durch  künstliche  Berieselung  war  damals  jedenfalls 
auch  die  unheilvolle  Wirkung  der  bei  ungenügenden  Winterregen 
eintretenden  Mißernten  beschränkt. 

Wie  das  schon  heute  erkennbare  Wiederaufblühen  dieser 
Landschaften  zu  ermöglichen  ist,  das  lehren  uns  die  Römer, 
diese  ausgezeichneten  Verwalter  und  Organisatoren,  die  hier  das 
Kulturland  allenthalben  so  weit  gegen  die  Wüste  vorgeschoben 
hatten,  wie  es  nur  irgend  möglich  war.  Der  Gegensatz  zwischen 
Kulturland  und  Wüste  war  damals  hier  ein  weit  grellerer  wie 
heute.  Fünf  römische  Legionen  deckten  die  inneren  Grenzen 
von  Syrien,  römische  Kastelle  umsäumten  das  Kulturland,  römische 


—      153     — 

Straßen  verbanden  diese  Grenzlandschaften  mit  dem  inneren 
Kulturlande  und  dem  Meere.  Aber  noch  mehr,  die  Römer  ver- 
folgten die  Nomaden,  die  Hunger  und  Durst  immer  wieder  zu 
Angriffen  auf  das  Kulturland  zwang,  in  die  Wüste  selbst  bis  in 
ihre  anscheinend  unangreifbaren  Schlupfwinkel.  Den  nächsten 
hier  in  Frage  kommenden  bildet  ein  heute  als  Buchbe  bezeich- 
netes, auf  fruchtbarsten  vulkanischen  Zersetzungsstoffen  im  Winter 
reiche  Weizenemten  hervorbringendes  Becken  mitten  in  der  un- 
gangbaren Lavawüste  der  Harra  östlich  vom  Hauran.  Hier 
wohnt  jetzt  der  Araberstamm  der  Riath,  der  aber  im  Sommer, 
wo  alles  Wasser  verschwindet  und  nur  die  einzige  in  der  ganzen 
Harra  vorhandene  Quelle  von  Nemara  solches  in  ungenügender 
Menge  bietet,  mit  seinen  Herden,  nachdem  die  Getreidevorräte 
verborgen  oder  im  sicheren  Schutze  eines  Heiligen  untergebracht 
sind,  davonziehen  muß.  Unter  unsäglicher  Mühe  wurde  eine 
Straße  durch  die  Steinwüste  gebaut.  Kastelle  schützten  die 
Quelle  von  Nemara  und  die  Buchbe,  ja  selbst  Ansiedler  drängten 
nach  und  sicherten  die  Seßhaftigkeit  durch  Aufspeicherung  der 
Winterregen.  Mit  dem  Niedergange  des  oströmischen  Reiches 
erlagen  die  schützenden  Bollwerke  dem  gewaltigen  Vorstoße  der 
durch  eine  neue  Idee  begeisterten  und  zusammengeballten  Söhne 
der  Wüste  im  Jahre  635  n,  Chr.  Arabische  Nomaden  schlugen 
nun  im  Kulturlande  ihre  Zelte  auf.  So  wurden  die  steinernen 
Städte  fast  unversehrt  bis  auf  unsere  Tage  erhalten. 

Heute  hält  die  Türkei  wieder  Besatzungen  im  Hauran,  neue 
Einwanderer,  Tscherkessen,  selbst  jüdische  Ackerbauer  nehmen 
Besitz  von  den  toten  Städten,  die  Eisenbahn,  die  die  Weizen- 
emten an  Stelle  der  teuren  Kamelfrachten  billig  ans  Meer  liefert, 
macht  die  angebauten  Flächen  von  Jahr  zu  Jahr  wachsen.  So 
scheint  trotz  des  allgemeinen  Niederganges  des  türkischen  Reiches 
doch  Palästina  dadurch,  daß  hier  im  Heiligen  Lande  europäische 
Einflüsse  sich  unwiderstehlich  geltend  machen,  wieder  aufzublühen, 
und  man  kann  es  schon  heute  aussprechen:  Palästina  hat  nicht 
nur  eine  große,  geschichtsreiche  Vergangenheit,  nein!  es  hat  auch 
eine  hoffnungsreiche  Zukunft! 


III.  Italien. 


I.  Italien.     Eine  länderkundliche  Skizze.^) 

Unter  den  Reisezielen  der  Deutschen  steht  seit  langem  schon 
Italien  mit  obenan,  und  die  Zahl  derjenigen  Deutschen,  welche 
wenigstens  einen  Teil  dieses  Landes  aus  eigener  Anschauung 
kennen j  ist  sehr  beträchtlich.  Dennoch  fehlt  es  auch  bei  uns 
noch  vielfach  an  einer  besseren  Kenntnis  das  Landes  und  an 
richtigem  Verständnis  des  uns  fremdartigen  Volkstums.  In  der 
sehr  reichen  Reiseliteratur  begegnet  man  immer  wieder  schiefen 
oder  ungerechten  Urteilen,  wie  sie  flüchtig  Reisende,  der  Landes- 
natur und  Landessprache  wenig  Kundige  nur  zu  leicht  fällen. 
Werke  wie  Viktor  Hehns  „Italien;  Ansichten  und  Streiflichter" 
oder  Gregorovius'  „Wanderjahre ,  in  Italien"  bilden  Ausnahmen. 
Zu  dieser  Erscheinung  trägt  allerdings  die  auch  heute  noch  un- 
vollkommene wissenschaftliche  Erforschung  des  Landes  bei.  Die 
Grundlagen  jeder  Landeskunde,  eine  gute  topographische  Karte 
und  die  geologische  Durchforschung,  konnten  erst  nach  Schaifung 
der  politischen  Einheit  in  Angriff  genommen  werden  und  harren, 
namentlich  letztere,  auch  heute  noch  der  Vollendung.  Aber  sehr 
viel  und  sehr  Tüchtiges  ist  in  der  kurzen  Spanne  Zeit  trotz  der 
Knappheit  der  Mittel  geleistet  worden  und  noch  mehr  wird  in 
der  nächsten  Zukunft  geleistet  werden,  denn  ähnlich  wie  der 
deutsche  Geographentag  hat  gleich  der  erste  italienische  Geo- 
graphentag, welcher  bei  Gelegenheit  der  Kolumbusfeier  in  Genua 
1892   versammelt  war,    die    sofortige    Inangriffnahme    landeskund- 


l)  Erschienen  1893  ^Is  Heft  171  der  von  R.  Virchow  und  W.  Watten- 
bach herausgegebenen  Sammlung  gemeinverständlicher  wissenschaftlicher 
Vorträge. 


—      155     — 

lieber  Forschungen  beschlossen.  Indessen  sind  schon  so  wertvolle 
Bausteine  aufgehäuft,  daß  ich  es  wagen  darf,  gestützt  auf  zahl- 
reiche Reisen  und  lange  Aufenthalte  in.  Italien,  eine  Skizze  dieses 
Landes  zu  entwerfen.^) 

Die  Lage  und  Weltstellung  Italiens  ist  eine  sehr  günstige, 
schon  als  die  mittlere  der  drei  südeuropäischen  Halbinseln  er- 
scheint sie  den  beiden  anderen  gegenüber  bevorzugt.  ^Mitten  im 
Mittelmeere  gelegen,  das  Nordwestbecken  desselben  vom  Südost- 
becken trennend,  beherrscht  es  zugleich  die  eine  der  Verbin- 
dungslinien beider  und  nimmt  teil  an  der  Beherrschung  der  großen 
Welthandelsstraße,  welche  der  großen  Achse  des  Mittelmeeres 
folgt.  Eine  lange  schmale  Landbrücke  vom  Rumpfe  Europas 
hinüber  zur  Festlandsmasse  von  Afrika  erscheint  Italien  als  das 
Herzland  des  ganzen  MittelmeergebieLes  und  zur  Beherrschung 
desselben  bestimmt.  Italien  schaut  nach  Westen,  ist  aber  im- 
stande, von  den  vortreffhchen  Häfen  von  Venedig,  Brindisi,  Ta- 
rent  und  Syrakus,  welche  mit  dem  nahen  Gegengestade  die  Un- 
gunst der  adriatischen  Küste  auszugleichen  streben,  auch  zum 
Osten  in  Beziehungen  zu  treten.  Mit  einer  Landgrenze  von  nur 
1900  km  Länge  verbindet  Italien  eine  Küstenlänge  von  6785  km 
und  ist  so  ein  durchaus  maritimes  Land,  denn  selbst  seine  meer- 
fernsten Großstädte  Turin  und  ^^Jailand  haben  nur  eine  Meer- 
ferne von  105  bzw.  120  km,  d,  h.  gleich  Hamburg,  und  80 ^/^ 
der  Landfläche  hat  weniger  als  100  km  ^Meerferne,  die  also  in 
zwei  Stunden  zu  überwinden  wären. 

Die  Küstengliederung  Italiens  ist  namentlich  im  Westen  eine 
reiche;  küstennahe  Inselgruppen,  wie  die  toskanischen  und  kam- 
panischen, erhöhen  den  Wert  derselben;  die  großen,  nach  der 
Gesamtheit  ihrer  Verhältnisse  italienischen  Inseln  Sizilien,  Sar- 
dinien und  Korsika,  teils  küstennah,  teils  in  Sehweite  gelegen, 
bilden  als  Inselitalien  eine  wesentliche  Ergänzung  des  eigentlichen 
Halbinsellandes,    beide    zusammen    eine    solche    des    mehr    fest- 


i)  Der  Verf.  hat  seitdem  eine  umfassendere  Darstellung  von  Italien  in 
Bd.  3  der  von  A.  Kirchhoff  herausgegebenen  Landeskunde  von  Europa, 
Leipzig  1893,  und  eine  neue,  wesentlich  erweiterte  und  vertiefte  in  italieni- 
scher Sprache  La  Penisola  Italiana,  Torino  1902,  erscheinen  lassen.  Auch  ist 
diese  Skizze  in  italienischer  Übersetzung  von  R.  Lovera  mit  einem  Vorworte 
von  General  G.  Riva  Palazzi  1895  unter  dem  Titel  Schizzo  descrittivo 
d'  Italia  in  Salö  erschienen. 


—     156     — 

ländischen  Charakter  tragenden  Polandes.  Der  Reichtum  Italiens 
an  natürlichen  Häfen  ist  ein  verhältnismäßig  großer;  wo  dieselben 
den  Anforderungen  der  Neuzeit  nicht  mehr  genügten,  wie  in 
Genua,  Neapel,  Palermo,  konnten  sie  durch  Kunst  verbessert 
werden;  wo  sie  ganz  fehlten,  waren  sie  unschwer  zu  schaffen, 
wie  bei  Livorno,  oder  man  vermißte  sie  weniger  als  in  irgend 
einem  der  Mittelmeerländer,  weil  Italien  wohl  im  wesentlichen 
dank  seiner  Oberflächengestalt,  weit  seltener  von  Stürmen  heim- 
gesucht ist  als  Griechenland,  Südfrankreich,  Spanien  oder  gar 
Algerien.  Ein  sehr  großer  Teil  auch  des  inneren  Verkehrs  voll- 
zieht sich  so  stets  zur  See,  und  selbst  mit  den  Nachbargebieten 
verkehren  Küstenfahrer,  da  die  Meerenge  von  Otranto  nur  72.8, 
die  von  Pantellaria  nur  150  km  breit  ist,  so  daß  man  bei  hellem 
Wetter  von  Sizilien  aus  wohl  das  hohe  Kap  Bon  drüben  in 
Tunesien  erblicken  kann.  Zu  allen  Zeiten,  von  den  Tyrrhenern 
an,  hat  daher  Italien  tüchtige  Seeleute  hervorgebracht,  und  mit 
richtigem  Blick  haben  die  Staatsmänner  des  neuen  Italien  er- 
kannt, daß  die  Gegenwart  und  Zukunft  des  Landes  in  der  Be- 
herrschung des  Meeres  liegt.  Italien  hat  sich  daher  eine  Kriegs- 
flotte geschaff"en,  welche  an  Größe  der  Schlachtschiffe  wohl  einzig 
dasteht. 

Es  erscheint  so  dieses  Land  wie  zum  Ausgangs-  und  Brenn- 
punkte des  Seeverkehrs  im  ganzen  Mittelmeere  geschaffen,  wie 
es  nahezu  zwei  Jahrtausende  in  der  engeren  Welt  des  Altertums 
und  Mittelalters  der  Hauptsitz  des  Verkehrs  gewesen  ist.  Und 
gleiche  Bedeutung  vermöchte  es  wohl  wieder  zu  erlangen,  wenn 
sich  seine  Gegengestade  im  Osten  und  im  Süden  einmal  wieder 
beleben  werden.  Der  Straße  von  Gibraltar  und  dem  Suezkanal 
gleich  nahe ,  vermag  es  auch  am  Weltverkehr  der  Neuzeit  mit 
Erfolg  teilzunehmen.  Aber  noch  mehr,  auch  von  wichtigen  fest- 
ländischen Straßen  wird  Italien  gekreuzt;  in  meridionaler  Rich- 
tung von  denen,  die  in  Genua,  Venedig,  Neapel  und  Brindisi 
endigen,  in  äquatorialer  von  denen,  welche  über  Mailand  und 
Turin  gehen.  Mailand  ist  der  eigentliche  Kreuzungspunkt  dieser 
Straßen,  der  Mittelpunkt  aller  Alpenstraßen,  die  dort  vom  Sim- 
pelnpasse im  Westen  bis  zum  Stilfser  Joch  im  Osten  radienförmig 
zusammenlaufen.  Infolgedessen  ist  es  heute  auch  einer  der  wichtig- 
sten Sitze  des  festländischen  Handels  von  Europa.  Und  nicht,  wie 
Spanien,  nur  zu   einem  ^'olke  und  Lande,  zu  einem  Staate,  nein, 


—     157     — 

zu  deren  einer  ganzen  Reihe,  zu  Frankreich,  der  Schweiz,  dem 
Deutschen  Reiche,  Österreich  und  Ungarn,  unterhält  Italien  un- 
mittelbare Beziehungen  zu  Lande.  Vielseitigkeit  der  Be- 
ziehungen zur  See  wie  zu  Lande  ist  demnach  der  hervor- 
stechendste Charakterzug  Italiens.  Und  wenn  die  Handelssprache 
fast  aller  Völker  Europas  noch  heute  die  Spuren  der  beherrschen- 
den Stellung  erkennen  läßt,  welche  Italien  bis  ins  i6.  Jahrhundert 
im  Welthandel  hatte,  so  sind  die  Bedingungen,  daß  dies  Land 
in  Zukunft  wieder  einmal  diese  Stellung  zurückerobert,  zwar  nicht 
mehr  gleich  günstig,  aber   immerhin  keine  durchaus  ungünstigen. 

Entwicklungsgeschichte. 

Der  Satz,  daß  man  einen  Gegenstand  erst  völlig  kennt, 
wenn  man  weiß,  wie  er  entstanden  ist,  findet  vor  allem  in  der 
wissenschaftlichen  Geographie  Anwendung.  Wenn  wir  daher, 
nachdem  wir  uns  in  großen  Zügen  mit  dem  zu  betrachtenden 
Lande  vertraut  gemacht  haben,  in  die  Geschichte  desselben  ein- 
zudringen suchen,  so  möchte  ich  zunächst  die  Tatsache  feststellen, 
daß  Italien,  wie  es  politisch  ein  Neubau  ist,  auch  erdgeschicht- 
lich ein  sehr  junges  Land,  in  seiner  Gesamtheit  wohl  das  jüngste 
Europas  ist.  Man  kann  gewissermaßen  sein  Alter  noch  aus 
seinen  Zügen  herauslesen.  Wohl  nirgends  vollziehen  sich  die 
Veränderungen  des  wagrechten  Umrisses  und  des  senkrechten 
Aufrisses  so  rasch  wie  hier.  Nirgends  kann  man  wie  hier  so- 
zusagen mit  Augen  sehen  und  mit  Händen  greifen,  wie  an  der 
einen  Stelle  ein  Berg  aufgetürmt,  an  einer  anderen  ein  Gebirge 
abgetragen  und  eingeebnet  wird.  In  Italien  sind  in  der  Tat, 
um  uns  einer  Wendung  unseres  unvergeßlichen  Meisters  Oskar 
Peschel  zu  bedienen,  unsere  besten  Karten  Bilder  von  vergäng- 
licher Wahrheit.  Von  jeher  hat  daher  Italien  die  besondere 
Aufmerksamkeit  der  Geologen  wachgerufen^  von  denen  wohl  jeder 
einmal  den  Drang  gefühlt  hat,  in  diesem  Lande  sein  Wissen  zu 
bereichem.  Unsere  namhaftesten  Geologen  gehören  daher  auch 
zu  den  verdientesten  wissenschafthchen  Erforschem  Italiens.  Und 
ähnhch  in  England  und  Frankreich. 

Nur  geringe  Trümmer  eines  älteren  Stückes  der  aufgetauchten 
festen  Erdkruste  sind  in  den  Neubau  ItaUen  verarbeitet,  und  die 
Inschriften  dieser  alten  Werkstücke  sind  so  verwischt,  daß  wir 
nur  mühsam  zu  entziffern  vermögen,  wie  der  alte  Bau  ausgesehen 


-     158     - 

haben  mag,  dessen  Reststücke  sie  sind.  Derselbe  dehnte  sich 
von  Korsika-Sardinien,  vielleicht  vom  äußersten  Südwestende  un- 
serer heutigen  Alpen  bis  nach  Kalabrien  und  Sizilien,  nach  Osten 
bis  aufs  Festland  des  heutigen  Toskana  aus.  Längst  bis  auf 
jene  stehengebliebenen  Trümmer,  auf  deren  Zusammengehörigkeit 
geologische  und  biologische  Gründe  zu  schließen  zwingen,  in  den 
tiefen  Einbruchskessel  des  tyrrhenischen  Meeres  versenkt,  be- 
zeichnen wir  dieses  demnach  etwas  westlicher  gelegene  Uritalien 
mit  dem  Namen  Tyrrhenis.  Nur  im  Bereich  der  alten  Tyrrhenis 
kommen  in  Italien,  von  den  Alpen  abgesehen,  überhaupt  alte 
Gesteine  vor,  Gneise,  kristallinische  Schiefer,  alte  Granite,  in 
noch  geringerer  Ausdehnung  ihnen  mantelförmig  angelagert  auch 
paläozoische  Schichtgesteine.  Auf  sie  fast  allein  ist,  wenn  wir 
von  der  Schwefelgewinnung  Siziliens  absehen,  in  Italien  Bergbau 
beschränkt.  Mit  dem  fast  völligen  Fehlen  der  Steinkohlenfonnation 
hängt  der  völlige  Mangel  an  Steinkohlen  zusammen,  welcher  die 
neuzeitlich  großgewerbliche  Entwicklung  Italiens,  die  sich  jetzt 
mehr  und  mehr  auf  Wasserkräfte  und  elektrische  Kraftübertragung 
stützt,  so  außerordentlich  erschwert  hat.  Gegen  Ende  des  meso- 
zoischen Zeitalters  begann  der  Niederbruch  und  die  Zertrümme- 
rung der  alten  Tyrrhenis  und  entstand  in  einer  langen  wechsel- 
vollen Bauperiode,  wo  zeitweilig  der  Bau  unterbrochen,  ja  wieder 
niedergerissen  wurde,  der  Neubau  Italien,  der,  seiner  Gesamt- 
anlage nach  erst  mit  dem  Ende  der  Tertiärzeit  vollendet,  noch 
in  der  Quartärzeit  wesentlich  Zu-  und  Umbauten  erfahren  hat. 
In  der  zweiten  Hälfte  der  Tertiärzeit  wurde  am  energischten 
durch  seitlichen,  von  Südwesten  von  der  Tyrrhenis  her  kommen- 
den Druck  das  Appenninengebirge  zusammengefaltet,  zum  Teil 
aber  auch  bald  wieder  durch  auf  peripherischen  Bruchspalten 
erfolgende  Vertikalverschiebungen  zertrümmert,  so  daß  nur  noch, 
ähnlich  wie  beim  größeren  Teil  der  Karpathen,  der  äußere  ge- 
schichtete Mantel  erhalten  ist.  Kesseiförmig  griffen  diese  Ein- 
brüche an  der  Westseite  ein,  und  auf  ihnen  entwickelte  sich 
gegen  das  Ende  der  Tertiärzeit  jene  großartige,  noch  heute  nicht 
erloschene  vulkanische  Tätigkeit,  die  von  dem  Inselchen  Capraja 
im  Norden,  am  Eingang  in  das  ligurische  Meer,  bis  zum  Etna 
ganze  Reihen  und  Gruppen  vulkanischer  Kegel  aufgetürmt  hat. 
Ganze  Meerbusen,  wie  in  Latium  und  in  Kampanien,  wurden 
von   den   vulkanischen    Auswurfstoffen   ausgefüllt,    ganze    Gebirge, 


—     159     — 

wie  das  Albaner,  und  so  gewaltige  Kegel,  wie  der  Etna,  auf- 
getürmt. Besteht  doch  in  der  Umgebung  von  Rom  ein  Gebiet 
von  6000  qkm,  gleich  mehr  als  einem  Drittel  des  Königreiches 
Sachsen,  nur  aus  vulkanischen  Ablagerungen.  Und  noch  sind  die 
Grundlagen  des  Neubaues  nicht  in  sich  verfestigt,  noch  unter- 
liegen die  Schollen  der  festen  Erdkruste  auf  den  sie  zerstücken- 
den Spalten  Bewegungen,  welche  Italien  zu  einem  der  erdbeben- 
reichsten Länder  der  Erde  machen.  Gibt  es  hier  doch  Gegenden, 
in  welchen  im  Durchschnitt  einmal  im  Jahrhundert  alle  Siedelungen 
von  Grund  aus,  dazwischen  noch  oftmals  teilweise  zerstört  werden. 
Vulkanische  Ausbrüche  vernichten  so  periodisch  Leben  und  Eigen- 
tum örtlich,  Erdbeben  in  großer  Ausdehnung,  beide  hemmen  den 
Unternehmungsgeist,  verlangsamen  die  Volksvermehrung  und  die 
Anhäufung  von  Wohlstand,  sie  gehören  so  zu  den  Landplagen 
Italiens,  haben  aber  auch  Italien  zur  hohen  Schule  für  das  Stu- 
dium dieser  beiden  so  furchtbaren  Naturerscheinungen  gemacht. 
Zu  beiden  in  engen  Beziehungen  steht  auch  der  Reichtum  Italiens 
an  Thermen  und  Mineralquellen,  Schätze,  die  man  noch  kaum 
auszubeuten  begonnen  hat. 

Die  faltenden  Bewegungen,  welche  dem  Appenninengebirge 
den  Ursprung  gaben,  scheinen  nach  Süden  an  Intensität  ab- 
genommen zu  haben,  während  die  Bildung  von  Bruchlinien  und 
darauf  erfolgende  Vertikalbewegungen  dort  unter  den  gebirgs- 
bildenden  Vorgängen  mehr  in  den  Vordergrund  treten.  Jeden- 
falls scheint  schon  im  Abruzzenappennin  nur  mehr  leichte  Fälte- 
lung  vorzuliegen,  welche  Hochflächen  schuf,  ähnlich  der  des 
Limhochlandes  drüben  im  illyrischen  Faltensystem  der  südost- 
europäischen Halbinsel.  Wir  denken  hier  namentlich  an  die 
bedeutendste  Massenanschwellung  der  ganzen  Halbinsel,  die  den 
eigentlichen  Abruzzen  in  SSW  vorgelagert  ist  und  die  wir 
Abruzzenhochland  nennen  möchten.  Brüche  und  Vertikalbewegungen 
treten  hier  neben  der  Faltung  bereits  bedeutungsvoll  hervor,  sie 
gaben  der  Kalkmasse  der  Abruzzen  die  bedeutende  Höhe  von 
noch  heute  3000  m  und  scheinen  im  neapolitanischen  Appennin 
geradezu  zu  übenviegen.  Eine  Hebung  des  ganzen  Appenninen- 
gebirges  zu  Anfang  der  Quartärzeit,  welche  bis  heute  ungefaltet 
gebliebene,  erst  zu  Ende  der  Tertiärzeit  auf  dem  Meeresgrunde 
gebildete  Schichten  auf  dem  Festlande  wie  in  Sizilien  zu  so  be- 
deutenden Höhen  erhob,  daß  sie  noch  heute    1000  ra  und  mehr 


—      i6o     — 

erreichen,  trotz  seitdem  erfolgter  Abtragung,  hat  hier  im  Süden 
erst  wieder  ein  orographisch  einheitliches  Gebirge  geschaffen, 
indem  dadurch  erst  wieder  die  Trümmer  der  alten  Tyrrhenis 
und  die  Schollen  und  Klötze  jurassischer  und  kretazeischer 
Appenninengesteine  miteinander  verbunden  wurden.  Erst  jetzt 
verwuchsen  der  Monte  Gargano  und  die  apulische  Kreidetafel 
durch  Schließung  pliozäner  Meerengen  wieder  mit  dem  Apen- 
ninenlande  und  kam  so  durch  Anschweißung  von  Sporn  und  Ab- 
satz die  bekannte  Stiefelgestalt  zur  Ausbildung.  Diese  Hebung 
schuf  zwar  auch  die  kalabrische  Meerenge  zu  einer  niederen 
Landenge  um,  die  auf  einer  tiefgreifenden  Bruchspalte  liegende 
Meerenge  von  Messina  vermochte  sie  aber  nur  schmäler  und 
seichter  zu  machen.  Sizilien  blieb  dauernd  vom  Festlande  ge- 
trennt und  verlor  auch  in  der  Diluvialzeit  seine  Verbindung  mit 
Tunesien,  indem  sich  auch  dort  schon  seit  der  Tertiärzeit  ein 
Bruchgürtel  auszubilden  begonnen  hatte,  der  am  Nordrande  Klein- 
afrikas nach  O  und  SO  verläuft,  und  auf  welchem  sich  ebenfalls 
noch  heute  nicht  erloschene  vulkanische  Tätigkeit  zu  regen  be- 
gann. Die  durch  Bruchlinien  und  Grabenversenkungen  zerstückte 
Maltagruppe  und  Lampedusa,  flache  tertiäre  Tafeln,  sind  Reste 
des  hier  zertrümmerten  Festlandes,  für  dessen  bis  in  die  geo- 
logische Gegenwart  fortgesetztes  Untertauchen  die  sorgsamen 
hydrographischen  Forschungen  der  Franzosen  in  der  kleinen  Syrte 
so  wunderbare  Belege  geliefert  haben. 

Dagegen  begann  im  Norden  gegen  Ende  der  Tertiärzeit 
durch  Hebung  und  Zuschüttung  die  Verlandung  des  großen 
Senkungsfeldes  an  der  Innenseite  der  Alpen,  das  im  Laufe  der 
Quartärzeit  zur  großen,  noch  immer  auf  Kosten  der  Adria  wachsen- 
den Poebene  ausgestaltet  wurde.  Ebenso  sind  an  der  Westseite 
der  Halbinsel  erst  seit  der  Quartär-,  ja  zum  Teil  in  geschicht- 
licher Zeit  der  Meerbusen,  in  welchen  der  Arno  mündete,  und 
einige  kleinere  verlandet.  Italien  ist  so,  bis  auf  jene  wenig  aus- 
gedehnten Trümmer  der  Tyrrhenis,  ein  junges  Land,  die  Appen- 
ninen  von  allen  größeren  Gebirgen  Europas  das  jüngste,  denn 
erst  in  quartärer  Zeit  ist  ihr  Bau  vollendet  worden.  Gesteine 
jugendlichen  Alters  bilden  also  vorwiegend  den  Boden  Italiens, 
selbst  von  mesozoischen  tritt  nur  die  Kreide  in  etwas  größerer 
Ausdehnung  auf,  das  Tertiär  ist  die  Charakterformation  Italiens, 
nächstdem    das    Quartär.     Mindestens    zwei   Drittel   Italiens,   von 


—      i6i      — 

Sizilien  sogar  vier  Fünftel  besteht  aus  Gesteinen,  welche  sich  erst 
im  Laufe  der  Tertiärzeit  auf  dem  Grunde  des  Meeres  oder  noch 
später  durch  Anlagerung  gebildet  haben.  Und  unter  diesen  Ge- 
steinen überwiegen  tonige  und  mergelige,  also  leicht  zerstörbare 
Felsarten.  So  auffällig  auch  orographisch  die  kretazeischen  und 
jurassischen  Kalkgesteine  in  den  Appenninen  hervortreten,  so  ist 
es  heute  doch  nicht  mehr  erlaubt,  die  letzteren  danach  ein  Kalk- 
gebirge zu  nennen,  wir  müssen  es  vielmehr  ein  Tongebirge 
nennen,  denn  was  ihm  seinen  ganz  eigenartigen  Charakter  auf- 
prägt, das  sind  die  vorherrschenden  tonigen  Felsarten.  Die 
wichtigsten  Erscheinungen,  welche  man  sich  stets  bei  dem  Begriff 
Kalkgebirge  zu  vergegenwärtigen  pflegt  und  die  im  illyrisch- 
griechischen  Faltensystem  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  so  auf- 
fällig zutage  treten,  treten  in  den  Appenninen,  eben  der  geringen 
Verbreitung  der  Kalksteine  wegen,  nur  in  untergeordnetem  Maße 
auf.  Selbst  in  den  älteren  Formationen,  im  Archäischen  und 
Paläozoischen  Siziliens  und  Kalabriens,  herrschen  leicht  zerstör- 
bare Gneise  und  Schiefer  vor. 

Auf  der  weiten  Verbreitung  leicht  zerstörbarer  Felsarten  im 
Bunde  mit  den  klimatischen  Verhältnissen  und  der  weit  fort- 
geschrittenen Entwaldung  des  alten  Kulturlandes  beruhen  die  er- 
staunlich rasch  vor  sich  gehenden  Veränderungen  der  Oberflächen- 
gestalt und  der  Küstenlinien  ganzer  Landschaften.  Ganze  Gebirge, 
wie  das  peloritanische  Gneisgebirge  bei  Messina,  sind  in  sicht- 
barer Abtragung  begriff'en,  immer  tiefer  greifen  die  Täler  und 
Regenschluchten  in  das  Gebirge  ein,  immer  größere  Geröllmassen 
schieben  sich  in  den  für  gewöhnlich  fast  trocken  liegenden  Fiu- 
maren  ins  Meer.  In  dem  Mergellande  von  Toskana  werden 
durch  erhalten  gebliebenen  Baumwuchs  verfestigte  Stellen  in  wenigen 
Jahren  zu  inselartigen  Hügeln  herauspräpariert,  alle  lO — 20  Jahre 
muß  man  die  Grenzsteine  neu  setzen,  da  sich  die  ganze  Ober- 
fläche unter  den  Winterregen  in  eine  gleitende  Breimasse  ver- 
wandelt und  die  Flüsse  zu  Schlammströmen  werden,  welche 
Meerbusen  füllen  und  die  Küste  vorrücken.  Neuerdings  ver- 
wertet man  in  Italien  vielfach  diese  Schlammströme,  welche  dem 
Lande  große  Mengen  kostbarer  Düngstoff"e  entführen  —  hat  man 
doch  in  Frankreich  den  Wert  der  alljährlich  dem  Lande  in  den 
Sedimenten  der  Flüsse  entzogenen  Feststoffe  auf  30  Mill.  Eres, 
geschätzt  — ,  zu  künstlicher  Auffüllung  von  Fieberdünste  aus- 
Fischer, Mittelmeerbilder.  II 


—        102       — 

sendenden  Sümpfen  und  bekämpft  damit  die  Malaria  am  wirkungs- 
vollsten. Das  berüchtigte  Chianatal  zwischen  Florenz  und  Rom 
ist  dadurch  fieberfrei  geworden,  daß  man  durch  solche  künstliche 
Ablagerung  eine  Fläche  von  200  qkm  um  2 — 5  m  erhöht  und 
damit  den  Gewässern  Gefäll  verschafft  hat. 

Bergschlipfe,  welche  nicht  selten  große  Flächen  angebauter 
Felder,  ganze  Ortschaften  und  Menschenleben  vernichten,  sind  in 
diesen  tonigen  Gebieten  Italiens  außerordentlich  häufig,  nament- 
lich in  dem  Gürtel  der  sogenannten  Scherben-  oder  Schuppen- 
tone (argille  scagliose)  der  Appenninen,  deren  Entstehungsweise 
so  umstritten  ist.  Im  Juni  1881  geriet,  um  nur  einen  Fall  unter 
vielen  hervorzuheben,  ein  Teil  des  zwischen  zwei  Flußtälern  ge- 
legenen, 5000  Einwohner  zählenden  Städtchens  Castelfrentano 
(bei  Chieti)  ins  Gleiten  und  sank  in  Trümmer,  der  Rest  war 
schwer  bedroht.  Selbst  die  Lage  der  Siedelungen  wird  von  diesen 
Felsarten  bedingt.  Die  Siedelungen  schließen  sich  nicht,  wie  in 
Mitteleuropa,  den  Flüssen  und  Tälern  an,  denn  diese  sind  von 
Gerollen  und  Schlammassen  erfüllt,  versumpft  und  fieberschwanger, 
auch  nicht  den  Talgehängen,  denn  diese  sind  beweglich;  hoch 
oben  auf  den  meist  von  festen  wagerechten  Kalktafen  gebildeten 
Bergrücken,  Adlernestern  gleich,  thronen  fast  im  ganzen  Appen- 
ninenlande  die  Heimstätten  der  Menschen.  Daß  sich  die  Ma- 
laria in  solchen  Tongebieten  ganz  besonders  entwickeln  kann, 
liegt  klar  zutage.  Auch  den  Verkehrswegen  bieten  sie  besondere 
Schwierigkeiten,  besonders  den  Eisenbahnbauten.  Diese  sind  in 
denselben  stets  überaus  kostspielig,  da  sie  unablässig  Ausbesse- 
rungen, Verlegungen  u.  dgl.  erfordern  und  dennoch  der  Verkehr 
oft  unterbrochen  ist.  In  der  winterlichen  Regenzeit  fließen  die 
Dämme  auseinander,  die  Einschnitte  zusammen,  an  den  Hängen 
kommen  die  Linien  ins  Gleiten.  Nachdem  man,  namentlich  in 
Sizilien,  wo  nicht  weniger  als  40 ^/^  der  Oberfläche  aus  diesen 
gleitenden  und  nur  So'^/q  aus  mäßig  festen  Bodenarten  bestehen, 
die  schlimmsten  Erfahrungen  in  dieser  Hinsicht  gemacht  hat,  hat 
heute  bei  Feststellung  der  Linien  in  solchen  Gebieten  der  Geo- 
loge das  entscheidende  Wort  zu  sagen,  man  umgeht  dieselben 
soviel  wie  möglich.  In  solchen  Gegenden  kostet  nicht  selten  ein 
Kilometer  500 — 600000  Lire,  und  bei  Tunnelbauten,  oft  die 
letzte  Zuflucht,  der  laufende  Meter  4  —  5000  Lire!  Auch  die 
weit  verbreiteten  Tongesteine,  namentlich  da  sie  häufig  auch  noch 


—      103     — 

salzig  und  unfruchtbar  sind,  gehören  so  zu  den  Landplagen  des 
Gartens  der  Hesperiden. 

Bodenplastik. 

Das  so  jugendliche  Faltengebirge  der  Appenninen  beherrscht 
die  Oberflächengestalt  in  solchem  Maße,  daß  man  oftmals  geradezu 
von  der  Appenninenhalbinsel  spricht.  In  der  Tat  ist  Italien 
überwiegend  Appenninenland.  Doch  sind  die  Höhen,  da  eben 
nur  der  äußere  geschichtete  Mantel  des  Faltengebirges  erhalten 
Ist,  überall  nur  mäßige.  Die  höchste  Erhebung,  der  Gran  Sasso 
d'  Italia,  erreicht  noch  nicht  voll  3000  m  und  steht  somit  dem 
Kegel  des  Etna  mit  3274  m  noch  beträchtlich  nach,  aber  zahl- 
reiche Gipfel,  selbst  bis  nach  Sizilien,  erreichen  oder  übersteigen 
2000  m.  Die  Paßhöhe  ist  überall  gering,  sie  beträgt  im  ]\Iitte 
der  1 7  von  Fahrstraßen  benutzten  Pässe  nur  goo  m.  Die  Eisen- 
bahnen durchfahren  die  Kämme  meist  in  noch  geringerer  Höhe 
in  Tunnels.  Es  bieten  so  die  Appenninen,  besonders  wenn  man 
auch  ihre  geringe  Breite  und  die  südliche  Lage  in  Betracht  zieht, 
dem  Verkehr  nur  geringe  Schwierigkeiten.  Als  Klima-  und 
Wetterscheide  wird  man  ihre  Bedeutung  aber  nicht  leicht  über- 
schätzen. Der  Charakter  des  Berg-  und  Hügellandes  wird  daher 
in  Italien  überwiegen,  nur  38,5 ^/q  der  Oberfläche  ist  als  Ebene 
anzusehen. 

Die  kennzeichnenden  Züge  des  Faltenlandes  sind  im  Appen- 
ninenlande  vielfach  verwischt  und  überhaupt  nur  in  der  Nord- 
hälfte schärfer  ausgeprägt.  Schon  im  Abruzzenappennin  schaff't 
leichte  Fältelung  weite  Hochländer,  wie  das  von  uns  so  genannte 
schon  erwähnte  Abruzzenhochland,  westlich  von  den  eigentlichen 
Abruzzen,  südwärts  bis  zum  Sangro  und  Volturno,  die  größte 
Massenanschwellung  der  Halbinsel.  Parallelismus  der  Ketten 
kennzeichnet  nur  den  Nord-  und  zum  großen  Teil  noch  den 
Mittelappennin.  Dabei  ist  die  Länge  der  einzelnen,  meist  den 
Faltenzügen  genau  entsprechenden  Ketten  stets  eine  geringe, 
immer  nimmt  eine  innere  südostwärts  streichende  an  Höhe  ab 
und  verschwindet  schließlich  unter  dem  tyrrhenischen  Senkungs- 
felde, das  bei  Florenz  am  tiefsten  in  das  Gebirge  eingreift.  Die 
Wasserscheide  springt  nach  Osten  auf  die  nächste  Parallelkette 
über,  die  dann  dasselbe  Schicksal  erleidet.  Die  Gewässer  folgen 
den   Faltentälem    und    brechen    so    schließlich,    sich   zu   größeren 


—     164     — 

Rinnen  vereinigend,  zu  dem  breiten  Vorlande,  dem  sich  noch  über 
den  Meeresspiegel  erhebenden  Rande  des  Senkungsfeldes,  durch, 
um  das  tyrrhenische  Tief  becken  zu  erreichen.  Alle  Flüsse  haben 
daher  hier  den  gleichen  Bau:  ein  langer,  dem  Gebirgsstreichen 
folgender,  und  ein  kurzer,  dazu  senkrechter  Schenkel.  Nur  dieser 
kulissenartige  Bau  der  Appenninen  bewirkt  das  südöstliche  Streichen 
des  Gebirges  zwischen  Genua  und  Ancona. 

Ganz  anderen  Bau  besitzt  der  neapolitanische  Appennin.  Hier 
fehlen  parallele  Ketten  fast  ganz;  wir  haben  ein  unregelmäßiges 
Berg-  und  Hügelland  von  geringer  Höhe  vor  uns,  in  welchem 
die  Wasserscheide  sich  bald  mehr  dem  Adriatischen,  bald  mehr 
dem  Tyrrhenischen  Meere  nähert  und  über  vielen,  meist  pliozänen 
Hochflächen  (von  Ariano,  Campobasso  usw.),  welche  nur  das 
rinnende  Wasser  gegliedert  hat,  nur  mächtige  Jura-  oder  Kreide- 
kalkschollen und  -Klötze  (der  Matese  z.  B.),  die  lebhaft  an  die 
ähnlichen,  nur  großartigeren  Gebilde  der  Ostalpen,  Dachstein, 
Totes  Gebirge  usw.,  erinnern,  sich  mit  prallen,  weißlich  schim- 
mernden Wänden  erheben.  Nur  das  ungefaltete,  gehobene  Plio- 
zän verbindet  hier  diese  älteren  Kalkschollen.  Hier  in  dem 
Berglande  der  alten  Samniten  handelt  es  sich  nicht  um  eine 
Übersteigung  des  Gebirges,  um  aus  der  kampanischen  in  die 
apulische  Ebene  zu  gelangen,  sondern  mehr  um  eine  Durch- 
querung; nur  die  engen  Eingänge  in  das  Gebirgsland,  wie  die 
Furculae  caudinae  und  das  Cervarotal,   bieten  Schwierigkeiten. 

Wiederum  verschieden  ist  der  Bau  des  kalabrischen  Appennin. 
Er  besteht  lediglich  aus  zwei  großen  Trümmerstücken  der  alten 
Tyrrhenis,  den  Gneismassivs  der  Sila  und  des  Aspromonte,  die 
lediglich  von  gehobenen  und.  erodierten  Pliozänschichten  umhüllt 
und  miteinander  verbunden  sind.  Der  kalabrische  Appennin  bietet 
daher  in  seinen  Oberflächenformen  auffallende  Gegensätze  zum 
neapolitanischen,  die  man  in  dem  Bruchgürtel  des  Cratitales, 
etwa  auf  der  geröllüberschütteten  Stätte  des  alten  Sybaris  stehend, 
mit  einem  Blick  überschauen  kann.  Gen  Norden  steigt  der 
Monte  PoUino  (2271  m)  mit  kahlen  Steilgehängen  zu  seinen 
kühnen,  bald  weißlich  schimmernden,  bald  intensiv  gefärbten 
Kalkzinnen  von  doppelter  Brockenhöhe  empor,  gefurcht  von 
engen,  kanonartigen  Schluchten,  in  welchen  geröllarme,  aber  aus- 
dauernde, weil  von  starken  Capi  d'  Acqua  des  Kalkgebirges  ge- 
nährte Flüsse    zum  Crati   eilen.     Im  Süden   dagegen   erhebt   sich 


-     i65     - 

die  unserem  Harz  ähnliche  Gneismasse  der  Sila,  die  mit  sanfter, 
von  üppiger,  aber  keineswegs  südlichen  Charakter  tragender  Vege- 
tation bedeckter  Böschung  zu  gerundeten  Hochgipfeln  von  nicht 
ganz  doppelter  Brockenhöhe  ansteigt.  Wasserarme,  aber  geröll- 
reiche Flüsse  durchirren  die  breiten,  flachen  Täler. 

Der  sizilische  Appennin  verbindet  mit  wesentlich  appenninischen 
Zügen,  dem  tyrrhenischen  Steilabbruche  und  der  sanften,  Afrika 
zugekehrten  Abdachung,  auch  eigenartige.  Namentlich  treten  auch 
hier  mesozoische  Stöcke,  bis  zur  Trias,  und  jungeruptive  Durch- 
brüche in  beträchtlicher  Zahl  auf. 

Wenn  wir  so  das  Appenninengebirge  auch  als  ein  einheit- 
liches auffassen,  so  bildet  dasselbe  doch  mehr  das  Rückgrat  der 
Halbinsel,  es  füllt  dieselbe  nicht  ganz  aus.  Zu  beiden  Seiten 
lagern  sich  auf  weite  Strecken  noch  Landschaften  an,  welche 
nur  in  loseren  Beziehungen  zu  den  Appenninen  stehen  und  in 
Italien  meist  als  subappenninische  bezeichnet  werden.  Sie  sind 
dem  Appenninenlande  erst  zu  Ende  der  Tertiärzeit  und  noch 
später  angegliedert,  bzw.  angelagert  worden.  Wir  sprechen  so 
von  einem  tyrrhenischen  und  einem  adriatischen  Appenninen- 
vorlande.  Letzteres  umfaßt  die  auf  weite  Strecken  von  Terra 
rossa,  hier  Bolo  genannt,  bedeckte  und  daher  sehr  fruchtbare 
apulische  Kreidetafel  und  die  mit  ihr  durch  die  apulische  Ebene 
verbundene  Scholle  des  Gargano.  Beide  sind  nach  ihrem  inneren 
Baue  und  ihren  genetischen  Verhältnissen  nicht  voneinander  zu 
trennen,  dürften  aber  auch  in  immer  engere  Beziehungen  zu  den 
Kalkschollen  des  letzteren  gesetzt  werden.  Die  Gründe,  nach 
welchen  man  den  Gargano  für  ein  dem  Appenninenland  an- 
gegliedertes Stück  des  illyrisch-griechischen  Faltensystems  hat 
erklären  wollen,  erscheinen  uns  schon  heute  nicht  mehr  stich- 
haltig. Das  tyrrhenische  Gegenstück  der  apuhschen  Kreidetafel 
sind  die  lepinischen  und  cepreischen  Berge,  nur  daß  hier,  der 
t)-rrhenischen  Abbruchseite  entsprechend,  Störungen  mehr  hervor- 
treten. Die  kampanische  und  die  latinische  Ebene  sind  aus- 
gefüllte Einbruchskessel,  während  das  Hochland  von  Toskana 
und  vielleicht  auch  die  apuanischen  Alpen  im  wesentlichen  als 
Teile  der  alten  Tyrrhenis  aufzufassen  sind.  Die  große  Aus- 
dehnung, welche  das  tyrrhenische  Appenninenvorland  vom  Horst 
von  Sorrent  bis  zum  Golf  von  Spezia  durch  Ausfüllung  der  Ein- 
bruchskessel, durch  Bildung  jungeruptiver  Berge  und  Berggruppen 


—     i66     — 

und  durch  Angliederung  von  Trümmern  der  Tyrrhenis  erlangt 
hat,  hat  hier  weite,  offene,  dichter  Besiedelung  zugängliche  Land- 
schaften und  namentlich  größere  hydrographische  Becken  ge- 
schaffen, wie  das  des  Tiber,  des  Arno,  Garigliano  u.  a.,  welche 
teils  dem  appenninischen  Faltenlande,  teils  dem  Vorlande  angehören, 
in  diesem  aber  erst  ihre  volle  Entwicklung  und  Bedeutung  er- 
langen. Hier  liegen  daher  die  größten  und  geschichtlich  wichtig- 
sten Siedelungen  der  Halbinsel,  Neapel,  Capua,  Rom,  Florenz, 
Siena,  Pisa,  Livorno  u.  a.  nahe   beieinander. 

Die  Trümmer  der  Tyrrhenis  bilden  überwiegend  Inselitalien, 
das  Appenninenland  entspricht  Halbinselitalien.  Zu  diesem,  wenn 
auch  berg-  und  hügelerfüllten,  doch  vorzugsweise  maritimen 
Italien  steht  in  vielfachem  Gegensatze  die  Poebene,  Festlands- 
italien. Dieselbe  läßt  sich  einem  zwischen  Alpen  und  Appenninen 
eingesenkten,  namentlich  an  der  Westseite  von  den  Alpen  noch 
umwallten,  sich  nach  Osten  sanft  neigenden  und  verbreiternden 
Troge  vergleichen.  Doch  weist  auch  die  Sohle  des  Troges  nur 
selten  jene  Einförmigkeit  auf,  welche  sonst  Ebenen  zu  kenn- 
zeichnen pflegt.  Zunächst  erheben  sich  kleine  vulkanische  Hügel- 
gruppen, wie  die  Euganeen,  oder  abgeschnittene  äußerste  Rand- 
stücke der  Appenninen,  wie  der  Hügel  von  St.  Colombano,  mitten 
aus  dem  Schwemmlande,  ja  das  ganze  ausgedehnte  Hügelland 
von  Monferrat,  auch  ein  Teil  der  Appenninen,  ist  als  ein  durch 
das  breite  Tanarotal  abgegliederter  Einschluß  der  Ebene  auf- 
zufassen. Aber  auch  sonst  läßt  der  Baumreichtum  und  die  ganze 
Art  der  Bodenverwertung  nirgends  den  Eindruck  des  Einförmigen 
aufkommen,  und  fast  überall  bieten  die  hohen,  zackigen,  weiß 
leuchtenden  Kämme  und  Hochgipfel  der  Alpen,  im  Westen  zu- 
gleich auch  die  Rücken  der  Appenninen  dem  Auge  willkommene 
Rastpunkte.  Ein  großes  Senkungsfeld,  in  welchem  die  Gletscher 
der  Eiszeit  und  die  Flüsse  der  Alpen  und  Appenninen,  nament- 
lich in  diluvialer  Zeit,  ungeheure  Geröllmassen  abgelagert  haben, 
deren  Mächtigkeit  im  Innern  noch  nirgends  durch  Bohrungen  hat 
festgestellt  werden  können,  zerfällt  die  Poebene  nach  den  Ober- 
flächenformen, welche  diese  Ablagerungen  hervorrufen,  den  Boden- 
arten und  der  Art  der  Bebauung  in  mehrere  parallele  Gürtel. 
Ein  Gürtel  hügeliger,  an  kleinen  Seen,  Mooren  und  auch  wirt- 
schaftlich ins  Gewicht  fallenden  Torfstichen  reicher  Moränen- 
ablagerungen   bildet    den   Übergang   vom    Alpenland    zur   Ebene. 


-      i67     - 

An  ihn  schließt  sich  der  Gürtel  der  groben  diluvialen  Flußgerölle 
und  des  umgelagerten  Moränenschuttes  an,  unter  welchem  all- 
mählich die  feinen,  vorwiegend  tonigen,  undurchlässigen  Schwemm- 
gebilde der  inneren  Ebene  hervortreten,  auf  ihnen  die  in  den 
Gürteln  der  gröberen  Ablagerungen  in  die  Tiefe  gesunkenen 
Meteorwasser.  So  bildet  sich  hier  ein  besonders  wasserreicher 
Gürtel,  der  sogenannte  Gürtel  der  FontaniU,  in  welchem  teils  von 
selbst,  teils  künstlich  gesammelt  große  Wassermengen,  Quellen  und 
Flüssen  Ursprung  gebend  oder  die  Flüsse  zum  Teil  bis  zur  Schiff- 
barkeit verstärkend  zutage  treten  und,  zu  künstlicher  Berieselung 
verwertet,  den  Ertrag  des  Bodens  außerordentlich  steigern.  Hier 
liegen  die  Reisfelder  und  jene  üppigen,  bis  achtmal  im  Jahr  zu 
mähenden  Rieselwiesen,  auf  welchen  die  bedeutende  Viehzucht 
der  Lombardei  beruht,  die  so  große  Mengen  Butter  und  Käse  in 
den  Handel  liefert.  Bei  der  Fruchtbarkeit  des  Bodens  drängte 
sich  wohl  sehr  früh  das  Bedürfnis  auf,  die  meist  den  Charakter 
von  Wildwasser  tragenden  Flüsse  zu  bändigen  oder  durch  künst- 
liche, die  dann  wirklich  dem  Verkehr,  zugleich  aber  auch  der 
Bewässerung  des  Landes  dienten,  zu  ersetzen.  Diese  Wildwasser, 
die  noch  heute  mit  ihren  breiten,  geröllreichen,  veränderlichen 
Betten  wichtige  strategische  Linien  bilden,  scheuchen  den  Men- 
schen von  ihren  Ufern,  während  die  künstlichen  Wasseradern  ihn 
anziehen.  So  ist  Mailand  heute,  ähnlich  Berlin,  der  Mittelpunkt 
eines  bewundernswerten  Kanalnetzes.  Ein  großer  Teil  der  in 
Berieselungen  über  die  Ebene  ausgebreiteten  Wassermassen  geht 
am  unteren  Ende  der  Ebene  unterirdisch  dem  Po  wieder  zu, 
der  so  auf  der  80  km  langen  Strecke  von  Valenza-Olonetta  bei 
niedrigstem  Wasserstande  ca.  300  cbm  Wasser  in  der  Sekunde 
von  unterirdischen  Zuflüssen  erhält,  d.  h.  fast  so  viel,  wie  der 
Tessin  bei  seinem  Austritt  aus  dem  Langensee  führt. 

Klima  und  Pflanzenwelt.  Bevölkerung. 
Zu  den  am  meisten  anziehenden  Eigenschaften  und  zu  den 
Schätzen  Italiens  gehört  sein  orographisch  auffällig  bedingtes 
Klima.  Doch  sind  gerade  über  dieses  unter  den  Nordländern 
sehr  irrige  Vorstellungen  verbreitet,  die  bei  praktischer  Erprobung 
zu  bitteren  Enttäuschungen  und  falschen  Urteilen  über  das  Land 
führen.  Italien  ist  durch  seine  Lage  sozusagen  im  Mittelmeer, 
durch    den    Schutz,    welchen  Alpen-   und    Appenninenwall,    einem 


—      i68      — 

großen  Teile  des  Landes  sonnige  Südlage  verleihend,  bieten, 
auch  durch  die  Einflüsse,  welche  das  heiße  Afrika  ausübt, 
klimatisch  in  hohem  Grade  bevorzugt  und  besitzt,  örtlich  durch 
die  Oberflächengestalt  hervorgerufen,  wahre  klimatische  Oasen. 
Die  Umgebung  der  oberitalischen  Seen  und  das  ligurische  Küsten- 
land sind  nur  die  bekanntesten  und  größten.  Das  Ausmaß  der 
Wärme  ist  überall  ein  bedeutendes,  die  Menge  der  Niederschläge 
überall  für  das  Pflanzenleben  ausreichend  und  wenigstens  in  der 
Nordhälfte  des  Landes  fast  gleichmäßig  über  die  Jahreszeiten 
verteilt.  Freilich,  der  große  Trog  der  Poebene,  der  nur  im  Osten, 
aber  auch  nur  in  geringem  Maße  dem  Meere  zugänglich  ist,  trägt 
auch  in  klimatischer  Hinsicht  festländischen  Charakter.  Im  Som- 
mer steigt  dort  die  Wärme  in  dem  Maße,  daß  sie  derjenigen 
Siziliens  gleichkommt  und  lange  genug  andauert,  daß  selbst  ein- 
jährige Erzeugnisse  der  Tropen,  wie  der  Reis,  hier  gezogen  werden 
können;  im  Winter  dagegen,  wo  das  Mittelmeer,  das  ja  auch  in 
seinen  Tiefen  niemals  weniger  als  12 — 13°  C  hat,  im  übrigen  Italien 
wärmeerhaltend  wirkt,  hier  aber  nicht  einwirken  kann,  sammeln  sich 
hier  auf  der  Sohle  des  Troges  die  kühlen,  schweren  Luftmassen, 
die  nur  langsam  zur  Adria  abfließen  können,  und  namentlich  bei 
Schneebedeckung  bilden  sich  gar  nicht  selten  sehr  niedere  Tem- 
peraturen durch  Wärmestrahlung  aus,  zumal  der  Winter  hier  auch 
die  niederschlagsärmste,  heiterste  Jahreszeit  ist.  Es  kommen  hier 
Perioden  bis  zu  30  Tagen  vor,  in  welchen  das  Thermometer 
unter  Null  bleibt,  und  in  Mailand  bietet  sich  oft  genug  Gelegen- 
heit zum  Schlittschuhlaufen.  Nur  hat  die  kalte  Jahreszeit  im  all- 
gemeinen kürzere  Dauer.  Infolge  seiner  kalten  Winter,  die  nur 
an  den  Seen  wesentlich  gemildert  sind,  besitzt  die  Poebene  nur 
wenige  Vertreter  der  mittelländischen  Pflanzenwelt,  selbst  der 
Ölbaum  ist  ihr  fremd;  sie  kann  höchstens  als  eine  Vorhalle  des 
Südens  angesehen  werden.  Aber  auch  in  dem  natürlichen  Treib- 
hause an  der  ligurischen  Küste,  so  groß  und  unvermittelt  auch 
der  Gegensatz  gegen  die  Poebene  ist,  kommen  Fröste  und 
Schneefälle  oft  in  recht  empfindlicher  Weise  vor,  so  mild  im  all- 
gemeinen die  Winter  auch  sind.  Man  findet  dort  in  der  Mitte 
des  Winters  diejenige  Wärme,  die  zu  dem  Gefühl  des  Behagens, 
vollends  beim  Sitzen  im  Freien,  gehört,  keineswegs,  namentlich 
ist  die  Temperatur  bei  der  reichlichen  Besonnung  —  meist  ist 
im  Winter  jeder  dritte  Tag  ein   ganz  heiterer  —  sehr  veränder- 


—      lög     — 

lieh,  die  Gegensätze  zwischen  Sonne  und  Schatten,  zwischen 
windstillen  und  windigen  Punkten,  zwischen  Tag  und  Nacht  sehr 
groß.  Es  bietet  sich  da  allenthalben  Gelegenheit  zur  Erhitzung 
und  Abkühlung  in  der  im  allgemeinen  ziemUch  trockenen  Luft, 
und  nachgerade  bricht  sich  die  Überzeugung  Bahn,  daß  wenig- 
stens für  Lungenleidende  dies  Klima  nicht  vorteilhaft  ist.  Und 
ähnlich  ist  es  in  ganz  Mittelitalien,  namentlich  an  der  Ostseite. 
Erst  in  Kampanien  beginnt  wirklich  der  Süden,  und  in  Sizilien 
erst  findet  man  eine  Wärme  des  kühlsten  Monats,  die  unserem 
]Mai  entspricht.  Auch  der  Umstand,  daß  dort  gerade  der  Winter 
die  eigentliche  Regenzeit  ist,  während  der  Sommer  völlig  regenlos 
bleibt,  vermag  die  Annehmlichkeiten  des  sizilischen  Winterklimas 
nicht  zu  vermindern,  denn  die  Gleichmäßigkeit  der  Wärme  wird 
dadurch  noch  erhöht,  und  da  die  Regen  fast  nur  in  einzelnen 
heftigen  Güssen  erfolgen,  so  konnte  schon  Cicero  mit  geringer 
Übertreibung  sagen,  daß  in  Sizilien  nie  so  schlechtes  Wetter 
herrsche,  daß  man  nicht  jeden  Tag  die  Sonne  sehe.  Freilich, 
der  Nordländer,  der  durch  überheizte  Zimmer  verwöhnt  zu  sein 
pflegt,  muß  sich  erst  daran  gewöhnen,  eine  Zimmertemperatur 
von  15°  C,  zu  welcher  im  Januar  wohl  öfters  das  Thermometer 
sinkt,  behaglich  zu  finden. 

Erst  in  Süditalien  gelangt  die  Mittelmeerflora  mit  ihren 
immergrünen  Holzgewächsen  zur  vollen  Herrschaft,  und  ist  wenig- 
stens eine  Zwergform  der  tropischen  Familie  der  Palmen  ein- 
heimisch, erst  dort  werden  andere  Erzeugnisse  niederer  Breiten 
so  im  großen  gezogen,  daß  sie  landschaftlich  ins  Gewicht  fallen, 
wie  die  tropischen  Aurantiazeen.  Freilich,  die  Dattelpalme,  ein 
so  malerischer  Schmuck  der  Gärten  sie  auch  ist,  selbst  schon  in 
Ligurien,  vermag  auch  in  Sizilien,  wenn  auch  fortpflanzungsfähige, 
so  doch  keine  eßbaren  Früchte  zu  zeitigen.  Dazu  ist  die  Luft- 
trockenheit im  Sommer  nicht  groß  genug.  Die  Verbreitung  der 
auffälligsten  Mediterrangewächse,  des  Ölbaums,  der  Immergrün- 
eiche, des  Erdbeerbaums,  des  Lorbeers,  der  Myrthen,  Pistazien, 
Pinien  usw.,  ist  aber  eine  weit  geringere  als  man  gewöhnlich  an- 
nimmt, nur  etwa  die  Hälfte  Italiens  hat  vorwiegend  mediterrane 
Flora,  in  der  anderen  Hälfte  begegnen  wir  überall  unseren  mittel- 
europäischen Gewächsen,  noch  in  Sizilien  bestehen  die  Gebirgs- 
wälder  aus  unseren  Buchen,  Eichen  und  Kastanien.  Nur  die 
von    der   unserigen    grundverschiedene  Art    der  Bodenver\vertung, 


—     lyo     — 

der  Anbau  von  Mais  und  Reis,  die  langen  Reihen  von  Maulbeer- 
bäumen oder  rebenumrankten  Ulmen  u.  dgl.  macht  auch  schon 
in  der  Lombardei  auf  den  Deutschen  einen  südländischen,  jeden- 
falls fremdartigen  Eindruck.  Im  Süden  tritt,  wo  nicht  künstliche 
Bewässerung  möglich  ist,  die  dort  aber  fast  nur  den  Fruchthainen 
gilt,  an  Stelle  des  Winterschlafes  eine  sommerliche  Ruhepause 
der  Gewächse;  der  berühmte  sizilische  Weizen  wird  zu  Beginn 
der  winterlichen  Regenzeit  gesäet,  wächst  ohne  Unterbrechung 
und  wird  zu  Beginn  der  heißen  und  trockenen  Zeit  geerntet. 
Die  kostbarsten  Früchte  reifen  dort  im  Winter,  die  Kirsche  in 
einer  Zeit,  wo  sie  in  Mitteldeutschland  kaum  zu  blühen  beginnt. 
So  vielfach  ethnisch  gemischt  auch  die  Bevölkerung  Italiens 
ist  und  so  bedeutende  Abweichungen  sie  in  ihrem  physischen 
Typus,  namentlich  im  Schädelbau,  auch  aufweist,  so  zeichnet 
sich  das  Land  doch  vor  beinahe  allen  Ländern  Europas  durch 
eine  erstaunliche  Einheitlichkeit  in  kultureller  und  sprachlicher 
Hinsicht  aus.  Was  heute  noch  an  Franzosen,  etwa  120000,  in 
den  Tälern  der  piemontesischen  Alpen,  an  Deutschen,  an  Slawen, 
Griechen  und  Albanesen  innerhalb  der  Grenzen  des  Königreiches 
wohnt,  unterliegt  rascher  Aufsaugung.  Die  italienische  Nation 
genießt  außerdem  den  großen  Vorzug,  daß  bei  einer  Kopfzahl 
von  34 Y2  Millionen  nur  etwa  2  Millionen,  also  nicht  ganz  7°/^, 
außerhalb  der  Grenzen  des  nationalen  Staates  wohnen,  der  einer- 
seits nur  o,8°/(j  italienische  Staatsbürger  nicht  italienischer  Natio- 
nalität umfaßt.  Wie  glücklich  müssen  wir  Deutschen  die  Italiener 
schätzen,  die  wir  in  unserem  nationalen  Staate  8*^/^  Angehörige 
fremder  Völker  beherbergen,  während  volle  25°/^  unseres  Volks- 
tums —  die  Deutschen  in  überseeischen  Ländern,  die  Nieder- 
deutsch auch  als  Schriftsprache  gebrauchenden  Vlamen  und 
Holländer  nicht  einmal  eingerechnet  —  außerhalb  der  Reichs- 
grenzen  wohnen   und   in   ihrem   nationalen   Dasein   bedroht   sind! 

Wirtschaftliche  Verhältnisse. 
Wir  deuteten  bereits  an,  daß  sich  die  italienische  Nation 
vorzugsweise  wohl  zur  Hälfte,  von  Boden  und  Klima  angeregt 
und  begünstigt,  dem  Ackerbau  widmet,  der  freilich  wesentlich 
andere  Züge  aufweist,  als  bei  uns.  Unabsehbare,  baumlose 
Flächen,  mit  Getreide,  Kartoffeln  oder  Zuckerrüben  bestellt,  sucht 
man   in  Italien  vergebens.     Im   Inneren  Siziliens    finden  wir  zwar 


—      171     — 

diese  einförmige  Art  der  Bodenverwertung  wieder,  aber  es  ist 
ein  unentwirrbares  Chaos  gerundeter  baumloser  Hügel,  welche 
hier  unabsehbar  mit  Weizenfeldern  bestellt  sind,  so  daß  das  Land 
nach  der  Ernte  im  Sommer  öder  Steppe  gleicht.  Sonst  aber  ist 
selbst  bei  Großgrundbesitz,  der  leider  im  Übermaß  vorhanden  ist, 
wie  in  den  östlichen  Provinzen  Preußens,  der  Anbau  ein  marmig- 
faltiger,  das  Land  in  viele  kleine  Pachtstücke  zerlegt  und  hat 
durch  die  allenthalben  zahlreich  eingestreuten  oder  in  Reihen 
gepflanzten  Fruchtbäume  mehr  einen  gartenartigen  Anstrich. 
Vielfach  ist  die  Hacke  wichtiger  als  der  Pflug.  In  den  Küsten- 
landschaften mit  ihren  ungeheuren  Hainen  von  Ol-  und  anderen 
Fruchtbäumen,  dort,  wo  die  Hänge  in  Terrassen  ausgelegt  sind 
oder  künstliche  Bewässerung  angewendet  wird,  Kanäle  und  Feld- 
grenzen durch  Baumreihen  bezeichnet  werden,  da  erhält  die 
italienische  Landwirtschaft  und  die  Landschaft  selbst  ein  be- 
sonders eigenartiges  Gepräge.  Wie  ungeheuer  muß  z.  B.  die 
Zahl  der  INIaulbeerbäume  sein,  trotzdem  Seidenzucht  eigentlich 
mehr  als  Nebenbeschäftigung  und  meist  nur  im  kleinen  getrieben 
wird,  wenn  wir  uns  vergegenwärtigen,  daß  Italien  jährlich  für 
320  Mill.  Lire  Rohseide,  wovon  250  Millionen  allein  aus  der 
Lombardei,  zur  Ausfuhr  gewinnt! 

Es  mag  die  künstlich  bewässerte  Fläche  jetzt  ca.  20000  qkm 
betragen,  am  meisten  in  der  Poebene  für  Reis-  und  Futterbau. 
Je  weiter  nach  Süden,  um  so  kostbarer  und  ertragreicher  ist 
künstliche  Bewässerung.  Konnte  doch  schon  Martial  in  Ravenna 
wünschen,  lieber  eine  Zisterne  mit  Wasser,  das  er  teurer  ver- 
kaufen könne,  als  einen  Weingarten  zu  besitzen.  Die  ältesten 
und  sorgsamsten,  zum  Teil  unterirdisch  geführten  Wasserleitungen 
und  Wasserfänge  zu  Berieselungszwecken  besitzt  die  Conca  d'  Oro 
von  Palermo.  Dieselben  gehen  wohl  auf  die  Araber  zurück. 
Dort  gibt  eine  zur  Bewässerung  eines  Apfelsinenhaines  verwendete 
Quelle,  die  nur  i  Liter  Wasser  in  der  Sekunde  zu  liefern  ver- 
mag, doch  eine  jährliche  Rente  von  3000  Lire,  eine  Summe, 
von  welcher  wohl  eine  einfache  bürgerliche  Familie  zu  leben 
vermag.  Welch  bequemer  Besitz!  In  Oberitalien  gibt  bewässertes 
Land  den  doppelten,  ja  vierfachen,  in  Sizilien  bis  20 fachen  Er- 
trag, und  man  rechnete  in  den  70er  Jahren,  wo  die  Erträge 
wohl  am  höchsten  waren,  vom  Hektar  Apfelsinengarten  3600  Lire 
Rohgewinn.    Auch  insofern  weicht  die  italienische  Art,  den  Boden 


auszunutzen,  von  der  unseligen  ab,  als  das  Klima  dort  erlaubt, 
nicht  nur  mehrere  Ernten  im  Jahre  nacheinander  zu  erzielen,  bei 
Rieselwiesen  in  der  Lombardei  bis  zu  acht  Schnitten,  sondern 
zwei,  ja  drei  Gewächse  zu  gleicher  Zeit,  wie  etwa  Ölbäume, 
Reben  und  Weizen.  Es  lohnt  der  Ackerbau,  in  dieser  Weise 
mehr  als  Gartenbau  betrieben,  so  reichlich,  daß  selbst  Berg- 
hänge, die  bei  uns  nur  Wald  hervorzubringen  vermöchten,  bis 
hoch  hinauf  in  gemauerten  Terrassen  ausgelegt  sind.  Die  Küsten- 
und  Hügellandschaften  sind  fast  überall  der  Baumzucht  gewidmet 
und  bieten  dadurch  besondere  Reize.  Die  Fruchtbäume  lassen 
den  Waldmangel  weniger  schwer  empfinden.  Die  Mannigfaltig- 
keit der  gezogenen  Gewächse  kennzeichnet  ebenfalls  die  ita- 
lienische Landwirtschaft.  Namentlich  gilt  dies  von  den  Frucht- 
bäumen, Unter  unsere  mitteleuropäischen  mischen  sich  tropisch- 
indische, tropisch-amerikanische,  japanische  u.  dgl.  Der  Ölbaum 
allein,  der  im  westlichen  Ligurien  und  anderwärts  ganze  Land- 
schaften wie  bewaldet  erscheinen  läßt,  bedeckt  eine  Fläche  so 
groß  wie  das  ehemalige  Kurhessen;  Apfelsinen-,  Limonen-  und 
Mandarinenbäume  zählt  man  etwa  sechzehn  Millionen  Stück,  wo- 
von zwei  Drittel  allein  in  Sizilien.  Die  Rebe,  deren  Anbau  be- 
ständig gestiegen  ist,  nimmt  eine  Fläche  von  20000  qkm  in 
Anspruch  und  liefert  im  Mittel  etwa  35  Millionen  Hektoliter  Wein. 
Italien  kommt  so  unmittelbar  hinter  Frankreich  und  macht  jetzt 
auch  in  der  Behandlung  des  Weines  Fortschritte.  Und  welche 
Fülle  von  Gartenfrüchten,  Gemüse  u.  dgl.  bringt  das  Land  zum 
Teil  im  Winter  hervor,  Schätze,  deren  Verwertung  für  Mittel-  und 
Nordeuropa  noch  in  den  Anfängen  steht!  Überhaupt  könnte 
Italien  aus  seinen  Bodenerzeugnissen,  die  heute  noch  zum  Teil 
wegen  schlechter  Behandlung  minderwertig  oder  nicht  ausfuhr- 
fähig sind,  weit,  weit  größeren  Nutzen  ziehen;  wie  die  italienische 
Landwirtschaft,  wenn  auch  Italien  das  klassische  Land  des  Acker- 
baues genannt  werden  kann,  heute  meist  nicht  auf  der  Höhe 
steht,  ja  örtlich  im  Rückgang  ist,  Ackerbau  durch  Weidewirtschaft 
verdrängt  wird.  Am  schlimmsten  ist  es  in  dieser  Hinsicht  in  der 
römischen  Kampagna,  die  heute  menschenleerer  daliegt  als  je- 
mals, so  daß  tatsächlich  die  Hauptstadt  Italiens  mitten  in  einer 
entvölkerten  Steppe  liegt.  Erst  20  —  25  km  von  Rom  findet  man 
am  Albaner  Gebirge,  das  aber  ebenfalls  sich  wie  eine  Insel  aus 
menschenleerem    Gebiet    erhebt,    die    nächsten    bewohnten    Orte' 


—     173     — 

Dort,  wie  in  anderen  ähnlichen  Kampagnas  Italiens,  ist  es  der 
Großgrundbesitz,  welcher  noch  immer  ohne  Verständnis  für  seine 
sozialen  Aufgaben  und  Pflichten  das  Land  entvölkert,  indem  er 
sich  am  besten  zu  stehen  meint  bei  Pacht-  und  Weidewirtschaft; 
zählte  man  doch  1881  —  und  seitdem  ist  es  nicht  besser  ge- 
worden —  in  der  ganzen  römischen  Kampagna  an  dauernden 
Bewohnern  nur  764,  also  nur  0,264  auf  i  qkm,  während  die 
ganze  Volksdichte  von  Italien  113  beträgt!  Güter  von  20  qkm 
Größe  sind  nur  von  zwei  Personen  dauernd  bewohnt!  Dafür 
steigen  alljährlich  10  000  Lohnarbeiter,  wahre  Sklaven  der  Unter- 
nehmer, aus  den  Abruzzen  herab,  um  anzubauen,  was  noch  an- 
gebaut wird,  und  nach  harter,  entbehrungsreicher  Arbeit,  meist 
mit  malariasiechem  Körper  und  kärglichen  Ersparnissen  in  die 
heimischen,  übervölkerten  Berge  zurückkehren.  Ähnlich  traurig 
ist  die  Lage  der  den  Boden  bebauenden  Bevölkerungskreise  fast 
überall  in  Italien,  einer  der  Krebsschäden  des  schönen  Landes. 
Während  so  die  Weidewirtschaft  und  der  Großgrundbesitz  an 
lind  für  sich  sehr  fruchtbare  Landschaften  entvölkern,  sind  ge- 
wisse Gebirgslandschaften  bei  geteiltem  Besitz  übervölkert. 

Wenn  auch  örtlich  Viehzucht  vorherrscht,  so  ist  Italien 
doch  ein  vieharmes  Land,  wie  das  seinem  Klima  und  seiner 
Pflanzenwelt  entspricht.  Denn  dem  Süden  fehlen  die  saftigen 
Wiesen,  welche  das  Rind  liebt,  nur  Schafe  und  Ziegen  finden 
dort  die  ihnen  zusagende  Nahrung.  Nur  im  Polande  wird  be- 
deutende Rinderzucht  betrieben  und  Butter,  namentlich  aber  die 
berühmten  Käse,  Parmesan,  Gorgonzola  usw.,  in  Menge  ge- 
wonnen und  von  Mailand  aus  in  den  Handel  gebracht.  Aber 
selbst  die  Schafzucht  deckt  nicht  den  eigenen  Bedarf  Italiens 
an  Wolle. 

Daß  Italien  an  inneren  Schätzen  arm  sein  muß,  suchten  wir 
schon  früher  zu  erklären.  In  der  Tat  ernährt  der  Bergbau  nur 
einen  geringen  Prozentsatz  der  Bewohner.  Obenan  steht  die 
Schwefelgewinnung  im  Tertiär  Siziliens,  die,  noch  immer  eine  Art 
Raubbau,  etwa  35  000  Arbeiter  beschäftigt  und  kärglich  entlohnt. 
Ihr  Wert  erreicht  40  Millionen  Lire  jährlich.  Die  volle  Ver- 
wertung des  altberühmten,  in  unerschöpflichen  Mengen  dicht  am 
Meeresufer  anstehenden  Eisens  von  Elba  leidet  unter  dem  völligen 
Mangel  an  Steinkohlen  im  Lande  selbst.  Die  Gewinnung  von 
Silber   und  Kupfer   im    toskanischen  Erzgebirge,   auf  welcher  die 


—      174      — 

berühmten  Metallarbeiten  der  alten  Etrusker  beruhten,  von  Blei, 
Zink  und  anderen  Erzen,  namentlich  im  südlichen  Sardinien,  wo 
jetzt  der  Bergbau  durch  fremden  Unternehmungsgeist  im  Auf- 
blühen ist,  erreicht  noch  nicht  den  Wert  des  sizilischen  Schwefels. 
Doch  ist  der  Bergbau  Italiens  in  aufsteigender  Bewegung.  Dazu 
kommt  der  Reichtum  an  Steinen^  welcher  den  Steinbau  im  ganzen 
Lande  so  wesentlich  gefördert  und  italienische  Steinarbeit^r  zu 
überall  geschätzten  und  gesuchten  gemacht  hat.  Die  Marmor- 
gewinnung von  Massa,  Carrara  und  Serravezza  beschäftigt  allein 
8000  Arbeiter  und  gibt  einen  jährlichen  Ertrag  von  20  Millionen  Lire. 
Dafür,  daß  Italien  Steinkohlen  entbehrt,  ist  seine  immer 
mehr  aufblühende  Gewerbetätigkeit  schon  heute  bedeutend. 
Ihr  Hauptsitz  ist  das  Poland,  wo  sie  sich  durchaus  bodenständig 
besonders  durch  Verwertung  der  Triebkräfte  der  Alpengewässer 
entwickelt  hat.  Vielfach  drängen  sich  in  den  Alpentälern  die 
großgewerblichen  Anlagen,  und  die  elektrische  Kraftübertragung 
verheißt  hier  noch  eine  große  Zukunft.  Seiden-  und  Wollen- 
spinnerei und  -Weberei,  also  durchaus  bodenständige  Erwerbs- 
zweige, stehen  obenan,  erstere  allein  beschäftigt  200000  Men- 
schen. Ihnen  reiht  sich  die  Verarbeitung  der  Baumwolle  an, 
die  während  des  amerikanischen  Bürgerkrieges  im  Süden  im 
großen  gezogen  wurde  und  in  Sizilien  heute  wieder  Boden  zu 
gewinnen  scheint.  Die  Gegenwart  des  italienischen  Handels- 
und  Seeverkehrs,  die  italienische  Handelsflotte  von  heute,  ob- 
wohl sie  zu  den  ersten  Europas  gehört,  bleibt  weit  hinter  der 
Vergangenheit  zurück.  Wichtig  ist  aber  die  Fischerei  in  einem 
großen  Teile  des  Mittelmeeres.  Die  auf  Edelkorallen  liegt  ganz 
in  italienischen  Händen  und^  liefert  einem  eigenartigen  Zweige 
des  vaterländischen  Kunstgewerbes  den  Rohstoff.  Doch  hat  die 
Entwicklung  des  Verkehrs  in  Italien  rasche  Fortschritte  gemacht 
durch  Schaffung  von  Verkehrswegen,  an  denen  es  dem  Süden 
fast  ganz  fehlte.  Was  die  Kulturstaaten  Europas  im  Laufe  von 
Jahrhunderten  geschaffen  haben,  das  mußte,  wenigstens  im  ehe- 
maligen Kirchenstaate  und  im  Königreich  Neapel,  wo  man  ge- 
flissentlich bemüht  gewesen  war,  den  Verkehr  zu  unterbinden,  in 
Jahrzehnten  nachgeholt  worden.  Besaß  doch  Sizilien  1863  erst 
9  km  Straßen,  und  besuchte  ich  dort  noch  1875  eine  Stadt  von 
20000  Einwohnern,  die  noch  von  keiner  fahrbaren  Straße  er- 
reicht wurde. 


175 


Volksdichte  und  Siedelungskunde. 

Für  ein  vorwiegend  ackerbauendes  Land  ist  Italien  mit 
1 1 3  Köpfen  auf  das  Quadratkilometer  sehr  dicht  bevölkert, 
einzelne  Gegenden  um  so  dichter,  als  andere,  kaum  minder 
fruchtbare,  völlig  menschenleer  sind.  Das  nur  ackerbauende 
Sizilien  hat  141  Köpfe  auf  i  qkm,  Kampanien  194  und  die  zu- 
gleich gewerbtätige  Provinz  Mailand  gar  454.  Menschenleere 
Einöden  schafft  in  Italien  Großgrundbesitz  im  Bunde  mit  Malaria. 
Letztere  verlangsamt  die  natürliche  Volksvermehrung  und  er- 
schwert den  Anbau  und  selbst  den  Verkehr  ganzer  Landschaften. 
Sind  doch  von  den  6g  Provinzen  Italiens  nur  6  malariafrei!  Auf 
gewissen  Eisenbahnlinien  in  Sardinien,  Sizilien,  Kalabrien  und 
Toskana  müssen  alle  Beamten  besser  genährt,  höher  besoldet 
und  für  die  Nacht  nach  gesunden  Stationen  gebracht  werden. 
Aber  auch  damit  wird  die  Sterblichkeit  unter  denselben  nur  auf 
I2y2%  herabgedrückt.  In  dem  unglücklichen  Kosenza,  das  im 
Durchschnitt  einmal  im  Jahrhundert  von  Grund  aus  durch  Erd- 
beben zerstört  wird,  kommen  auf  1000  Mann  Besatzung  jährlich 
1500  Erkrankungen!  Viele,  viele  Millionen  kostet  die  Malaria 
dem  Staat  alljährlich.  Dennoch  ist  die  natürliche  Volksvermehrung 
eine  günstige  und  die  Zunahme  der  Bevölkerung  trotz  der  stetig 
wachsenden  Auswanderung  eine  beträchtliche.  Die  Volkszahl  des 
Königreiches  stieg  von  1871  bis  igoi  von  26,8  Millionen  auf  32y2. 

Die  Art  zu  wohnen  weicht  in  Italien  von  derjenigen  aller 
Länder  Europas,  bis  auf  einen  Teil  von  Spanien,  insofern  ab, 
als  kleine  Siedelungen,  Dörfer  in  deutschem  Sinne,  in  größeren 
Teilen  Italiens  unbekannt  sind.  Selbst  in  rein  ackerbauenden 
Gegenden  bilden  Anhäufungen  der  Menschen  nach  Tausenden, 
wo  man  also  in  Deutschland  von  Städten  sprechen  würde,  die 
Regel.  Nur  einige  Landschaften  des  Nordens,  Venetien,  die 
Emilia,  Toskana,  wo  nur  50 — 55 7o  ^^^  Einwohner  in  geschlosse- 
nen Ortschaften  beisammen  wohnen,  machen  eine  Ausnahme. 
Aber  auch  dort  gibt  es  weniger  Dörfer  als  verstreute  Einzel- 
häuser oder  Einzelhöfe.  Im  größten  Teile  Siziliens  sind  Dörfer 
in  unserem  Sinne  unbekannt.  Die  mehr  als  3530000  Bewohner 
der  Insel  verteilen  sich,  von  einer  sehr  geringen  Zahl  von  Berg- 
werken und  Meierhöfen  abgesehen,  auf  67g  Ortschaften,  deren 
jede  demnach  im  Durchschnitt  3g 54  Einwohner  haben  müßte.    In 


—     176     — 

der  Provinz  Girgenti  wohnen  von  ihren  3 1 2  000  Bewohnern  nur 
4000  außerhalb  großer  geschlossener  Ortschaften,  wohl  meist  auf 
den  Schwefelbergwerken,  und  es  zählt  diese  Provinz  16  Städte 
von  8 — 20  000  Einwohnern.  Die  rein  ackerbauende  apulische 
Provinz  Bari  hat  bei  679000  Einwohnern  15  Städte  von  15 — 58000 
Bewohnern.  Es  ist  klar,  daß  dieses  gedrängte  Wohnen,  weit 
weg  von  den  zu  bebauenden  Feldern,  große  Nachteile  hat,  auch 
sehen  wir  allenthalben,  daß  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  in 
Süditalien,  seit  die  öffentliche  Sicherheit  eine  bessere  geworden 
ist  und  der  Verkehr  sich  belebt,  mehr  und  mehr  die  Neigung 
geltend  macht,  sich  wieder  inmitten  der  Felder,  an  den  Verkehrs- 
wegen, namentlich  den  Eisenbahnen,  an  der  Küste,  niederzulassen. 
Es  entwickeln  sich  wieder  kleine,  verstreute  Siedelungen,  und  die 
ungünstig  gelegenen  größeren  Mittelpunkte  beginnen  zu  veröden. 
Das  beste  Beispiel  dieser  Art  bietet  wohl  Monte  S.  Giuliano, 
der  alte  Eryx,  in  Westsizilien,  das  nur  noch  eine  Sonn-  und 
Feiertagsstadt  ist.  Es  wäre  eben  durchaus  irrig,  dieses  ge- 
drängte Wohnen  der  Menschen  in  wenigen,  weit  voneinander 
entfernten  großen  Ortschaften  überall  und  durchaus  aus  der 
Landesnatur  herzuleiten.  Natürlich  feste  Lage,  gute  Häfen, 
Quellen,  Freiheit  der  Örtlichkeit  vom  Fieber  und  ähnliche  Ur- 
sachen kommen  gewiß  in  Betracht,  in  erster  Linie  geben  aber 
geschichtliche  Vorgänge  die  Erklärung  dieser  Erscheinung.  In 
den  endlosen  Fehden  und  Kriegen,  welche  Italien  im  Mittelalter 
und  bis  in  die  neueste  Zeit  heimgesucht  haben,  drängten  sich  die 
Menschen  an  den  natürlich  festen  Punkten  zu  gemeinsamer  Ab- 
wehr zusammen,  namentlich  konnten  sich  an  den  Küsten  Süd- 
.italiens  gegenüber  den  unablässigen  Überfällen  der  kleinafrika- 
nischen Seeräuber  —  wir  haben  selbst  noch  in  Sizilien  alte  Leute 
gekannt,  welche  in  die  Sklaverei  nach  Tunis  geschleppt  worden 
waren  —  nur  solche  Küstenplätze  halten,  welche  mit  einem 
Hafen  natürliche  Festigkeit  verbanden;  wo  solche  Punkte  fehlten, 
da  wurde  die  Bevölkerung,  wie  namentlich  in  Kalabrien,  von  den 
Küsten  weg  auf  die  steilen  Höhen  im  Angesichte  des  Meeres 
gedrängt.  Andererseits  aber  hat  sich  auch  die  Feudalzeit  in 
diesen  großen  Siedelungen  verewigt,  indem  die  zahlreichen  kleinen 
Herren  Mittel-  und  Süditaliens  ihren  Herrschersitzen  mit  allen 
Mitteln  Glanz  zu  verleihen  suchten,  in  Unteritalien  in  der  spani- 
schen Zeit  die  Feudalherren  bemüht  waren,  durch  Schaffung  großer 


—     177     — 

Güter  mit  namhaften  Mittelpunkten  ihr  Ansehen  zu  heben,  neue 
Ehren  und  Titel  zu  erlangen.  Fast  die  Hälfte  aller  sizilischen 
Städte  besteht  aus  derartigen  geschichtslosen  Neugründungen  aus 
der  Zeit  des  i6.  bis  i8.  Jahrhunderts.  Die  andere  Hälfte  da- 
gegen geht  auf  Phöniker,  Karthager,  Griechen,  wohl  auch  noch 
weiter  zurück  und  umfaßt,  durch  ausgezeichnete  Lagenverhältnisse 
bedingt,  hervorragend  geschichtliche  Stätten. 

Sehr  bezeichnend  ist  es,  daß  in  Insel-  und  Halbinselitalien 
alle  größeren,  geschichtlich  wichtigen  Städte  am  Meere  liegen, 
meist  mit  einem  Hafen  natürliche  Festigkeit  der  Lage  verbindend: 
Messina,  Catania,  Agosto,  Syrakus,  Trapani,  Palermo,  Milazzo, 
Tarent,  Brindisi,  Ancona,  Neapel,  Pozzuoli,  Gaeta,  Cagliari  usw. 
Nur  Rom  und  Florenz  machen  eine  Ausnahme,  obwohl  auch  sie 
beide  dem  INIeere  nahe  liegen  und  sehr  wichtige  Seeverbindungen, 
Florenz  namentlich  im  späteren  Mittelalter,  wo  es  sich  zur  Erbin 
des  vom  Meere  abgedrängten  Pisa  machte,  unterhielten.  Beide 
liegen  auch  bereits,  wie  die  Städte  Oberitaliens,  an  Flüssen, 
während  in  Süditalien  die  Flüsse  von  größeren  Siedelungen  durch- 
aus gemieden  werden.  Bei  beiden  fallen  besonders  die  geo- 
graphisch bedingten  Beziehungen  zum  Appenninenlande,  zur 
adriatischen  Küste  und  zum  Norden  ins  Gewicht.  In  Ober- 
italien liegen  nur  zwei  Großstädte  am  Meere,  Venedig  und  Genua, 
beide  mit  natürlichen  Häfen  Festigkeit  der  Lage  verbindend; 
ersteres  spiegelt  mehr  die  große  Vergangenheit  wieder,  während 
letzteres  die  Gegenwart  Italiens  zur  See  veranschaulicht.  Venedig 
lag  bis  zur  Bahnung  guter  Alpenstraßen  und  bis  zur  Durch- 
bohrung des  St.  Gotthard  für  die  Beziehungen  zu  Deutschland 
und  zum  Orient  günstiger,  wie  dies  noch  heute  nahe  beieinander 
am  Canal  grande  das  deutsche  und  das  türkische  Kaufhaus  ver- 
anschaulichen. Selbst  wenn  es  gelingt,  die  Naturkräfte,  welche 
Venedig  bedrohen,  dauernd  abzuhalten,  wird  diese  Stadt  doch 
kaum  wieder  mit  Genua  zu  wetteifern  vermögen,  denn  die  Be- 
ziehungen zum  Osten,  auch  zu  dem  fernsten,  für  welchen  Genua 
kaum  minder  günstig  liegt,  werden  in  absehbarer  Zeit  nicht  die 
Bedeutung  erlangen,  wie  diejenige  zur  Neuen  Welt,  der  sich 
Genua  zuwendet,  dem  in  der  Lombardei  und  Piemont,  weiterhin 
in  Südwestdeutschland  ein  reiches  Hinterland  erwachsen  ist, 
während  es  zugleich  der  natürliche  Mittelpunkt  der  dicht  be- 
siedelten, rührigen   ligurischen  Küste   von   Spezia   bis  Ventimiglia 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  12 


-     178     - 

ist.  Venedig  dagegen  thront  einsam  mitten  in  einem  Sumpf-  und 
Haffgebiet  am  Außenrande  eines  15  bis  20  km  breiten  unwirt- 
lichen Gürtels,  der  das  besiedelte  Innere  vom  Meere  scheidet. 
Neben  diesen  beiden  einzigen  Seestädten  besitzt  aber  Festland- 
italien noch  ein  Mailand,  Turin  und  Bologna,  neben  vielen 
anderen  bedeutenden  Brennpunkten  geschichtlichen  Lebens:  den 
Alpenrandstädten  Verona,  Bergamo,  Brescia,  Como,  den  Appen- 
ninenrandstädten  Modena,  Parma,  den  Poübergangstädten  Pia- 
cenza  und  Cremona,  den  auch  strategisch  wichtigen  Festungen 
der  Poebene  Mantna  und  Alessandria,  Ferrara  usw.  Bologna  ist 
der  Schlüssel  Halbinselitaliens  von  Norden  her  und  der  Knoten- 
punkt aller  dorthin,  sei  es  längs  des  Meeres,  sei  es  über  den 
Appennin,  gehenden  Straßen;  Turin,  der  natürliche  Mittelpunkt 
Piemonts,  vereinigt  in  sich  alle  Straßen  über  die  Westalpen;  Mai- 
land dagegen  ist  die  Hauptstadt  des  ganzen  Festlanditalien,  der 
Sitz  und  Knotenpunkt  aller  Beziehungen  desselben  nach  West 
und  Ost,  nach  Süd  und  Nord,  namentlich  aber  nach  Norden, 
wie  sich  dies  in  der  sehr  bedeutenden  deutschen  Kolonie  Mai- 
lands schon  ausprägt.  Der  Handel  und  die  Gewerbtätigkeit, 
welche  die  reiche  Umgebung  schon  nährt,  haben  Mailand  zugleich 
zum  großen  Geldplatze  Italiens,  in  mancher  Hinsicht,  wie  schon 
in  spätrömischer  Zeit,  zu  dessen  Hauptstadt  gemacht.  Mailand 
hat  seiner  Lage  nach  viel  Ähnlichkeit  mit  Berlin;  wie  dieses  liegt 
es  im  Flachlande  als  Knotenpunkt  zahlreicher,  meist  künstlicher 
Wasserstraßen  und  noch  zahlreicherer  Landstraßen,  welche  Be- 
ziehungen nach  Ost  und  West,  aber  auch  nach  Nord  und  Süd 
vermitteln,  mitten  zwischen  zwei  größeren  meridionalen  Flüssen  und 
zwischen  zwei  natürlichen  Grenzlinien,  Appennin  und  Alpen,  die 
dem  Mittelgebirgsrande  und  der  Ostseeküste  entsprechen.  Doch 
sind  alle  Verhältnisse  bei  Mailand  räumlich  beschränktere.  Der 
gewaltige  Aufschwung  von  Mailand  prägt  sich  am  besten  darin 
aus,  daß  sich  seine  Bevölkerung  in  den  letzten  30  Jahren,  also 
ebenfalls  ähnlich  Berlin,  verdoppelt  hat  und  jetzt  491  000  beträgt. 
Und  Mailand  verdankt  diesen  Aufschwung  nur  sich  selbst,  wäh- 
rend Rom,  das  seit  20  Jahren  seinen  Charakter  sehr  wesentlich 
geändert  und  seiner  Bevölkerung  nach  (463  000)  sich  bereits 
Mailand  nähert,  dies  nur  seiner  Eigenschaft  als  Hauptstadt 
verdankt.  Beide  übertrifft  (528000)  das  menschenwimmelnde 
Neapel. 


—     179     — 

Schon  in  dem  raschen  Wiederaufblühen  dieser  und  fast  aller 
Städte  Italiens,  in  der  Vermehrung  der  Bevölkerung  erkennen 
wir,  daß  dies  Land,  wenn  wir  es  noch  einen  Augenblick  als 
Staat  betrachten,  in  fortschreitender  Entwicklung  begriffen  ist. 
Der  Staat  Italien  ist  heute  trotz  aller  Schwierigkeiten,  die  sich 
zeitweilig  namentlich  in  der  üblen  Finanzlage  auftürmen,  als  völlig 
in  sich  gefestigt,  als  selbst  einen  starken  Stoß  von  außen  zu  er- 
tragen befähigt  anzusehen.  Die  Schwierigkeiten,  mit  welchen  man 
heute  ringt,  gehen  alle  auf  die  Art  und  Weise  zurück,  wie  der 
Einheitsstaat  geschaffen  worden  ist.  An  den  so  kleinen  Kern 
des  sardinischen  Königreichs  hat  sich  das  ganze  übrige  Italien 
ankristallisiert,  durch  den  Willen  des  Volkes,  nicht  durch  Er- 
oberung. Damit  mußte  eine  Menge  veralteter  Einrichtungen,  ein 
ungeheures  Heer  schlecht  bezahlter  und  vielfach  unfähiger  Be- 
amten übernommen,  Empfindlichkeiten  jeder  Art  geschont  werden. 
In  der  Hälfte  des  Landes  mußten  alle  Kulturaufgaben,  die  dort 
geflissentlich  vernachlässigt  worden  waren,  Straßen,  Eisenbahnen, 
Häfen  usw.  so  rasch  wie  mögUch,  selbst  unter  den  ungünstigsten 
Bedingungen  und  dem  schwersten  Lehrgeld  geschaffen  werden. 
Schulen  waren  im  Süden  so  gut  wie  gar  nicht  vorhanden.  Das 
fluchwürdige  bourbonische  System  hatte  eine  ungeheuere  Korrup- 
tion, geheime  Gesellschaften,  Räuberwesen  und  dergleichen  groß- 
gezogen. So  stieg  die  Schuldenlast  von  Staat  und  Gemeinden 
ins  Ungeheuere!  Wenn  dennoch  heute  ein  großer  Teil  jener 
Aufgaben  gelöst  ist  —  in  der  kurzen  Spanne  Zeit  von  kaum 
30  Jahren  — ,  der  Staatskredit  befestigt,  die  Fehlbeträge  ge- 
mindert, so  ist  das  eine  Leistung,  auf  welche  Italiens  Herrscher 
und  Volk  stolz  sein  können.  Das  italienische  Volk  arbeitet  heute 
rastlos  auf  allen  Gebieten  des  materiellen  und  des  geistigen 
Lebens,  die  schmarotzenden  Müßiggänger  der  höchsten  wie  der 
niedrigsten  Schichten  früherer  Zeiten  sterben  aus,  ein  neues  Ge- 
schlecht wächst  heran  und  ist  zum  Teil  schon  herangewachsen. 
Man  wandle  nur  eine  Stunde  offenen  Auges  durch  die  Straßen 
von  Mailand,  Genua  oder  selbst  Palermo,  und  man  wird  sich, 
natürlich  der  Landesnatur  entsprechend  Rechnung  tragend,  von 
der  Richtigkeit  dieser  Beobachtung  überzeugen.  Überall  herrscht 
Leben  und  Vorwärtsschreiten.  Die  italienische  Nation  steht  heute 
mitten  in  einer  Wandlung  ihres  ganzen  nationalen  Daseins.  Die 
Zeit  der  übergroßen  Abhängigkeit  von  Frankreich,  mehr  noch  im 


—      i8o     — 

gesamten  Geistesleben  als  im  wirtschaftlichen,  der  blinden  Be- 
wunderung der  romanischen  Vormacht  ist  vorüber,  das  italienische 
Volk  hat  angefangen,  sich  auf  sich  selbst  zu  besinnen,  sein 
Kulturleben  auch  mit  den  Erzeugnissen  deutschen  Geistes  zu 
befruchten,  dem  germanischen  Volkstume  Aufmerksamkeit  zu 
schenken,  zunächst  in  den  Wissenschaften,  voran  den  Natur-  und 
exakten  Wissenschaften,  weiterhin  aber  auch  bereits  im  wirtschaft- 
lichen Leben.  Man  ist  erstaunt,  heute  so  viele  Italiener  kennen 
zu  lernen,  die  unsere  Sprache,  so  schwierig  sie  ihnen  ist,  ver- 
stehen und  selbst  sprechen,  die  damit  ihre  Hochachtung  für  uns 
und  unser  Vaterland  greifbar  darlegen.  Es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  daß  ein  großer  Teil  der  italienischen  Nation  uns  heute 
aufrichtige  Teilnahme  entgegenbringt,  es  wird  nur  zum  Wohle 
des  deutschen  Volkes  und  des  deutschen  Vaterlandes  sein,  wenn 
wir  unsererseits  uns  noch  mehr  als  bisher  bemühen,  durch  Reisen 
im  Lande  selbst  die  uns  fremde  Landesnatur  verstehen,  dem  uns 
fremden  Volkstume  gerecht  zu  werden  und  damit  die  geistigen 
und  wirtschaftlichen  Bande  zwischen  beiden  Völkern,  welche  auch 
nicht  der  leiseste  Interessengegensatz  scheidet,  deren  Geschicke 
vielmehr  eng  miteinander  verbunden  sind,  um  so  fester  zu  knüpfen. 


2.  Die  sizilische  Frage.  0 

Eine  in  Sizilien  oft  gehörte  Klage,  namentlich  von  Seiten  der 
Gebildeten,  ist  die,  daß  man  ihr  Land  und  den  Charakter  der 
Bewohner  draußen,  das  heißt  vor  allen  Dingen  auf  dem  italieni- 
schen Festlande,  nicht  kenne,  daß  sich  niemand  die  Mühe  gebe, 
es    kennen   zu   lernen,   usw.     Vor    allen    Dingen   hört    man    aber 


l)  Veröffentlicht  1875  in  der  Zeitschrift  „Im  Neuen  Reich".  Diese 
Betrachtungen  erscheinen  mir  heute,  30  Jahre  später,  während  deren  ich  mich 
noch  wiederholt  längere  und  kürzere  Zeit  in  Sizilien  aufgehalten  und  Italien 
ganz  besonders  zum  Gegenstande  meiner  Forschungen  gemacht  habe,  zu- 
nächst im  Lichte  einer  wichtigen  geschichtlichen  Urkunde.  Leider  kann  man 
auch  heute  noch,  wie  die  sich  wiederholenden  Arbeiteraufstände,  die  wirt- 
schaftlichen Krisen,  die  stetig  anwachsende  Auswanderung  und  die  sich  immer 
wieder  erneuernden  erregten  Erörterungen  in  der  italienischen  Kammer  zeigen, 
von  einer  sizilischen  Frage  sprechen  und  sind  diese  Schilderungen  vielfach 
noch  heute  zutreffend,  wenn  auch  manches,  wie  das  Verkehrswesen,  ge- 
bessert ist. 


—    löl    — 

immer  und  immer  wieder  von  einem  Ende  der  Insel  bis  zum 
andern,  in  den  großen  Seestädten  sowohl,  wie  in  den  vergessenen 
und  verlorenen  Ackerstädten  des  Innern  den  Vorwurf,  daß  die 
Regierung  kein  Herz  und  Verständnis  für  die  Insel  habe,  daß 
man  es  nie  in  den  maßgebenden  Kreisen  für  nötig  erachtet  habe, 
aus  eigener  Anschauung  das  eigentümliche  Sonderwesen  der 
Insel,  ein  Ergebnis  ihrer  besonderen  Natur  und  der  Geschichte 
eines  Jahrtausends,  kennen  zu  lernen  und  den  sich  daraus  er- 
gebenden wirklich  berechtigten  Eigentümlichkeiten  in  Anschauungen, 
Wünschen  und  Bedürfnissen  Rechnung  zu  tragen.  Diese  Klage 
ist  leider  nur  zu  berechtigt;  man  lese  nur  die  vertraulichen  Be- 
richte, die  die  Präfekten  in  den  letzten  Monaten  an  ihren  Mi- 
nister gesandt  und  die  dieser  merkwürdigerweise,  um  mich  eines 
noch  parlamentarischen  Beiwortes  zu  bedienen,  zu  veröffentlichen 
keinen  Anstand  nahm.  Ich  habe  mich  selbst  oft  genug  überzeugt, 
daß  die  amtliche  und  gesellschaftliche  Stellung  der  Beamten  in 
Sizilien  eine  sehr  dornenvolle  ist,  kaum  aber  berechtigt  dies  wohl 
das  Haupt  einer  Provinz,  die  gesamte  Bevölkerung  derselben 
als  aus  Dieben,  Räubern  und  Mitgliedern  geheimer  Blutsauger- 
gesellschaften bestehend  zu  kennzeichnen.  Worüber  soll  man 
hier  mehr  staunen,  über  den  Leichtsinn,  die  Oberflächlichkeit, 
die  Ungerechtigkeit  oder  die  Verbitterung  und  den  Mangel  an 
Selbstbeherrschung,  die  aus  diesem  Urteil  sprechen?  Derartige 
Dinge  würden  überall  gerechte  Entrüstung  erregen,  wie  viel  mehr 
bei  einem  Volke  wie  das  sizilianische ,  das  überall  den  eines 
großen  Volkes  würdigen  Zug  hervorkehrt,  daß  es  von  jedem,  der 
mit  ihm  in  Berührung  kommt,  volle  Hingabe  fordert,  und  das 
von  der  langen  spanischen  Herrschaft  außer  anderen  spanischen 
Eigentümlichkeiten  auch  den  spanischen  Stolz  bewahrt  hat. 
Schreiber  dieser  Zeilen  hat  fast  ein  Jahr  in  Sizilien  gelebt,  hat 
wiederholt  die  Insel  durchwandert  und  sich  diese  ganze  Zeit 
ernster  Arbeit  nur  mit  ihr  und  ihren  Bewohnern  beschäftigt  und 
bekermt  offen,  daß  sein  anfänglich  auch  ungünstiges  Urteil  bei 
genauerer  Kenntnis  einem  gerechteren  weichen  mußte.  Es  wird 
wenige  Länder  auf  der  Erde  geben,  die  bei  so  geringer  Aus- 
dehnung in  so  hohem  Grade  jedem  Streben  des  menschlichen 
Geistes  Stoff,  Nahrung  und  Förderung  zu  bieten  vermögen.  Der 
Altertums-  und  Kunstforscher,  der  Botaniker  und  Zoolog,  der 
Volkswirtschaftler    und    Geschichtsforscher,    besonders    bei   philo- 


—       l82       — 

sophischer  Geschichtsbetrachtung,  der  Völker-  und  Erdkundler 
wie  der  Sprachforscher,  jeder  kann  in  Sizilien  sich  reiche  Belehrung 
holen.  Über  kein  Land  und  kein  Volk  wird  man  so  schwer 
urteilen  können,  wie  über  das  sizilianische,  nur  bei  gründlicher 
Kenntnis  seiner  Natur  und  vor  allem  seiner  Geschichte  soll  man 
es  wagen,  und  auch  nur  an  der  Hand  der  Vergleichung ,  mit 
einem  Auge,  dessen  Blick  durch  eigene  reiche  Anschauung  und 
Erfahrung   für   ein  Verständnis    fremden  Volkstums    geschärft   ist. 

Wie  viel  ist  aber  in  dieser  Hinsicht  gegen  Sizilien  gesündigt 
worden!  Jeder  flüchtige  Reisende  hat  in  unserem  vielschreiben- 
den  Zeitalter  den  dringenden  Beruf  gefühlt,  der  erstaunten  Welt 
seine  tiefen  Eindrücke  und  scharfen  Beobachtungen  aufzutischen. 
Es  ist  köstlich,  zu  beobachten,  wie  die  heiße  Natur  von  Land 
und  Leuten  in  Sizilien  auch  auf  das  Gehirn  der  fernen  Reisen- 
den gewirkt  hat:  Maß  zu  halten,  ernst  zu  erwägen,  nach  Grün- 
den und  Erklärungen  zu  fragen,  das  tut  keiner,  alle  bewegen 
sich  in  Extremen.  Der  eine  sieht  nur  Wüsten,  Ungeziefer,  Faul- 
lenzer, Diebe  und  Räuber,  wie  der  Präfekt  von  Caltanisetta ;  der 
andere  findet  nicht  Superlative  genug,  um  dieses  irdische  Para- 
dies und  seine  liebenswürdig-ritterlichen  Bewohner  gebührend  zu 
erheben.  Beiden  hoffe  ich  gleich  fern  zu  bleiben  und  zu  zeigen, 
daß  der  kühle  Kopf  des  nordischen  Forschers  auch  unter  der 
Glut  der  sizilischen  Sonne  seinen  Schwerpunkt  nicht  verloren  hat. 
Sollten  diese  Zeilen  einem  Bewohner  Siziliens,  vielleicht  einem 
jener  Männer,  die  ich  dort  kennen  und  hochachten  gelernt 
habe,  in  die  Hände  fallen,  so  bedarf  es  wohl  kaum  der  Ver- 
sicherung, daß  Schreiber  dieser  Zeilen  ein  aufrichtiger  und  vor 
allem  dankbarer  Freund  des  sizilischen  Volkes  ist,  daß  er  kein 
Wort  geschrieben,  ohne  ernste  Abwägung  und  ohne  es  als  heilige, 
wenn  auch  oft  bittere  Wahrheit  erkannt  zu  haben.  Stets  hat  ihm 
sein  Grundsatz  vorgeschwebt,  den  für  seinen  treuesten  Freund 
zu  halten,  der  ihm  die  Wahrheit  sagt,  ein  Grundsatz,  dem  frei- 
lich in  der  Masse  des  sizilischen  Volkes  noch  einige  Verbreitung 
zu  wünschen  wäre.  Ich  hoffe  bald  Gelegenheit  zu  haben,  in 
umfassenderer  Weise  Sizilien  für  das  hingebende  Entgegenkommen, 
das  mir  von  vielen  seiner  edelsten  Vertreter  zuteil  geworden, 
meinen  Dank  darzubringen.  « 

Sizilien  hat  in  der  letzten  Zeit  mannigfach  die  Augen  der 
Welt  auf  sich  gezogen  und  viele   jener  Krebsschäden,    an  denen 


-     i83     - 

es  noch  immer  leidet,  sind  wieder  einmal  ans  Licht  gezogen 
worden.  Man  hat  bei  Gelegenheit  der  stürmischen  Verhandlungen 
über  das  Sicherheitsgesetz  die  Stimmung  der  Sizilianer  vollauf 
kennen  lernen  können  und  wie  ich  dieselbe  aus  eigener  An- 
schauung in  allen  Teilen  der  Insel  kenne,  ist  leider  zu  fürchten, 
daß  man  mit  der  Untersuchungskommission  und  dem  Antrage 
Pisanelli,  durch  den  man  in  gewohnter  Weise  Zeit  zu  gewinnen 
und  das  glimmende  Feuer  zuzudecken,  statt  es  gründlich  aus- 
zulöschen sucht,  traurigeren  Vorgängen  nicht  vorbeugen  wird. 

Die  sizilische  Frage,  denn  daß  eine  solche  vorliegt,  kann 
man  sich  nicht  verhehlen,  ist  eine  wesentlich  wirtschaftliche,  ge- 
sellschaftliche und  Kulturfrage,  weniger  eine  politische.  Sie  ist 
zu  einer  so  brennenden  geworden  dadurch,  daß  durch  ein 
tückisches  Verhängnis  Italiens  Einheit  von  Süden  nach  Norden, 
statt  umgekehrt,  geschaffen  worden  und  es  bei  der  Weise,  wie 
sie  sich  vollzogen  hat,  unmöglich  war,  ein  edles  Volk,  das  für 
seine  Freiheit  Opfer  gebracht,  einer  Übergangs-  und  Vorbereitungs- 
zeit von  zwei  bis  drei  Jahrzehnten  zu  unterwerfen.  Man  darf 
gewiß  Sizilien,  was  die  Höhe  der  Kultur  anlangt,  nicht  mit  Grie- 
chenland vergleichen,  dennoch  aber  muß  man  sagen,  wenn  man 
jenes  bei  der  besten  aller  Verfassungen  in  beständiger,  mehr 
oder  weniger  latenter  Anarchie  dahinsiechen  sieht,  weil  eben  die 
Masse  des  Volkes  nicht  reif  und  vorbereitet  ist  für  den  Genuß 
jenes  von  anderen  Völkern  in  harten  und  langen  Kämpfen  er- 
worbenen Gutes  der  Freiheit  und  Selbstbestimmung,  sagen,  daß 
in  Sizilien  die  Dinge  nicht  viel  anders  liegen.  Ein  Volk,  das 
unter  dem  geistig  beschränktesten  und  rohesten  Despotismus,  der 
es  absichtlich  mit  allen  Mitteln  von  allen  Segnungen  der  Zivili- 
sation fern  hielt,  ein  halbes  Jahrtausend  geseufzt  hat,  ohne  je  als 
solches  den  Schatten  eines  Rechtes  über  das  geringfügigste  der 
eigenen  Interessen  zu  verfügen,  besessen  zu  haben,  wird  un- 
möglich imstande  sein,  im  Handumdrehen  alle  die  furchtbaren 
demoralisierenden  Folgen  eines  fluchwürdigen  Despotismus  ab- 
zuschütteln und  von  dem  ihm  zustehenden  Rechte  der  Freiheit 
und  Selbstbestimmung,  so  würdig  es  sich  derselben  immer  durch 
große  Taten  gezeigt  hat,  einen  rechten  Gebrauch  zu  machen. 
Sizilien  hätte  einer  eisernen  Hand,  verbunden  mit  einem  liebe- 
vollen und  fürsorgenden  Herzen,  bedurft,  die  beide  mit  Tatkraft 
und  Einsicht  das  Volk    aus    der  Erniedrigung,  in  die  es  Spanier 


-     i84     - 

und  Bourbonen  versetzt,  emporgehoben  hätten.  Die  Verfassung 
ließ  freilich  einem  solchen  Vorgehen  keinen  Raum,  aber  auch 
Tatkraft  und  Einsicht  sind  leider  seit  fünfzehn  Jahren  in  Sizilien 
recht  wenig  von  den  Regierenden  gezeigt  worden.  Es  ist,  wie 
ich  näher  nachweisen  werde,  ungeheuer  viel  für  Verbesserung 
der  Zustände  geschehen,  mehr  als  man  hätte  erwarten  können, 
aber  alles  ging  von  einzelnen  einsichtigen  Männern  aus,  die  aber 
nur  in  einem  engen  Kreise  wirken  koimten;  wo  sie  fehlten,  ist 
denn  auch  wenig  oder  nichts  geschehen.  In  einem  Lande,  wo 
das  Selbstdenken  und  Selbsthandeln  Jahrhunderte  hindurch  als 
das  größte  Verbrechen  von  selten  der  Regierenden  angesehen 
wurde,  wäre  es  Sache  der  neuen  nationalen  Regierung  gewesen, 
überall  die  Initiative  zu  ergreifen,  voran  zu  gehen  und  die  Be- 
völkerung mit  sich  zu  reißen.  Daß  die  italienische  Regierung 
das  nicht  getan,  ist  ein  schwerer  Fehler,  der  sich  jetzt  bitter 
rächt.  Sizilien  befand  sich  noch  1860  tief  im  Mittelalter,  das 
sagt  alles;  durch  den  gewaltsamen  Sprung  in  die  Neuzeit  sind 
alle  Verhältnisse  erschüttert  worden.  Das  Feudalwesen,  obwohl 
längst  abgeschafft,  bestand  tatsächlich  noch  fort,  Volksschulen 
waren  kaum  vorhanden,  Landstraßen  in  schüchternen  Anfängen, 
Eisenbahnen  gehörten  noch  zu  den  fabelhaftesten  Dingen.  Von 
letzteren  gibt  es  jetzt  ungefähr  270  km.  Welch  herrliches  Er- 
gebnis einer  fünfzehnjährigen  Bautätigkeit!  Und  dies  in  einem 
Lande,  wo  es  galt  durch  dieselben  nicht  nur  weite  Striche  des 
Inneren,  deren  Erzeugnisse  keinen  Weg  zur  Küste  hatten  und 
die  deshalb  fast  wertlos  waren,  aufzuschließen,  Handel  und  Acker- 
bau zu  beleben,  sondern  vor  allen  Dingen  durch  gesteigerten 
Verkehr  sittlich  und  wirtschaftlich  zu  heben.  Der  Bau  der  Bahn- 
linien ist  allerdings  ein  schwieriger,  ich  habe  mich  selbst  davon 
überzeugt,  aber  bei  ernstem  Willen  wären  diese  Schwierigkeiten 
längst  überwunden.  Dasselbe  gilt  von  den  Straßen.  Von  593  km 
National-  und  Kommunalstraßen,  die  der  Staat  in  Sizilien  zu 
bauen  hat,  waren  bis  1872  fertiggestellt  252  km,  im  Bau  waren 
288,  projektiert  53.  Von  den  109  zu  bauenden  Brücken  waren 
gebaut  55  und  9  im  Bau,  so  daß  ein  großer  Teil  der  fertigen 
Straßen  für  fünf  Monate  im  Jahr  aus  Mangel  an  Brücken  noch 
unfahrbar  war.  Dies  ist  z.  B.  noch  heute  der  Fall  mit  der  Straße 
von  Palermo  nach  Girgenti,  die  die  Nord-  mit  der  Südküste  ver- 
bindet  und    die    im    Winter    durch    den    angeschwollenen   Platani 


-     i85     - 

durchbrochen  wird.  An  der  parallelen  Eisenbahnlinie,  einer  der 
wichtigsten  der  Insel,  gegen  iio  km,  baut  man  seit  beinahe 
zwölf  Jahren,  ohne  daß  man  die  Vollendung  voraussehen  könnte. 
Man  hatte  überhaupt  von  1860— 1872  für  Straßen-  und  Brücken- 
bau in  Sizilien  aufgewendet  I4y2  ^Million  Lire  und  Sizilien  besaß 
damals  2630  km  Straßen,  so  daß  auf  den  Quadratkilometer  nur 
0,090  km  kamen,  ein  Verhältnis,  das  freilich  von  Sardinien  mit 
0,040  noch  übertroffen  wird,  zur  Lombardei  mit  0,90g,  ja  sogar 
zur  Emilia,  Umbrien  und  den  Marken  mit  0,50g  in  sprechendem 
Gegensatz  steht. 

Wie  es  demnach  mit  den  Verkehrsmitteln  noch  heute  steht, 
sieht  man  am  besten  daraus,  daß  es  auf  der  Südküste  noch  eine 
Stadt  von  20000  Einwohnern  gibt,  es  ist  Sciacca,  die  noch  von 
keiner  Straße  erreicht  wird.  Hier  geschieht  es  nicht  selten,  daß 
ein  Brief  von  der  Provinzhauptstadt  Girgenti,  das  man  durch 
zehnstündigen  Ritt  erreicht,  im  Winter  oft  drei  Wochen  braucht; 
der  Postreiter  wartet  einfach  am  Ufer  der  geschwollenen  Flüsse, 
bis  das  Wasser  sich  verlaufen  hat.  Dazu  kommt,  daß  die  ganze 
Südküste  ohne  Hafen  ist  —  erst  vor  einigen  Jahren  hat  man 
Hafenbauten  in  Porto  Empedokle  und  Licata  begonnen  —  und 
sich  im  Winter  oft  wochenlang  kein  Schiflf  dem  ungastlichen 
Strande  nahen  darf.  Ein  Beispiel  möge  die  aus  solchen  Zu- 
ständen sich  ergebende  Lage  des  Handels  veranschaulichen.  Ein 
großes  Handelshaus  ließ  Waren,  deren  Stadt  und  Umgegend  zum 
täglichen  Leben  dringend  bedurften,  aus  Palermo  kommen.  Durch 
ungünstige  Winde  und  den  Mangel  an  Häfen  —  Trapani  allein 
bietet  auf  der  ganzen  Strecke  Unterkunft  —  brauchte  das  damit 
befrachtete  Schiflf  statt  etwa  zwei  bis  drei  Tage  deren  zweiund- 
vierzig, kam  aber  an  einem  Somiabend  so  spät  an,  daß  die  Ge- 
schäfte bereits  geschlossen  waren  und  es  weit  draußen  auf  offenem 
Meere,  um  nicht  auf  den  Strand  geworfen  zu  werden,  vor  Anker 
o-ehen  mußte.  In  der  Nacht  brach  indessen  ein  Sturm  los  und 
es  blieb  dem  Kapitän  nichts  weiter  übrig,  als  sich  auf  hohe  See 
gegen  Kap  Passero  hin  zu  flüchten.  Nach  sechs  Tagen  erschien 
er  wieder  vor  Sciacca  und  konnte  ausladen;  ehe  er  jedoch  wieder 
volle  Ladung  eingenommen,  brach  ein  neuer  Sturm  los,  der  ihn 
wieder  in  See  zu  stechen  zwang  und  sein  nur  halb  geladenes 
Schiff  in  die  höchste  Gefahr  brachte,  bis  es  endlich  in  einem 
hellen  Augenblicke  gelang,  volle  Ladung  zu  nehmen. 


—     i86     — 

Daß  unter  solchen  Umständen  im  Laufe  von  fünfzehn  Jahren 
selbst  zu  Lande  noch  keine  Verbindung  geschaffen  worden  ist 
und  viele  Gegenden  Siziliens  unter  ähnlichen  Mißständen  leiden, 
ist  ein  schwerer  Vorwurf  für  die  Regierung.  Die  Erzeugnisse  des 
Landes  sinken  im  Werte,  weil  ihre  Ausfuhr  mit  großen  Unkosten 
verbunden  ist  und  die  Steuern  werden  um  so  drückender:  das  Geld 
fließt  hinaus;  nichts  oder  so  gut  wie  nichts  kommt  in  der  Gestalt 
von  gemeinnützigen  Arbeiten  wieder  zurück.  Der  Staat  löste  aus 
dem  Verkauf  der  Güter  der  toten  Hand  in  Sizilien  Millionen 
über  Millionen,  wo  sie  hingekommen,  weiß  keiner,  jedenfalls  nicht 
wieder  nach  Sizilien:  darf  man  sich  da  wundern,  wenn  die  Stim- 
mung der  gesamten  Bevölkerung  in  allen  Schichten  und  allen 
Gegenden  der  Insel,  eine  so  furchtbar  erbitterte  ist,  wie  ich  sie 
gefunden,  so  daß  man  das  Schlimmste  fürchten  muß?  Nur  der 
Umstand  kommt  der  jetzigen  Regierung  zu  statten,  daß  die  bour- 
bonische  noch  schlimmer  war  und  die  Leute  zu  zählen  sind,  die 
noch  an  sie   denken. 

Ich  werde  weiter  unten  ausführen,  in  welchem  ziffernmäßig 
zu  beweisenden  Verhältnis  hier  wie  anderwärts  in  Sizilien  die 
Meilenlänge  der  Straßen  und  die  Zahl  der  Grundbesitzer  zu  der 
öffentlichen   Sicherheit  steht. 

In  dem  Mangel  an  Verkehrsmitteln  und  an  Energie,  wenn 
nicht  an  gutem  Willen,  dieselben  zu  schaffen,  liegt  eine  der 
Hauptursachen  der  üblen  Zustände  auf  der  Insel.  Mit  vollem 
Recht  hat  ein  sizilischer  Abgeordneter  es  aussprechen  köimen, 
daß  man  jetzt  keiner  Ausnahmegesetze  bedürfen  würde,  wenn  die 
Regierung  die  Millionen,  die  sie  Jahr  aus  Jahr  ein  für  die  öffent- 
liche Sicherheit  ausgegeben  hat,  auf  Herstellung  von  Verkehrs- 
wegen und  Unterricht  verwendet  hätte.  Es  ist  damit  der  Nagel 
auf  den  Kopf  getroffen:  mit  Gewalt,  mit  Ausnahmegesetzen,  mit 
mehr  als  50  000  Mann  Soldaten  und  Karabinieri  wird  man  die 
Ruhe,  wenn  auch  nicht  die  öffentliche  Sicherheit  aufrecht  erhalten; 
sobald  man  aber  diese  Gewalt  einmal  nicht  mehr  haben  wird, 
sobald  z.  B.  ein  Krieg  das  Heer  im  Norden  zu  vereinigen  zwingt, 
wird  in  Sizilien  die  furchtbarste  Anarchie  ausbrechen.  Wirkliche 
Besserung  der  Zustände  wird  man  nur  herbeiführen  durch  Ver- 
kehrswege, durch  pflichtmäßigen  Unterricht  und  durch  Umgestaltung 
der  wirtschaftlichen  und  Besitzverhältnisse.  Wie  die  Verhältnisse 
jetzt  sind,  ist  es  völlig  unmöglich,  das  Räuberunwesen  abzuschaffen, 


-     i87     - 

da  man  jeden  Tag  künstlich  neue  schafft.  Eine  Besserung  würde 
allerdings  durch  teilweise  Aufhebung  der  Verfassung,  die  nament- 
lich ein  energisches  Einschreiten  gegen  die  heillose,  verworfene 
Presse  von  Palermo  ermöglichte,  schneller  und  vollständiger  zu 
erreichen  sein,  wenn  man  nur  der  Regierung  nach  den  traurigen 
fünfzehnjährigen  Erfahrungen  Tatkraft  und  guten  Willen  zutrauen 
dürfte. 

Was  die  Unterrichtsfrage  anlangt,  so  muß  man  allerdings 
ein  tätiges  Vorgehen  der  Regierung  anerkennen,  soweit  sie  über 
denselben  zu  verfügen  hat.  Gerade  in  bezug  auf  die  Grundlage, 
den  Elementarunterricht,  sind  aber  ihre  Befugnisse  zu  eng  be- 
grenzt. Nach  dem  bisher  bestehenden  Schulgesetz  hängt  derselbe 
ganz  von  den  Gemeinden  ab,  die  die  Kosten  dafür  aufzubringen, 
die  Lehrer  zu  ernennen  und  zu  bezahlen  haben.  Der  Elementar- 
kursus ist  eingeteilt  in  einen  unteren  und  einen  oberen,  jeder 
zweijährig.  Jede  Gemeinde  von  fünfhundert  und  mehr  Seelen 
muß  eine  Schule  für  Knaben  und  eine  für  Mädchen  errichten, 
für  den  unteren  Grad;  die  Gemeinden  über  viertausend  Seelen 
müssen  zwei  volle  Schulen  einrichten.  Dörfer  unter  fünfhundert 
Seelen  sind  nur  zur  Errichtung  einer  gemischten  Schule  ver- 
pflichtet und  auch  dies  nur,  wenn  fünfzig  Knaben  und  Mädchen 
da  sind,  sie  zu  besuchen.  Natürlich  sind  diese  Bestimmungen 
lange  nicht  beobachtet  worden,  wenn  auch  ein  Fortschritt  sicht- 
bar ist.  In  ganz  Italien  kommt  erst  im  Durchschnitt  auf  620  Ein- 
wohner eine  Schule,  und  während  in  Turin  auf  355  eine  kommt, 
gehören  in  Kalabrien  1400  dazu.  Dasselbe  Verhältnis  ungefähr 
herrscht  in  Sizilien,  nur  ist  der  Gegensatz  zwischen  den  größeren 
See-  und  den  Landstädten  des  Innern,  Dörfer  gibt  es  ja  fast 
nicht,  noch  schreiender.  Der  Lehrer  wird  von  der  Gemeinde  er- 
nannt, muß  aber  vom  Schulrat  der  Provinz  bestätigt  werden,  und 
zwar  wird  der  Vertrag,  wenn  nicht  eine  besondere  Zeit  festgesetzt 
wird,  auf  drei  Jahre  geschlossen;  dann  kann  die  Gemeinde  den 
Lehrer  ohne  Angabe  der  Gründe  entlassen.  Sein  Gehalt  bewegt 
sich  zwischen  fünfhundert  und  zwölf  hundert  Lire! 

Der  Elementarunterricht  ist  pflichtmäßig  und  unentgeltlich, 
vom  sechsten  bis  zwölften  Jahre  und  den  Eltern  drohen  Strafen, 
wenn  sie  die  Kinder  nicht  zur  Schule  schicken.  Diese  Bestim- 
mungen sind  indessen  völlig  wertlos;  das  Gesetz  gibt  nicht  ein- 
mal  an,    wer    die  Strafe    zu  verhängen   habe,    wie   es    angewandt 


—     I««    — 

werden  soll,  usw.  Man  bildete  sich  ein,  es  genüge,  die  Mittel  des 
Unterrichtes  zu  bieten  und  jeder  werde  freudig  darnach  greifen. 
Von  diesem  Irrtum  ist  man  nun  freilich  so  ziemlich  zurück- 
gekommen, wirklichen  pflichtmäßigen  Unterricht  hat  man  aber 
auch  bei  den  letzten  Verhandlungen  im  Parlament,  im  April  1874, 
nicht  durchzusetzen  vermocht.  Es  kommen  noch  immer  nur 
6,06  Schüler  auf  hundert  Einwohner  und  man  kann  sagen,  daß 
sich  nur  ^/^  der  schulpflichtigen  Kinder  einschreiben  lassen,  und 
auch  deren  Schulbesuch  ist  ein  mangelhafter.  In  Sizilien  kommen 
sogar  auf  hundert  Einwohner  nur  zwei  Schulkinder,  und  die 
meisten  besuchen  die  Schule  nur  im  Winter. 

So  begreift  sich  denn  auch  das  Verhältnis  derer,  die  nicht 
lesen  und  nicht  schreiben  können  (Analfabeti).  Die  Zählung  von 
1861  ergab  deren  für  ganz  Italien  78, 29^^,  für  Sizilien  90,13^0, 
die  von  1871  für  Italien  73,27 7q,  für  Sizilien  87,22^/0;  sie  haben 
sich  also  in  zehn  Jahren  in  Italien  nur  um  5,02  y^,  in  Sizilien 
nur  um  2,9 1°/^  vermindert,  was  also  von  keinem  sonderlichen 
Fortschritt  zeugt. ^)  Noch  geringer  wird  derselbe,  wenn  man  die 
einzelnen  Provinzen  und  Städte  betrachtet.  So  steht  z,  B.  die 
Provinz  Caltanisetta  (die  der  großen  Güter  mit  Getreidebau  und 
der  Schwefelminen)  mit  91,67  "/j,  Analfabeti  der  Provinz  Palermo 
mit  80,35%,  der  Bezirk  Caltanisetta  gar  mit  91,70^0  dem  von 
Palermo  mit  73,71^0  gegenüber.  Unter  95224  Einwohnern  eines 
Bezirkes  im  Innern  der  Insel  finden  sich  also  etwa  nur  7900, 
die  eine  Art  von  Schulbildung  genossen  haben,  darunter  die  Be- 
wohner einer  Provinzhauptstadt  von  26  000  Einwohnern,  dem  Sitz 
aller  Regierungsbehörden,  eines  Lyzeums,  eines  Gymnasiums, 
einer  Real-  und  einer  Minenschule!  Dem  entspricht  natürlich 
auch  die  Verbrecherstatistik,  die  in  der  Provinz  Caltanisetta  mit 
einem  Jahresmittel  von  32,38  Morden,  Mordanfällen  usw.  auf 
10  000  Einwohner,    alle  Provinzen  Siziliens  weit   hinter  sich   läßt. 

Es  ist  entschieden  höchst  bedauerlich,  den  Elementarunter- 
richt in  SiziUen  somit  fast  lediglich  dem  Gutdünken  der  Ge- 
meindevertretungen überlassen  zu  sehen.  Wo  Einsicht  und  guter 
Wille    fehlte,   ist  fast  nichts  geschehen,  und  selbst  da,  wo  beide 


l)  Da  seit  1871  keine  statistische  Aufnahme  der  Analfabeti  mehr  vor- 
genommen worden  ist,  so  führe  ich  zum  Vergleich  an,  daß  von  lOO  ins  Heer 
eingereihten   jungen  Männern   1861   Analfabeti  waren  64  7o>    1896:    36,657^0. 


—     189    — 

vorhanden  waren,  bleibt  noch  unendlich  viel  zu  tun  übrig.  Man 
kann  z.  B.  nicht  genug  anerkennen,  welch  ungeheure  Opfer  die 
Stadt  Palermo  für  Schaffung  und  Erhaltung  von  Volksschulen  ge- 
bracht hat.  Es  war  hier  geradezu  alles  erst  zu  schaffen.  In 
den  vorhandenen  sieben  Volksschulen  waren  1200  Schüler  ein- 
geschrieben, davon  besuchten  dieselben  aber  nur  679.  Dies  in 
einer  Stadt  von  damals  194000  Einwohnern!  Die  Stadt  schuf 
1861  — 1862  mit  einem  Male  achtundzwanzig  neue  Schulen,  für 
die  man  aber  die  Lehrkräfte,  zum  Teil  mit  Benutzung  der  alten, 
erst  durch  einen  dreimonatigen  Kursus  vorbereiten  mußte.  So- 
fort wuchs  die  Zahl  der  Schüler  ganz  ungeheuer;  man  schuf 
jährlich  neue  Schulen  und  neue  Klassen,  und  die  2076  Schüler 
von  1861  — 1862,  geteilt  in  sechzehn  Tagesknabenschulen  und 
sechs  Abendschulen,  drei  Mädchenschulen  und  drei  Asyle  für 
Kinder,  waren  bis  1871  — 1872  auf  9023  gestiegen,  die  in 
53  Tages-  und  ;^2  Abendknabenschulen,  in  36  Mädchenschulen, 
für  Stadt  und  Vorstädte,  und  in  20  Tages-  und  25  Abend- 
knabenschulen, wie  2^  Mädchenschulen,  für  den  Landbezirk, 
sowie  in  zwei  Abendschulen  für  erwachsene  Handwerker,  unter- 
richtet wurden.  Die  Zahl  der  Schüler  wird  kaum  seit  1872  noch 
gestiegen  sein,  da  sie  schon  seit  1865  fast  stationär  geblieben,  nur 
die  der  IMädchen  noch  etwas  gewachsen  war.  Das  Verhältnis 
ist  also  für  eine  Bevölkerung  von  jetzt  225  000  noch  immer  ein 
ziemlich  ungünstiges,  wenn  auch  die  Summe  von  400832  Lire, 
die  die  Stadt  1871  — 1872  für  öffentUchen  Unterricht ,  wovon 
265  258  für  Volksschulen,  ausgab,  aller  Ehren  wert  ist.  Der 
Unterricht  lag  in  den  Händen  von  204  Lehrern  und  Lehrerinnen. 
Ich  habe  mit  Absicht  die  Zahl  der  ,, Schulen"  im  einzelnen 
angeführt;  dieselbe  deutet  nämlich  schon  auf  einen  unverzeihlichen 
Mißstand.  Von  besonderen  Schulhäusern  nämlich  ist  für  Volks- 
schulen keine  Rede,  ich  erinnere  mich  nicht,  in  ganz  Sizilien  ein 
zu  diesem  Zwecke  gebautes  Haus  gesehen  zu  haben.  Und  das 
ist  charakteristisch!  Überall  und  besonders  in  Palermo  sah  ich 
zu  Schulräumen  eingerichtet  schmutzige,  elende  Häuser,  meist 
gemietet  für  billigen  Preis,  feuchte,  dunkle  Keller  und  Magazine, 
kurz  Räume,  die  der  Gesundheit  der  Schüler  schädlich,  dem 
Unterricht,  durch  die  Stadt  verstreut,  wie  sie  sind,  hinderlich  sein 
müssen  und  überdies  von  besonderer  Hochachtung  der  Sache 
und  des  Lehrers  nicht  gerade  zeug-en.    Für  Schulbauten  hat  man 


—     igo     — 

natürlich  kein  Geld ;  handelt  es  sich  aber  um  Theater,  so  ist  es 
in  Masse  vorhanden.  Ein  Schulhaus  sah  ich  nirgends,  ein  Schau- 
spielhaus, fast  immer  das  schönste  Gebäude  der  Stadt,  fand  ich 
selbst  im  elendesten  Neste.  In  Syrakus  und  Catania  sah  ich 
mächtige  Theaterbaue  emporwachsen,  wie  sie  in  Deutschland  nur 
die  größten  Städte  aufweisen,  und  in  Palermo  selbst  hat  man  zu 
fünf  vorhandenen  Theatern  eben  ein  neues  Politeama  für  mehr 
als  drei  Millionen  Lire  vollendet ,  bereits  aber  schon  wieder  den 
Grundstein  zu  einem  noch  größeren  und  noch  kostspieKgeren, 
größten  Theater  gelegt.  Dem  entspricht  denn  vollständig,  daß 
ich,  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  einen  höchst  intelligenten 
zehnjährigen  Gymnasiasten,  den  Sohn  eines  hohen  Beamten, 
kennen  lernte,  der  von  einem  Dutzend  Opern  Text  und  Musik 
auswendig  wußte,  alle  Opernhäuser  Italiens  wie  die  Opernsänger 
kannte  und  letztere  sogar  nachzuahmen  verstand,  von  den  aller- 
elementarsten  Dingen  in  bezug  auf  Geschichte  und  Geographie 
seines  Heimatlandes  aber  ganz  und  gar  nichts  wußte.  Ebenso 
sind  mir  reiche  Handelsherren  vorgekommen,  die  Hunderttausende 
besaßen,  aber  nicht  lesen  und  schreiben  konnten  und  in  aller 
Unschuld  fragten,  ob  Frankreich  in  Paris  oder  Paris  in  Frank- 
reich liege.     All  dies  ist  bezeichnend. 

Besser,  man  möchte  fast  sagen  zu  gut,  steht  es  mit  dem 
mittleren  Unterricht,  für  den  Regierung  wie  Gemeinden  in  edlem 
Wetteifer  gesorgt  haben.  Man  zählt  in  Sizilien  auf  eine  Bevölke- 
rung von  jetzt  nicht  ganz  2  700  000  acht  Lyzeen  (Gymnasien), 
32  Gymnasien  (Progymnasien),  2^  technische  Schulen,  neben  einer 
Minen-  und  mehreren  nautischen  Schulen,  die  von  je  403,  1574 
und  1383  Schülern  besucht  werden,  ohne  die  der  städtischen 
Gymnasien  und  technischen  Schulen.  Die  meisten  dieser  Schulen 
sind  neu  errichtet  und  die  Schülerzahl  hat  sich  in  den  zehn 
Jahren  von  1861  — 1871  in  den  Gymnasien  nahezu  verdreifacht, 
in  den  technischen  Schulen  vervierzehnfacht.  Letzteres  ist  be- 
sonders erfreulich  in  einem  Lande,  wo  in  bezug  auf  Bergbau, 
Ackerbau,  Gewerbtätigkeit  usw.  geradezu  noch  alles  zu  tun  ist. 
Die  Zahl  derer,  die  sich  zu  gelehrten  Studien,  wenigstens  Juris- 
prudenz und  Medizin  drängen,  ist  noch  immer  verhältnismäßig  zu 
groß,  wenn  es  auch  nicht  geradezu  zu  einem  nationalen  Unglück 
wird  wie  in  Griechenland.  Namentlich  die  Zahl  der  Advokaten 
ist    unverhältnismäßig    groß   und   leider  verstehen    sich   nicht   alle, 


—     igi      — 

die  ohne  Beschäftigung  bleiben,  zu  einer  anderweitigen  Tätigkeit. 
Viele  sind  Lehrer  der  Geschichte,  der  Naturwissenschaften  u,  dgl. 
an  den  Lyzeen  und  Gymnasien,  nicht  wenige  sind  sogar  an  den 
Universitäten,  als  mit  einem  leidlichen  Nebengeschäft,  mit  Vor- 
lesungen betraut,  die  natürlich  mit  ihrer  Advokatur  durchaus 
nichts  gemein  haben.  Nicht  selten  fand  ich  auch,  daß  selbst 
in  den  höheren  Klassen  ein  einziger  Lehrer  in  allen  möglichen 
Fächern  unterrichtete. 

Es  bleibt  also  auf  dem  Gebiete  des  Unterrichtes,  besonders 
des  elementaren,  noch  unendhch  viel  zu  tun,  und  man  darf  von 
einer  allgemeinen  Verbreitung  von  Schulkenntnissen  bei  einem  so 
außerordentlich  begabten  Volke,  wie  das  sizilianische,  nicht  bloß 
in  bezug  auf  Hebung  der  Moral  und  der  sittlichen  Begriffe,  die 
durch  die  lange  sittenlose  Gewaltherrschaft  in  traurige  Verwirrung 
haben  geraten  müssen,  auf  schöne  Erfolge  hoffen,  sondern  auch 
in  wirtschaftlichen  Dingen  und  im  Ackerbau,  die  bis  jetzt  durch 
klägliche  Unwissenheit  und  geistige  Trägheit  nicht  vorwärts 
kommen. 

Als  die  Hauptquelle  endlich  der  traurigen  Lage  Siziliens 
haben  wir  außer  den  später  zu  berührenden  gesellschaftlichen 
Zuständen  die  ungleiche  Verteilung  des  Besitzes  zu  bezeichnen. 
Es  scheint  der  Fluch  dieses  herrlichen  Landes  zu  sein,  daß,  seit 
die  Karthager,  und  zum  Teil  schon  die  Griechen,  in  noch  höhe- 
rem ]\Iaße  die  Römer  landwirtschaftliche  Großbetriebe  hier  ein- 
führten, sich  die  IMassen  seiner  Bewohner  als  besitzlose  Sklaven 
im  Dienste  einer  kleinen  Zahl  von  Herren  abmühen  müssen. 
Welche  Schicksale  die  Insel  immer  gehabt,  von  welcher  Seite  ihr 
immer  die  Herren  gekommen,  darin  ist  nichts  geändert  worden; 
kaum  daß  unter  den  Arabern  ein  Anfang  dazu  gemacht  wurde, 
so  wurde  durch  das  Feudalsystem  der  Normannen  diese  Un- 
gleichheit größer  denn  je.  Bis  vor  kurzem  bestand  jenes  recht- 
lich fort  und  tatsächlich  besteht  es  noch  heute;  und  noch  heute 
ist  die  Lage  eines  großen  Teiles  des  sizilischen  Volkes  die  von 
Sklaven,  wenn  nicht  schlimmer.  Es  hängt  das  eng  zusammen 
mit  der  Beschaffenheit  von  Grund  und  Boden  und  dem  Bildungs- 
stand der  Bewohner.  Solange  es  nicht  gelingt,  letzteren  zu 
heben,  wirtschaftliche  Kermtnisse  zu  verbreiten,  so  lange  wird  es 
unmöglich  sein  die  Hindernisse,  die  Bodenbeschaffenheit  und 
Natur  eines  großen  Teiles  der  Insel  einer  Erhebung  der  Bevölke- 


—     192     — 

rung  entgegensetzen,  zu  beseitigen,  so  lange  werden  alle  Ver- 
suche auf  künstlichem  Wege  eine  Teilung  des  Grundbesitzes 
durchzuführen,  ohne  durchschlagenden  und  dauernden  Erfolg  sein. 
Es  gibt  noch  heute  in  Sizilien  eigentlich  nur  zwei  Klassen  von 
Bewohnern,  reiche  und  bettelarme,  von  der  Hand  in  den  Mund 
lebende.  Ein  Mittelstand  aus  den  Beamten,  Handel-  und  Ge- 
werbetreibenden, wie  aus  kleineren  Grundbesitzern  bestehend, 
fängt  erst  an  sich  zu  bilden  und  gelangt  bereits  hier  und  da  zu 
Kraft  und  Ansehen:  auf  ihm  ruht  die  Hoffnung  des  Landes,  wie 
die  Klasse  der  Reichen,  hier  fast  noch  ganz  mit  dem  Adel 
gleichbedeutend,  den  Fluch  desselben  bildet.  Von  dieser  Kaste 
später. 

Sizilien  ist  fast  durchaus  ein  Ackerbau  treibendes  Land  und 
der  Getreidebau,  eng  mit  dem  Bestehen  großer  Güter  verbunden, 
überwiegt  noch  immer  bei  weitem  über  Baumzucht  und  Weinbau, 
so  große  Fortschritte  beide  auch  jährlich  mit  der  sich  bahn- 
brechenden Zerteilung  des  Grundbesitzes,  der  Belebung  des  Han- 
dels und  der  Schaffung  von  Verkehrswegen  machen.  Von  den 
2399319  Hektaren  angebauter  Bodenfläche  Siziliens  dienten 
1870  I  908  170  dem  Ackerbau  und,  damit  abwechselnd,  der 
Viehweide ;  hat  sich  dies  nun  seitdem  auch  zu  gunsten  der  Baum- 
zucht geändert,  so  gehört  doch  immer  noch  ^j^  des  ganzen  Lan- 
des dem  Getreidebau,  der  freilich  in  einer  Weise  betrieben  wird, 
die  für  einen  Nordländer  fast  unfaßbar  ist.  Man  bezeichnete  die 
dies  Jahr  zu  erwartende  Ernte  als  eine  ziemlich  günstige,  und 
doch  stand  der  Weizen,  den  man  fast  ausschließlich  baut,  im 
Mai,  kurz  vor  der  Ernte,  allenthalben  so  schlecht,  daß  man  ihn 
wohl  selbst  in  der  Mark  Brandenburg  als  mittelkräftig  bezeichnet 
haben  würde.  Es  wäre  aber  wunderbar,  wenn  es  anders  wäre. 
Es  ist  hier  nicht  am  Platze  zu  sprechen  von  dem  völlig  veralteten 
System  der  Fruchtfolge,  noch  von  der  Art  der  Bearbeitung  des 
Bodens  mit  der  Hacke  oder  dem  klassischen  Pfluge,  der  noch 
immer  wie  vor  Jahrtausenden  aus  einem  langen  Balken  besteht, 
der  vorn  an  das  Joch  der  Zugtiere  befestigt  wird,  und  an  dem 
sich  hinten  in  spitzem  Winkel  eine  hölzerne,  spitzlaufende  und 
mit  Eisen  bekleidete  sogenannte  Pflugschar  ansetzt,  die  ganze 
kostbare  Maschine  durch  eine  Handhabe  gelenkt.  Dünger  ist 
eine  meist  unbekannte  Sache,  dennoch  trägt  der  so  aufgewühlte 
Boden   noch   immer,    dank   seinen  Kalkbestandteilen;    die   Sichel 


—     193     — 

ist   noch   immer   die    einzige  Mäh-,    der  Ochse    die  Drasch-,   der 
Wind  die  Reinigungsmaschine.     Es   genügt   schon,  auf  das  herr- 
schende   Pachtsystem    hinzuweisen,    um    die    Unmöglichkeit    des 
Fortschrittes   zu   begreifen.     Kleine    oder   mittlere    Güter   gibt   es, 
wie  schon  berührt,  nur  in  der  Nähe  größerer  Städte  und  in  ein- 
zelnen  dann    sofort   durch    den  völlig  verschiedenen  Anblick   des 
Landes   und   seiner   Bewohner    erkennbaren    Strichen,    die    große 
Masse   von    Grund    und   Boden    gehört    aber    einer   beschränkten 
Zahl  von  Großgrundbesitzern,     Allein  die  Güter  der  toten  Hand 
betrugen  Yg  der  Insel,  und  mit  ihrer  Zerschlagung  hat  man,  wenn 
auch  nicht  so  viel,  so  doch  etwas  erreicht.    Es  sind  nämlich  diese 
Kirchengüter   bei   ihrem    allmählichen  Verkauf  in  die  Hände  von 
gegen  20000  Privatleuten   gekommen,  was   an    und   für  sich  ein 
recht    schönes    Resultat    sein    würde,    bei    näherer    Untersuchung 
aber  viel  von   seinem  Werte  verliert.     Nicht   selten   nämlich  sind 
zehn,   ja   zwanzig   der  im  Durchschnitt    zehn  Hektar  betragenden 
Lose   in   die  Hände   eines  Spekulanten   gefallen   oder  waren  von 
den  Großgrundbesitzern   zur   Abrundung    und  Vergrößerung   ihrer 
Latifundien   benützt  worden.     Die  Zahl    derer,    die  ohne  Grund- 
besitz gewesen   und    dadurch  solchen    erlangt  haben,  ist  sehr  ge- 
ring, viele   kleine  Bauern,    die  einen  Teil  oder    die  ganze  Kauf- 
summe hatten   leihen  müssen,   gegen  Wucherzinsen  natürlich,   da 
die  Kreditverhältnisse  Siziliens  sehr  übel  bestellt  sind,  sahen  sich 
bald  außerstande,  sowohl  jene  zu  zahlen,  als  das  Gut  ohne  Geld 
zu  bewirtschaften;   sie  mußten  es  bald  wieder  veräußern  und  man 
versicherte  mir  in  verschiedenen  Gegenden,  daß  die  Bildung  von 
Großgrundbesitz  nur  neue  Nahrung  erhalten  habe.     Etwas  ist  in- 
dessen doch  erreicht  worden;    wo  wirkUcher  Kleinbesitz  sich  ge- 
bildet hat,  sieht  man  auch   schon  die  wohltätigen  Folgen,      Län- 
dereien,   die   nie   bebaut   waren,    werden   angebaut,  Wasser,   das 
unbenutzt    ins    Meer    lief  oder    die    Gegend   verpestende    Sümpfe 
bildete,  wird  zur  Bewässerung  verwandt,  Baumpflanzungen,  Wein- 
gärten,   Sumachfelder   grünen,    wo  vorher   kaum   dürftige   Herden 
ihre  Nahrung  gefunden.     Selbst  da,  wo  keine  Zerschlagung,  son- 
dern  nur   ein   Besitz  Wechsel   stattgefunden   hat,    zeigen  sich  noch 
Vorteile,    denn   selbst   in    den   Händen   eines    adeligen   Herrn   ist 
der    Ertrag    erfahrungsmäßig    größer    als    in    denen    der    Kirche, 
Leider  aber  sind  jene  glücklichen  Striche,  wo  solche  wohltuende 
Erscheinungen  zutage  treten,   noch   immer   dünn    gesäet  und  der 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  I3 


-      194     — 

Zeitpunkt  ist  noch  recht  fem,  wo  der  größere  Teil  von  Sizilien 
einzelnen  Gegenden  der  Nord-  und  Ostküste  oder  der  Grafschaft 
Modica  gleicht,  wo  durch  alte  Vorrechte  und  besonders  günstige 
Umstände  eine  ziemliche  Zerteilung  des  Besitzes  stattgefunden 
hat.  Da  gleicht  die  ganze  Gegend  einem  herrlichen  Garten, 
Hügel  und  Tal  sind  bedeckt  mit  Öl-  und  Mandelbäumen,  zwi- 
schen denen  sich  hier  in  koUossalem  Wüchse  der  Johannisbrotbaum 
erhebt,  die  Rebe  bedeckt  weite  Flächen  und  der  Duft  ihrer 
Blüten  vereint  mit  denen  der  Orangen  und  Zitronen  in  geschützter 
wasserreicher  Talmulde,  hüllt  anfangs  Mai  die  ganze  Gegend  in 
würzigen  Wohlgeruch.  Saubere  Städte  mit  schönen,  reingehaltenen 
Straßen  und  großen  Häusern  erheben  sich  in  dem  Walde  von 
Obstbäumen.  Man  sieht  von  fern,  daß  hier  allenthalben  Wohl- 
stand und  Zufriedenheit  herrschen,  das  Aussehen  und  das  Ver- 
halten der  Bewohner  bestätigt  es;  nichts  von  jenen  traurigen,  von 
Hunger  und  Krankheit  verzehrten  Gestalten,  die  in  den  Gebieten 
des  Schwefelbergbaues  das  Mitleid  des  Reisenden  anrufen,  nichts 
von  jenen  magern,  aufgeschundenen  und  mit  Wunden  bedeckten 
Maultieren,  Pferden  und  Eseln,  die  gerade  so  viel  Futter  und  Pflege 
erhalten,  daß  sie  knapp  am  Verhungern  vorbeikommen;  der 
Mensch,  der  selbst  menschlich  leben  kann,  wird  auch  sein  Vieh 
menschlich  behandeln,  Jener  Zug  der  Grausamkeit,  der  infolge 
des  nicht  menschenwürdigen  Daseins,  das  Jahrhunderte  lang  ein 
großer  Teil  des  sizilischen  Volkes  geführt  hat,  unleugbar  sich 
seinem  Charakter  aufgeprägt  hat,  er  tritt  hier  nicht  hervor.  Von 
Räuberwesen  kann  natürlich  in  solchen  Gegenden  nicht  die  Rede 
sein.  Bleibt  schließhch  auch  hier  noch  viel  zu  tun  übrig,  ehe 
sich  der  Anbau  des  Bodens,  wie  die  Schul-  und  sonstige  Bildung 
der  Bewohner  auf  die  Höhe  der  nordischen  Völker  erhebt,  so 
muß  man  doch  beim  Hinblick  auf  dieses  Ergebnis  einer  ver- 
hältnismäßig kurzen  Zeit  Sizilien  und  den  Sizilianern  eine  schöne 
Zukunft  voraussagen. 

Bis  jetzt  freilich  sind  die  eben  geschilderten  Striche  fast  nur 
wie  Oasen  in  der  Wüste  und  der  bei  weitem  größere  Teil  der 
Insel  steht  in  traurigem  Gegensatze  zu  ihnen.  Nur  noch  zwei- 
mal sind  mir  solche  Gegensätze  entgegentreten.  Einmal  an  der 
türkisch-serbischen  Grenze:  hier,  unter  türkischer  Wirtschaft,  ich 
finde  keinen  bezeichenderen  Ausdruck,  einem  Hottentottenkral 
gleichende,  elende  Dörfer,  schlecht  bestellte  Felder,  voll  Dornen 


—      195     — 

und  Unkraut,  kein  Obstbaum,  kein  Gemüsegärtchen,  wohl  aber 
verwüstete  Wälder.  Dort  ein  freundliches  Dörfchen,  dessen  weiße 
Giebel  aus  einem  Walde  von  Obstbäumen  hervorblicken,  gut  be- 
stellte Felder,  fröhliche  Kinderscharen,  tätige  Menschen,  die,  auf 
so  tiefer  Stufe  der  Kultur  sie  auch  noch  stehen  mögen,  doch 
gewaltige  Fortschritte  gemacht  haben  in  der  kurzen  Zeit,  daß  sie 
eine  Herrschaft  abgeschüttelt  haben,  deren  Nochbestehen  in 
Europa  jedem  Europäer,  der  sie  aus  eigner  Anschauung  kennen 
gelernt,  die  Schamröte  ins  Gesicht  treiben  muß.  Und  doch  ist 
es  hüben  wie  drüben  derselbe  Stamm,   dieselbe  Sprache!^) 

Ein  andermal  traf  mich  jener  Gegensatz  leider  nicht  in 
fernen  Ländern,  sondern  in  allzugroßer  Nähe,  im  Herzen  unseres 
Vaterlandes,  in  der  bayrischen  Oberpfalz.  Dort,  am  Südfuß  des 
Fichtelgebirges,  liegen  katholische  und  protestantische  Dörfer 
untereinander:  erstere  ein  Haufen  Holzhäuser,  oft  nur  Hütten, 
unregelmäßig  hingestreut,  man  weiß  nicht  warum  gerade  an  dieser 
Stelle;  Misthaufen  wechseln  mit  den  Häusern,  in  denen  Vieh  und 
Menschen  in  traulicher  Eintracht  zusammenleben.  Kein  Garten, 
keine  Obstbäume,  höchstens  wilde  Kirsch-  und  Birnbäume  stehen 
hier  und  da  umher  und  einer  stiehlt  dem  andern  bei  nächtlicher 
Weile  die  dürftigen  Früchte.  Die  Unmasse  der  treulich  gehalte- 
nen Feiertage,  eine  Land  und  Leute  verderbende  Pest,  wie  ich 
sie  in  Sizilien  nicht  so  arg  gefunden  habe,  pflegt  Aberglauben, 
Trägheit  und  Unsittlichkeit:  der  würdige  Seelsorger,  weit  entfernt, 
durch  höhere  Bildung  und  guten  Wandel  seine  Gemeinde  zu 
sich  emporzuheben,  weiht  die  Zeit,  die  von  Amtspflichten  frei 
bleibt,  meist  dem  Essen,  Schlafen  und  vor  allem  dem  Trinken; 
die  Vorschrift,  die  „heilige"  Messe  nüchtern  zu  lesen,  erfüllt  er 
treu,  indem  er  nach  Mitternacht  vom  Bier  zum  Schnaps  über- 
geht. Eine  halbe  Stunde  davon  liegt  ein  protestantisches  Dorf, 
ehemals  bayreuthisch,  ein  Wald  von  Obstgärten  umgibt  es  und 
der  Gegensatz  zu  jenem  andern  ist  ebensogroß,  wie  er  zwischen 
den  meisten  deutschen  Dörfern,  die  jeder  kennt,  und  dem  ge- 
schilderten sein  muß.^) 


1)  Meine  Anschauung  über  den  Fortbestand  der    türkischen  Herrschaft 
sind  jetzt  wesentlich  andere. 

2)  Beobachtungen  aus  dem  Ende  der  60  er  Jahre.    Möchte  die  Schilde- 
rung doch  den  heutigen  Zuständen  auch  nicht  entfernt  mehr  entsprechen! 

13* 


—      196     — 

Ähnlich  also  in  Sizilien.     Dort  kann  man  in  den  Gegenden 
der  Latifundien  oft  stundenlang  reiten,  Hügel  auf,  Hügel  ab,  ohne 
einen  Baum   oder   ein  Haus    oder   einen  Ort  zu  erblicken,  nichts 
als    schlecht   bestellte  Weizenfelder,    mit    Brache   und    Weideland 
wechselnd,    soweit   man    sehen   kann,    im   Juni   schon   das  Ganze 
einer  verbrannten  Steppe   gleichend.     Die    Orte    liegen   weit   aus- 
einander    und     sind     der     Bevölkerung     nach     alle     ansehnliche 
Städte.     Dörfer,  Weiler   und    einzelne   Häuser   gibt   es  in  Sizilien 
fast  gar  nicht.     Nur    bei  Palermo    und  Milazzo,  an  der  Ostküste 
zwischen    Messina   und    Catania    und    dann   bei  Trapani    und    um 
den  Eryx,  Monte  San  Giuliano,  herum  gibt  es  deren.    Dort  prägt 
sich    nämlich    eine    eigentümliche    Wanderung,     die    auch    schon 
anderwärts   in    Sizilien,    wo    die    öffentliche    Sicherheit    es    erlaubt, 
Straßen  und  Eisenbahnen  dazu  einladen,   bemerkbar  ist,   am  deut- 
lichsten   aus.     Der    alte  Eryx,    die  Hälfte    des  Jahres    auf   seiner 
unzugänglichen  Höhe  in  Dunst  und  Nebel  gehüllt  oder  von  Win- 
den umtost,  hat  in  unserer  Zeit  die  Bedeutung,  die  er  im  Alter- 
tum  und  Mittelalter  hatte,    längst    verloren:    Monte    San  Giuliano 
gleicht  heute  einer  toten  Stadt,  einem  lebendigen  Pompeji,  auch 
nach  Bauart,  Anlage  der  Häuser   und  Straßen.     Alle  Türen  sind 
geschlossen,    kein   Volkstreiben,    wie    sonst    in    den    Städten    des 
Südens,  nur  verhüllte,  der  Sage  nach  schöne,  Frauen  und  Priester, 
nicht  bloß  in  der  Tracht  einander  nahestehend,  huschen  aus  den 
Häusern  durch  die  Stille  der  engen  Gassen  der  nächsten  Kirche 
zu.     Die   Masse    der  Bevölkerung,    besonders    die   männliche,    ist 
tief  unten   in   der   lachenden   Landschaft    auf  den   Feldern    tätig 
und    steigt    spät    am   Abend  oder    erst    am    Sonntag   zur   luftigen 
Höhe  der  Venus  hinauf.     Viele    tun   aber   auch   das   nicht  mehr, 
sie   haben   sich   inmitten   ihrer  Felder  angesiedelt,  weithin  schim- 
mern die  weißen  Häuser  aus  dem  Gefilde  herauf,  bald  vereinzelt, 
bald    sich   schon    zu    Dörfern   gruppierend.     Immer   mehr    steigen 
hinab  und  bald  wird  der  Eryx  mit  seinen  zahlreichen  Kirchen  nur 
noch  eine  Kultstätte  sein.     Ein  ähnlicher  Vorgang  wird  auch  im 
Osten   bald    beginnen;    schon   dringt   die   Eisenbahn   von  Catania 
her    durch    die   östliche  Pforte  des   inneren  Hochsizilien  zwischen 
den   mächtigen  Pfeilern,    auf  denen  Castrogiovanni   und    Calasci- 
betta  liegen,    hinein:    einem  Magneten   gleich  wird    sie  nach  und 
nach    die   wie   Adlernester    auf  hohe   Bergkegel   gebauten    Städte 
Castrogiovanni,  Calascibetta  und  Asaro  zu  sich  herabziehen,  andere 


—      197      — 

dieser  Felsennester  werden  ihnen  folgen  und  sich  im  Tale  auf 
Hügeln,  die  der  kühlende  Seewind  gerade  so  gut  erreicht,  in 
kleine  Ansiedelungen  verstreut  niederlassen. 

Im  Augenblick  freilich  ist  man  von  einer  solchen  allgemeinen, 
einen  folgen-  und  segensreichen  Kulturumschwung  und  -aufschwung 
in  sich  schließenden  Wanderung  noch  sehr  weit  entfernt.  Die 
2700000  Einwohner  Siziliens,  auf  einem  Flächenraum  von 
29  241  qkm^),  bilden  nur  360  Gemeinden  und  daran  haben  wieder- 
um die  sogenannten  116  städtischen  Gemeinden,  d.  h.  diejenigen, 
die  einen  Mittelpunkt  von  6000  und  mehr  Einwohnern  haben, 
eine  Bevölkerung  von  i  840000.  Aber  auch  der  Rest,  die  so- 
genannten ländlichen  Gemeinden  bestehen  meist  aus  Orten  von 
gegen  2000  Einwohnern.  In  dem  Bezirk  von  Aci  Reale,  auf  der 
Ostküste,  wo  die  Bevölkerung  wohl  am  meisten  auf  das  Land 
verteilt,  dabei  außerordentlich  dicht  ist,  kommen  von  11582g 
Einwohnern  immer  nur  20221  auf  das  Land,  während  anderer- 
seits in  den  Provinzen  von  Trapani  und  Caltanisetta  die  Bevölke- 
rungen von  236388  und  230066  in  18,  bezüglich  28  Gemeinden 
und  je  ^2  (ungefähr,  ich  habe  eine  Generalstabskarte  augenblicklich 
nicht  zur  Hand,  ein  Irrtum  kann  aber  nur  gering  sein)  bewohnte 
Orte  verteilt  sind.  Es  kommen  also  auf  einen  bewohnten  Ort  un- 
gefähr 7387,  bezüglich  7190  Einwohner,  während  die  größten 
Städte  Marsala  nur  34  202  und  Caltanisetta  26  156  Einwohner  haben. 
In  diesen  Provinzen  findet  sich  also  auf  ungefähr  130  qkm  erst 
ein  bewohnter  Ort!  Dabei  kommen  im  Durchschnitt  auf  der 
ganzen  Insel  88  Menschen  auf  den  Quadratkilometer,  etwa  doppelt 
so  viel  wie  in  Pommern!^)  Kann  man  den  Zustand  der  Land- 
wirtschaft in  einem  ackerbautreibenden  Lande  besser  charakteri- 
sieren als  durch  diese  Zahlen?  Aus  ihnen  liest  man  auch  schon 
den  Zustand  der  Landbevölkerung  heraus.  Die  große  Masse 
derselben,  also  die  Bevölkerung  der  meisten  dieser  Landstädte, 
von  den  wenigen  Handwerkern  abgesehen,  besteht  aus  ländlichen 


1)  Die  neueren  genaueren  Ausmessungen  geben  nur  25  740  qkm  und 
nach  der  Zählung  von   1901    3  530  000  Einwohner. 

2)  Von  den  312  000  Einwohnern,  welche  die  Provinz  Girgenti  1881 
zählte,  wohnten  nur  4000  nicht  in  großen  geschlossenen  Ortschaften,  meist 
in  den  Schwefelbergwerken.  Auf  der  ganzen  Insel  gab  es  188 1  nur  679 
bewohnte  Orte,  von  denen  nur  48  unter  lOO,  jeder  im  Mittel  3934  Ein- 
wohner zählte! 


—      igS     — 

Arbeitern  und  kleinen  Pächtern,  die  sich  allesamt  für  einen  Speku- 
lanten oder  einen  adeligen  Herrn,  den  sie  nie  gesehen,  abmühen. 
Bei  der  großen  Entfernung  der  Orte  verliert  der  Arbeiter  täglich 
die  besten  Stunden  mit  dem  Wege  von  und  zur  Arbeit;  sind  die 
Felder  noch  entfernter,  so  kehrt  er  nur  noch  Sonntags  oder  nur 
nach  der  Bestellung  und  nach  der  Ernte  heim,  ist  er  Hirt,  so  lebt 
er  das  ganze  Jahr  fern  von  bewohnten  Orten.  Beide,  Landbauer 
wie  Hirt,  überlassen  für  lange  Zeit  Frau  und  Kind  dem  Nichtstun 
und  den  Gefahren  der  Stadt,  sie  selbst  leben  mit  dem  Vieh  und 
wie  das  Vieh  in  offenem  Felde,  oft  dreißig  bis  vierzig  Kilometer 
von  den  Ihrigen,  ohne  einen  Menschen  zu  sehen,  der  ihnen  wohl 
will,  der  sie  erheitert  und  erfrischt,  ohne  Obdach  im  Sommer 
der  glühenden  Sonne,  im  Winter  Sturm  und  Regen  ausgesetzt, 
oft  in  fieberschwangeren  Gegenden.  Der  Mann  haßt  die  Arbeit, 
die  ihn  kaum  nährt,  das  Feld,  das  er  mit  seinem  Schweiße 
düngt,  er  wird,  roh  und  ohne  jedwede  Bildung  aufgewachsen, 
grausam;  als  bezahlter  Knecht  und  Pächter  und  bei  der  Unmög- 
lichkeit, auch  mit  saurem  Schweiße  einmal  ein  Stück  Land  sein 
zu  nennen;  ohne  von  dem  Ertrage  mit  genießen  zu  können,  haßt 
er  den  Besitz  und  den  Besitzer,  auf  Straflosigkeit  darf  er,  un- 
bewacht, wie  er  draußen  ist,  hoffen,  er  greift  nach  dem  Gute  des 
Nächsten,  er  wird  ein  Räuber.  Daher  die  vielen  Gewalttaten, 
die  Brandlegungen  und  Viehdiebstähle.  Der  Landmann,  mit 
seiner  Familie  vereint,  auf  seinem  Besitz  lebend,  wird  bald  die 
Arbeit  und  Sicherheit  lieben. 

Nach  dem  noch  jetzt  fast  durchaus  herrschenden  Wirtschafts- 
system sind  die  großen  Landbesitzungen  allgemein  in  kleinen 
Stücken  auf  ein,  zwei,  drei  Jahre  unter  verschiedenen  Bedingungen, 
je  nach  der  Zahl  der  Bewerber  und  dem  Werte  des  Landes 
verpachtet.  Selbst  zu  bewirtschaften  im  großen  fehlt  es  an  Ka- 
pital und  Neigung,  da  jeder  möglichst  viel  und  immer  mehr  als 
sein  Vermögen  erlaubt  in  Besitz  nehmen  will.  Häufig  treten 
auch  Spekulanten  ein  und  pachten  im  großen,  um  es  dann  im 
einzelnen  wieder  abzugeben  und  mehr  herauszuschlagen.  Viele 
füllen  sich  dabei  den  Beutel,  freilich  auf  Kosten  des  Landes  und 
der  Bauern,  die  beide  ausgesogen  werden.  Der  Pacht  wird  fast 
immer  in  einem  Teile  des  Ertrages  gezahlt,  was  dem  Bauer  zu- 
erst ganz  vorteilhaft  erscheint,  so  nachteilig  es  auch  ist.  Man 
berechnet  für  Sizilien  den  Ertrag  jetzt  im  höchsten  Falle  auf  das 


—      199     — 

achtzehnfache,  im  niedrigsten  auf  das  vierfache,  also  im  Mittel 
auf  das  elffache,  während  nach  der  jetzigen  Pachthöhe  das  Mittel 
das  fünfzehnfache  betragen  müßte,  wenn  der  Bauer  davon  leben  soll. 
Er  erhält  sich  und  die  Seinen  daher  nur  mit  Mühe  und  Not 
durch  Nebenarbeiten  und  kann  seine  dringendsten  Bedürfnisse 
nicht  befriedigen.  Daher  der  elende  Zustand  und  die  tiefe  Ver- 
stimmung dieser  Klassen.  Auch  bei  verschiedenen  anderen  Pacht- 
systemen ist  das  Ergebnis  das  gleiche,  der  Besitzer  oder  seine 
Aufseher  sind  immer  im  Vorteil  und  erfinderisch,  dem  Bauer  alle 
Lasten  aufzuwalzen;  Grund  und  Boden  kommt  bei  solcher  Raub- 
wirtschaft natürlich  immer  mehr  herunter,  da  niemand  an  Ver- 
bessern und  Düngen  denkt;  von  zwanzig  und  sechzehnfachem  Er- 
trage ist  es  schon  hier  und  da  auf  vierfachen  gesunken.  Wenn 
ja  einmal  ein  Pächter  etwas  für  sein  Land  tut  und  gute  Ernten 
erzielt,  so  kann  er  bei  der  für  ein  solches  System  noch  immer 
zu  dichten  Bevölkerung,  auf  zahllose  Mitbewerber  rechnen  und  fast 
sicher  sein,   daß  er  ein  zweites  Mal  die  Pachtung  nicht  erhält. 

Es  sind  aber  diese  Zustände  eine  Folge  des  Feudalsystems, 
das  auch  diese  eigentümliche  Anhäufung  der  Bevölkerung  auf 
einzelnen  Punkten  künstlich  geschaffen  hat.  Im  Interesse  der 
Feudalherren  des  i6.  und  17.  Jahrhunderts  lag  es  nämlich,  große 
Güter  zusammenzulegen  und  ihre  einfachen  Lehen  in  Lehen  mit 
Vasallen  umzuschaffen,  von  denen  sie  höhere  Titel,  größere 
Rechte  und  Einnahmen  hatten.  Durch  Gewährung  von  Vorteilen, 
Erteilung  von  Land  unter  mäßigen  Bedingungen,  im  schlimmsten 
Falle  auch  durch  andere  Mittel  zogen  sie  von  ihren  und  den 
benachbarten  Besitzungen  die  Bewohner  zu  einer  großen  Baronie 
zusammen.  Auf  diese  Weise  sind  im  16.  Jahrhundert  nachweis- 
bar 24,  im  17.  60  der  jetzt  bestehenden  sizilischen  Städte  ge- 
gründet worden,  namentlich  die  im  Innern  und  nach  Südosten 
hin.  Den  meisten  sieht  man  diese  Entstehung  auch  an,  sie  sind 
gerade  und  regelmäßig  angelegt,  ohne  alte  Stadtteile,  die  sich 
nur  in  den  wenigen  älteren  und  den  Seestädten  finden,  meist 
einstöckige  kleine  Häuser;  d.  h.  ein  Dach  und  vier  Wände  und 
die  Türe  zugleich  auch  als  Fenster  dienend. 

Wie  man  nun  die  ackerbautreibende  Bevölkerung,  das  heißt 
eben  die  überwiegende  Mehrzahl  des  sizihschen  Volkes,  von 
diesem  noch  fortdauernden  Fluche  des  Feudalsystems  befreien, 
wie  man  dieselbe  wirtschaftlich  und  sittlich  emporheben  soll,   das 


—       200       — 

ist  eine  sehr  schwer  zu  lösende  Frage.  Selbst  durch  Acker- 
gesetze, wenn  jeraand  bei  den  italienischen  Geldverhältnissen  an 
solche  denken  könnte,  würde  man  wenig  erreichen,  solange  der 
Bauer  sich  nicht  Schul-  und  wirtschaftliche  Kenntnisse  angeeignet 
und  wieder  moralischen  Halt  erlangt  hat.  Das  wird  ihn  das 
Leben  von  einer  besseren  Seite  anschauen  und  an  die  Zukunft 
denken  machen;  er  wird  nicht  wie  bisher,  was  bei  der  Bevölke- 
rung der  Schwefeldistrikte  noch  übler  hervortritt,  bei  einer  guten 
Ernte  mit  mehr  als  südländischem  Leichtsinn  darauflos  leben, 
um  vielleicht  im  nächsten  Frühjahr,  bei  lang  hinausgezogenem 
Winter  und  Mißraten  der  Bohnen,  zu  darben.  Ein  unerläßliches 
Element  aber  von  größter  Bedeutung  fehlt  dem  sizilischen  Land- 
manne, um  ihn  wirtschaftlich  vorwärts  zu  bringen:  das  Vorbild. 
Und  dies  hängt  zusammen  mit  dem  Nochbestehen  einer  dem 
Staate  und  den  Mitbürgern  in  keiner  Weise  dienenden,  deshalb 
gemeinschädlichen  Kaste  des  sizihschen  Adels.  Wie  die  mensch- 
lichen Dinge  beschaffen  sind,  wird  es  wohl  nie  an  einer  Aristo- 
kratie fehlen,  und  ein  auf  Geburt  und  ererbtem  Grundbesitz  be- 
ruhender Adel  wird  noch  bei  weitem  die  beste  sein;  jeder  aber, 
welcher  Nation  er  immer  angehören  mag,  der  einen  Funken  von 
staatsbürgerlichem  Sinn  und  ein  Herz  für  die  Menschheit  hat, 
muß  den  sizilischen  Adel  als  solchen  von  Herzen  hassen.  Gewiß 
zählt  derselbe  in  seinen  Reihen  um  ihr  Volk  hochverdiente  Män- 
ner; wer  nennt  nicht  die  Namen  Torremuzza,  Castelnuovo,  Ser- 
radifalco  mit  Hochachtung  und  Verehrung?  Sie  gehören  aber 
einerseits  der  Vergangenheit  an,  andererseits  wäre  es  wunderbar, 
wenn  eine  so  zahlreiche  Gesellschaft  nicht  stets  und  auch  jetzt 
noch  eine  Zahl  verdienter  und  jeder  Hochachtung  werter  INIänner, 
wie  ich  deren  kennen  gelernt  habe,  aufzuweisen  hätte.  Nach 
einer  mir  vorliegenden,  nicht  mehr  ganz  neuen  Zusammenstellung, 
die  aber  nach  meinen  Beobachtungen  eher  noch  unter  der  Wahr- 
heit bleibt,  gibt  es  in  Sizilien  nicht  weniger  als  120  Fürsten, 
82  Herzöge,  124  Markgrafen,  28  Grafen,  356  Barone  und  era 
ganzes  Heer  von  Sprößlingen  derselben,  die  sich  alle  zum  Adel 
rechnen.  Zu  diesen  kamen  dann  noch  vor  Aufhebung  des 
Feudalsystems  66  geistliche  Würdenträger.  All  diese  schön  be- 
titelten Herren  leben  nun,  mit  wenigen  Ausnahmen,  in  den 
großen  Städten,  vorzugsweise  Palermo  und  Catania  und  haben 
noch   immer,    trotz  der  Abschaffung  der  Feudalrechte,  einen  un- 


—       20I       — 

geheuren  Grundbesitz  in  Latifundien  in  Händen.  Kastengeist, 
Vergnügungssucht  und  zum  Teil  auch  Einwirkung  aus  politischen 
Gründen  seitens  der  Vizekönige  haben  diese  für  das  Land  ver- 
derbliche Auswanderung  veranlaßt,  die  sich  meist  erst  im  vorigen 
Jahrhundert  vollzogen  hat  und  besonders  in  der  Napoleonischen 
Zeit,  wo  der  Hof  und  die  üppige  Königin  Karoline,  Maria  There- 
siens  ungleiche  Tochter,  in  Palermo  weilte,  seine  traurigsten 
Blüten  getrieben  hat.  Die  Folgen  hegen  auf  der  Hand:  die 
Besitzer  der  großen  Güter  überlassen  dieselben  Verwaltern,  in 
deren  meist  nicht  redlichen  Händen  das  Gut  wie  die  auf  das- 
selbe zum  Broterwerb  angewiesene  Bevölkerung  leidet;  der  Ertrag 
fließt,  in  Geld  verwandelt,  in  die  Hauptstadt  und  kehrt  nicht 
mehr  in  die  Provinz  zurück,  dieselbe  verarmt  also  täglich  mehr; 
der  moraUsche  Einfluß  der  Gutsherren,  die  doch  meist  eine 
bessere  Bildung  genossen,  auf  die  Landbevölkerung  verschwand, 
als  dieselben  seltener  und  seltener  auf  ihre  Güter  kamen,  sie 
selbst  wurden  derselben  fremd,  hatten  kein  Herz  mehr  für  ihre 
Lage,  unbekümmert  darum  suchten  sie  möglichst  viel  aus  der 
Besitzung  zu  ziehen,  sie  drückten  die  armen  Bauern;  auch  die 
größeren  Ausgaben,  die  der  Luxus  und  das  üppige  Leben  der 
Hauptstadt  verursachten,  nötigten  sie  dazu.  Auch  die  Landwirt- 
schaft selbst  litt  durch  die  Abwesenheit  der  Herren,  denn  es  gab 
jetzt  niemand  mehr,  der  im  Besitz  höherer  Bildung  und  vor  allen 
Dingen  reicherer  Mittel,  sei  es  nach  eigenen  Plänen,  sei  es  durch 
Nachahmung  dessen,  was  in  anderen  Ländern  geschah,  imstande 
gewesen  wäre,  neue  Systeme  und  neue  Maschinen  einzuführen, 
Versuche  mit  neuen  Kulturfrüchten  oder  dergleichen  mehr  an- 
zustellen und  so,  wie  es  anderwärts  geschieht,  für  eine  ganze 
Gegend  fördernd  zu  wirken.  Es  läßt  sich  ziflFernmäßig  nach- 
weisen, wie  gerade  in  den  Landschaften,  wo  die  größten  Güter 
abwesender  Herren  lagen,  z.  B.  die  der  Erzbischöfe  von  Palermo 
und  Monreale  in  der  Provinz  Caltanisetta  der  Anbau  und  Ertrag 
des  Landes  wie  die  Moral  der  Bevölkerung  am  tiefsten  ge- 
sunken ist. 

Was  taten  nun  die  Herren  in  Palermo  und  Catania  bzw.  in 
Neapel  und  Paris?  Wie  verhielten  sie  sich  nach  Verjagung  der 
Bourbonen,  die  auch  sie  zum  großen  Teil  haßten?  Traten  sie 
in  Staatsdienst,  sei  es  als  Offiziere  oder  als  Diplomaten  oder  als 
politische    und    Verwaltungsbeamte?     Nichts    von    alledem.     Die 


202        

Finger  genügen,  um  diejenigen  sizilischen  Adeligen  aufzuzählen, 
die  irgendwie  dem  Staate  dienen.  Was  tun  sie  also?  Sie  leben 
ihrem  Vergnügen,  sie  gehen  ins  Theater,  machen  Sängerinnen 
und  Tänzerinnen  oder  der  Frau  des  lieben  Nächsten  den  Hof, 
kleiden  sich  an  und  aus,  lassen  sich  die  Haare  kräuseln,  machen 
Besuche,  fahren  spazieren  (reiten  ist  ihnen  zu  anstrengend)  und 
bringen  die  Nacht,  wenn  nicht  wo  anders,  am  Spieltische  zu. 
Die  meisten  sind  ohne  Bildung  und  geistigen  Rückhalt,  viele 
sollen  sogar  völlig  ohne  Schulbildung  sein,  ernste  Studien  oder 
auch  nur  bildende  Bücher  vermögen  sie  also  nicht  zu  beschäftigen. 
Französisch  zu  plappern,  sogar  lieber  als  die  eigene  Mutter- 
sprache, sich  mit  einer  angeborenen  Grazie  und  Liebenswürdig- 
keit in  der  Gesellschaft  zu  bewegen,  das  verstehen  sie  gründlich. 
Ihre  Eitelkeit  ist  ziemUch  bedeutend.  Viele  Familien  sind  natür- 
lich bei  schlechter  Wirtschaft  verarmt  —  reich  im  Sinne  anderer 
Länder  sind  nur  wenige  —  ihr  Stolz  erlaubt  aber  nicht  das  ein- 
zugestehen. Sie  bewohnen  noch  immer  den  großen  Palast,  der 
ihren  Namen  trägt,  von  dem  aber  oft  nur  ein  kleiner  Teil  und 
nicht  selten  dürftig  eingerichtet  ist,  sie  empfangen  deshalb  keine 
Besuche  und  geben  keine  Tischgesellschaften,  aber  Bediente 
haben  sie  noch  und  Wagen  und  Pferde  auch,  sollten  sie  dafür 
auch  noch  so  dürftig  leben  müssen.  Der  Fremde  darf  sich 
daher  freilich  nicht  wundern,  wenn  er  auf  der  öffentlichen  nach- 
mittägigen Spazierfahrt,  an  der  jede  Familie,  die  noch  einen  Rest 
von  Selbstachtung  hat,  unbedingt  teilnehmen  muß,  neben  einer 
kleinen  Zahl  wirklich  schöner  Gespanne,  eine  Menge  alter,  aben- 
teuerlicher Fuhrwerke  mit  Gäulen  davor  sieht,  die  selbst  einem 
Berliner  Droschkenkutscher  -zu  schlecht  wären.  Ein  Bedienter 
sitzt  dabei  auf  dem  Bocke,  der  eigentlich  in  dem  Augenblicke 
in  der  Schule  sitzen  müßte  und  dessen  Anzug  entweder  auf  Zu- 
wachs gemacht  ist  oder  von  dem  etwas  entwickelteren  Vorgänger 
herrührt. 

Lassen  wir  indessen  noch  zwei  Gewährsmännern  in  Schilde- 
rung dieser  Kaste  das  Wort,  die  beide  Ansehen  genug  besitzen 
und  vor  allen  Dingen  den  sizilianischen  Adel  gründlich  kannten. 
Der  eine  ist  der  damalige  Kapitän,  später  namentlich  durch  seine 
Arbeiten  über  das  Mittelmeer  berühmt  gewordene  englische  Ad- 
miral  Smyth,  der  jahrelang  die  englische  Flottenabteilung  in  Sizi- 
lien   befehligte    und    1824    ein    Werk    über   Sizilien   veröffentlicht 


—       203       — 

hat.  Geändert  hat  sich  seitdem  nichts.  Hier  seine  Charakteristik: 
„Einige  wenige  von  den  Adeligen  widmen  sich  den  Staats- 
geschäften und  legen  ziemlich  viel  Talent  und  Scharfsinn  an  den 
Tag.  Die  Mehrzahl  derselben  jedoch  hat  infolge  von  mangel- 
hafter Erziehung  und  ohne  die  Vorteile,  die  das  Reisen  bringt, 
einen  beschränkten  Geist,  der  sie  die  Zerstreuung  und  die  herz- 
losen Vergnügungen  der  Hauptstadt  landwirtschaftlichen,  litera- 
rischen oder  wissenschaftlichen  Bestrebungen  vorziehen  läßt.  Weit 
entfernt,  sich  der  mannigfachen  Schönheiten  der  sizilischen  Land- 
schaft zu  erfreuen,  sind  ihre  Landausflüge,  die  sogenannten 
Villeggiaturen ,  auf  einen  ungefähr  einmonatigen  Landaufenthalt 
im  Frühling  und  im  Herbst  beschränkt,  in  geringer  Entfernung 
von  den  großen  Städten,  wo  in  der  hergebrachten  Weise  mit 
Besuche  machen  und  empfangen,  mit  jenen  eintönigen  Zusammen- 
künften, die  man  conversazioni  nennt,  und  mit  Spiel  hingebracht 
wird." 

Noch  gewichtiger,  freilich  noch  härter  und  über  die  adeligen 
Grundbesitzer  hinausgreifend  ist  das  Urteil  eines  vornehmen  Sizi- 
lianers  selbst,  des  Fürsten  von  Castelbuono.  In  einer  1867  an 
Michel  Chevalier  gerichteten  Denkschrift  über  die  Lage  seines 
engeren  Vaterlandes  sagt  derselbe:  „In  den  Schreibstuben  der 
Notare,  in  den  Apotheken,  in  den  zahlreichen  Gesellschaftsräumen 
im  Erdgeschoß  oder  im  zweiten  Stock,  in  all  diesen  Tempeln 
der  Trägheit  und  der  üblen  Nachrede,  die  von  denen  besucht 
werden,  die  nicht  in  die  Kneipe  gehen,  beschäftigt  man  sich  mit 
nichts  als  mit  Politik.  Der  ans  Ruder  kommende  und  der  ge- 
fallene Minister,  die  Linke  und  die  Rechte,  die  Wighs  und  die 
Tories,  Napoleon  und  Frankreich,  Bismarck  und  Deutschland, 
Rußland  und  der  Orient,  das  sind  die  beständig  an  der  Tages- 
ordnung befindlichen  Fragen  der  geselligen  Zusammenkünfte  von 
Palermo.  Und  wenn  das  Brot  teuer  ist,  das  Mehl  fehlt,  das 
Schlachtvieh  vom  Markte  verschwindet,  wenn  von  der  Vorsehung 
gesegnete  Landstriche  wüst  und  verlassen  sind,  wenn  der  Kredit 
mangelt,  wenn  es  durchaus  an  Geld  fehlt,  so  treibt  all  dies  zu 
nichts  weiter  als  die  Regierung  zu  verwünschen  und  zu  verfluchen 
und  mit  immer  steigender  Wärme  die  großen  Ereignisse  zu  er- 
örtern, die  sich  am  politischen  Horizonte  erheben,  wie  man  hier 
zu  Lande  sagt."  Und  weiter  unten:  ,, Obwohl  der  beklagens- 
werte Mißbrauch  der  Stiftungen  der  toten  Hand  in  Sizilien,  dank 


—       204       —  ' 

den  letzten  italienischen  Gesetzen,  abgeschafft  ist,  so  ist  doch 
eine  andere  Art  toter  Hand,  eine  schreiende  Verletzung  des 
Gesetzes,  das  dem  INIenschen  möglichst  viel  zu  erzeugen  befiehlt, 
dort  unglücklicherweise  noch  sehr  häufig.  In  ihren  von  Wohl- 
gerüchen durchdufteten  Gemächern,  die  Pfeife  in  der  Hand,  ver- 
achten die  großen  Grundbesitzer  mit  wenigen  Ausnahmen  jede 
Art  von  Arbeit.  Nie  würden  sie  zustimmen,  sich  mit  der  Schande 
zu  bedecken,  um  Gelderwerb  zu  arbeiten.  Nach  ihrer  Ansicht 
ist  die  Arbeit  nur  das  Erbe  der  Elenden.  Sie  haben  Sekretäre 
und  Rechtsbeistände,  die  ihre  Geschäfte  führen,  so  gut  es  eben 
gehen  will.  So  sehr  aber  diese  Könige  im  Nichtstun  vor  der 
Arbeit  erröten,  so  stolz  sind  sie  auf  den  idealen  Besitz  ihrer 
Landgüter,  die  sie  gewöhnlich  nie  gesehen  haben  und  die  freie 
Verfügung,  deren  sie  sich  nur  für  eine  möglichst  kurze  Zeit  ent- 
äußern wollen.  Nie  würden  sie  einen  Pachtvertrag  auf  längere  Zeit 
unterzeichnen,  der  den  Pächter  zu  einer  Verbesserung  des  Grund- 
stücks veranlassen  könnte.  Demnach  vermehrt  der  Besitzer  selbst 
die  Erzeugungskraft  der  Maschine,  die  er  in  Händen  hält,  nicht 
allein  nicht,  sondern  er  verweigert  sogar  (was  noch  schlimmer 
ist),  andern  jedes  Mittel  es  zu  tun.  Würde  ihm  übrigens  sein 
Rechtsbeistand  Pachtverträge  auf  25  und  mehr  Jahre  zu  schließen 
raten?  Könnten  nicht  die  Unterpfänder  für  einen  Vertrag  von 
solcher  Dauer  fehlen?  Und  dann,  darf  man  sich  die  Hände 
binden  und  auf  die  Vorteile  eines  möglichen  Steigens  der  Pach- 
tungen verzichten?" 

In  diesen  kurzen  Strichen  deutet  der  Fürst  ganz  richtig  auf 
die  Hauptfehler  seiner  Landsleute  und  besonders  seiner  Standes- 
genossen hin  und  läßt  auf  das  Leben  und  Treiben  der  ,, Gesell- 
schaft" grelle,  aber  richtige  Schlaglichter  fallen. 


3.  Ansiedelung  und  Anbau  in  Apulien. 

Apulien,  eine  der  von  Fremden  am  seltensten  besuchten 
Landschaften  Italiens,  ist  doch  eine  der  eigenartigsten  und  ge- 
schichthch  anziehendsten.  Es  ist  eine  große,  nur  ganz  flache 
Falten  aufweisende  Kalktafel  des  vormiozänen  Appennin,  mit 
diesem  erst  wieder  landfest  verbunden,  nachdem  es  wohl  lange 
Zeit  eine  Insel  gewesen,  durch  eine  in  der  Quartärzeit  eingetretene 


—      205      — 

Hebung,  welche  den  trennenden  Meerann  vom  Golfe  von  Tarent 
bis  zur  Bucht  von  Manfredonia  schloß.  Dieselbe  nahm  nicht 
mehr  teil  an  den  letzten  faltenden  Bewegungen,  welche  die 
großen  Züge  des  Appenninreliefs  schufen.  Sie  erscheint  daher  als 
eine  in  appenninischer  Südostrichtung  250  km  weit  langgestreckte, 
im  Mittel  nur  50  km  breite,  sich  nach  Osten  neigende  einförmige 
Tafel  von  geringer  Höhe,  die  sich  aber  an  der  hohen  Südwest- 
seite über  der  ehemaligen  mit  pliozänen  Schichten  gefüllten  Meer- 
enge meist  in  einem  Winkel  von  lo*^  um  100 — 200  m  steil  er- 
hebt. Diesen  innersten  Gürtel  einer  3 — 400  m  hohen  humus- 
armen, entwaldeten  und  verkarsteten  Kalkhochfläche  pflegt  man 
mit  dem  Namen  Murge  zu  bezeichnen  und  als  Murge  von  Bari, 
im  Nordwesten,  und  Murge  von  Tarent  zu  unterscheiden.  Der 
höchste  Punkt  in  ersterer,  Torre  Disperata  genannt,  erreicht 
686  m.  Das  auch  als  Baudenkmal  berühmte  Castello  del  Monte, 
ein  gewaltiger  Bau  Kaiser  Friedrichs  IL,  einst  ein  Jagdschloß 
mitten  im  Walde,  heute  auf  kahler  Anhöhe  auf  weithin  kahler 
Hochfläche,  liegt  auch  noch  in  540  m  Höhe.  Eine  breite  und 
flache  Einsenkung,  südlich  der  Linie  Tarent-Brindisi,  über  welche 
man,  nur  eine  Höhe  von  42 — 43  m  erreichend,  vom  Golf  von 
Tarent  an  das  Adriatische  Meer  gelangen  kann,  trennt  von  den 
Murge  die  Serre,  die  eigentliche  salentinische  Halbinsel,  den  Ab- 
satz des  Stiefels  von  Italien.  Längs  des  Adriatischen  Meeres 
verschwinden  die  Kreideschichten  zum  Teil  unter  einem  schmalen, 
auch  nicht  ganz  ununterbrochenen,  10 — 26  km  breiten  Saume 
pliozäner  Schichten.  Auch  finden  sich  Pliozänschichten  wie  bei 
Gravina  di  Puglia,  Gioja  del  Colle,  Canosa  u.  a.  m.  noch  hier 
und  da  diskordant  über  den  Kreideschichten,  so  daß  es  scheinen 
will,  als  sei  die  Kreidetafel  einst  in  größerer  Ausdehnung  vom 
Pliozän  bedeckt  gewesen  und  dieses  später  der  Denudation  er- 
legen. Zum  Teil  bedingen  diese  inselförmigen  Reste,  wo  sie  wie 
bei  dem  geradezu  danach  benannten  Acquaviva  delle  Fonti  aus 
durchlässigen  von  undurchlässigen  Tonschichten  unterteuften  Sau- 
den bestehen,  einen  in  dem  wasserarmen  Lande  besonders  wert- 
vollen Wasserreichtum.  Auch  sonst  sind  diese  pliozänen  Reste 
von  großer  Bedeutung.  Die  plastischen  Tone  des  Pliozän,  die 
bei  Ruvo  auftreten,  haben  dort  im  Altertume  eine  bewunderns- 
werte Blüte  der  Keramik  herbeigeführt. 

Die  Wasserarmut  ist  der  hervorstechendste  Charakterzug  Apu- 


— ■      2o6     

liens,  das  schon  Horaz,  der  es  als  sein  Heimatland  gut  kannte, 
siticulosa  Apulia  nennt.  Sie  beruht  darauf,  daß  es  fast  durchaus 
aus  äußerst  durchlässigem  Kalkfels  aufgebaut  ist.  Auf  der  un- 
geheuren Strecke  von  der  Mündung  des  Ofanto,  der  seine  Ge- 
wässer in  den  Appenninen  sammelt,  bis  zum  Vorgebirge  Santa 
Maria  di  Leuca  mündet  auch  nicht  ein  dauernd  fließender  Fluß 
oder  Bach  ins  Meer,  ja  selbst  eigentliche  Talbildung  fehlt  auf 
großen  Flächen  ganz.  Nur  dünn  gesäet  kommen  ganz  flache, 
vorübergehend  einmal  Wasser  führende  Talfurchen  vor,  Lame, 
Mene  oder  Fossi  genannt.  Seen  fehlen  ganz,  wenn  man  von 
den  Küstenhaff'en  und  einigen  wenigen  hier  und  da  einmal  mit 
Wasser  gefüllten  Karsttrichtern  absieht.  Die  Oberfläche  des 
Landes  ist  also  wenig  gegliedert  und  überaus  einförmig.  Nur  in 
einzelnen  Gegenden,  wie  in  der  Umgebung  von  Martano,  Fasano 
und  Ostuni  sind  Dolinen,  hier  vore  oder  sore  genannt,  außer- 
ordentlich häufig,  aber  auch  hier  meist  klein,  Pockennarben  im 
Antlitz  der  Erde  vergleichbar.  Auch  an  Quellen  ist  das  Land 
bei  der  Tafellagerung  der  durchlässigen  Kalkschichten  sehr  arm. 
Längs  des  Meeres  treten  solche  hier  und  da  zutage,  aber  ihr 
Wasser  ist  brackig  und  kaum  zum  Bewässern  zu  brauchen.  Auch 
die  Möglichkeit,  durch  Brunnenbohrungen  Wasser  zu  gewinnen, 
ist,  wie  zahlreiche  und  kostspielige  Versuche  beweisen,  örtlich 
beschränkt  und  nur  da  ist  man  erfolgreich  gewesen,  wo  die  insel- 
förmigen  Pliozänreste  auftreten.  Die  Meteorwasser,  welche  die 
hier  an  der  Ostseite  Italiens,  im  Wind-  und  Regenschatten  der 
Appenninen,  auf  einförmiger  Fläche  fallenden  Niederschläge  lie- 
fern —  sie  kommen  überdies  wohl  meist  vom  Adriatischen  Meere 
her,  und  erreichen  wohl  kaum  500  mm  im  Jahresmittel  — ,  sind 
gering  und  sinken  auf  dem  porösen  Gesteine  rasch  in  unerreich- 
bare Tiefen  hinab,  um  wahrscheinlich  auf  dem  Grunde  des 
Adriatischen  Meeres  wieder  zutage  zu  treten.  Ja,  man  hat  hier 
Sümpfe  trocken  gelegt,  indem  man  dem  an  der  Oberfläche  stag- 
nierenden und  Malaria  erzeugenden  Wasser  durch  Bohrungen 
einen  Weg  in  die  Tiefe  eröffnete.  Höhlen,  vielfach  als  Schaf- 
ställe benutzt,  vom  unterirdisch  fließenden  Wasser  ausgewaschen, 
sind  sehr  häufig. 

Die  Bevölkerung  Apuliens  ist  daher  ganz  auf  Zisternen  an- 
gewiesen und  Trink-  und  Haushaltungswasser  ist  hier  sehr  kostbar. 
Die   ärmere   Bevölkerung    muß    ihr   Trinkwasser    den    öffentlichen 


207       — 

Zisternen  entnehmen,  die  ihr  Wasser  und  damit  eine  Fülle  von  gesund- 
heitsschädlichen Stoffen  von  den  auf  den  öffentlichen  Plätzen  und 
Straßen  fallenden  Regen  erhalten.  Daher  sind  verheerende  Typhus- 
epideraien  in  den  apulischen  Städten  häufig.  Läßt  man  doch  in  Bari, 
mit  7  5  ooo  Einwohnern  der  größten  Stadt  Apuliens  und  einer  reichen 
Seehandelsstadt,  Trinkwasser  mit  der  Eisenbahn  zu  2y,,  ja  5  Cen- 
tesimi  das  Liter  von  Neapel  kommen,  das  es  sich  selbst  erst  durch 
seine  großartige  Wasserleitung  40  km  weit  von  Serino  her  aus 
den  Kalkmassen  des  Appennin  verschafft  hat.  Es  wird  daher  seit 
langem  der  Plan  erörtert,  von  jenseits  der  tyrrhenischen  Wasser- 
scheide die  mächtige  Quelle  des  in  den  Golf  von  Salemo  mün- 
denden Flusses  Sele  von  Capo  Sele  in  der  Provinz  Avellino 
herüberzuleiten,  ein  Werk,  das  der  Wasserversorgung  der  Rauhen 
Alb  zur  Seite  zu  stellen  wäre,  nur  noch  großartiger.  Aber  es 
würde  immer  nur  Trinkwasser  liefern,  während  künstUche  Be- 
rieselung so  dringend  wünschenswert  wäre  und  so  reichen  Ertrag 
geben  würde,  daß  selbst  der  Preis  von  8  Centesimi  für  i  cbm 
Rieselwasser  getragen  werden  könnte.  Vielleicht  Avird  ein  großes 
Stauwerk  am  Ofanto  Abhilfe  schaffen. 

In  diesem  also  in  erster  Linie  geologisch  bedingten  Wasser- 
mangel haben  wir  die  eine  natürliche  Ursache  der  eigenartigen 
Siedelungsverhältnisse  ApuUens,  der  Anhäufung  der  Menschen  an 
wenigen  Punkten,  eben  denen  zu  sehen,  wo  Wasser  vorhanden 
oder  leicht  zu  beschaffen  war. 

Eine  zweite  natürUche  Ursache  ergibt  sich  ebenfalls  aus  dem 
Aufbau  des  Landes  aus  Kalkfels.  Dem  entspricht  eine  geringe 
Mächtigkeit  der  Verwitterungsschicht,  da  Kalkfels,  je  reiner  er 
ist,  bei  chemischer  Auflösung  um  so  weniger  unlösbare  tonige 
Bestandteile  zurückläßt.  Der  Boden  ist  meist  so  steinig,  daß 
man  Apulien  selbst  in  dem  so  häufig  steinigen  Italien  geradezu 
das  steinige  Italien  nennen  könnte.  Die  besten  Gegenden  sind 
diejenigen,  wo  diese  tonigen  Rückstände  der  Verwitterung,  die 
in  den  Mittelmeerländern  so  häufig  auftretende  Terra  rossa,  hier 
Bolo  genannt,  in  größerer  Mächtigkeit  erhalten  sind,  sei  es,  weil 
sie  nicht  abgespült,  vielleicht  sogar  durch  Wind  und  Wasser  zu- 
sammengetragen worden  sind.  Dies  gilt  besonders  von  allen 
niedrig  gelegenen  und  wenig  geneigten  Gegenden  der  Kreide- 
tafel, also  dem  Küstengebiet,  wo  der  Bolo  hier  und  da  5  m 
Mächtigkeit  erreicht,  auch  von  flachen  Einsenkungen.    Namentlich 


—       208       — 

sind,  wie  anderwärts  in  Karstländern,  die  kleinen  Karsttrichter 
der  Hochfläche  bei  Ostuni,  Martina  und  Ceglia  mit  Bolo  gefüllt. 
Auch  die  eigentliche  salentinische  Halbinsel  enthält  eine  aus- 
gedehnte Decke  von  Bolo.  Dagegen  werden  die  Hochformen 
und  die  Hochflächen  frei  von  aller  Verwitterungserde  erscheinen, 
namentlich  seit  sie  entwaldet  worden  sind.  Der  Wind  während 
der  langen  sommerlichen  Regenlosigkeit  und  der  Regen  in  der 
winterlichen  Regenzeit  tragen  alle  gelockerten  Feststoffe  davon. 
Wie  so  heute,  von  ganz  geringen  noch  mit  Wald  bedeckten 
Flächen  abgesehen,  die  eigentliche  Murge,  der  höchste  westliche 
Gürtel  der  Kreidekalktafel,  entwaldet  daliegt,  so  fehlt  ihr  auch 
der  Bolo  und  jede  fruchtbare  Verwitterungsschicht.  Die  Murge 
erscheinen  so  meist  als  eine  kahle,  steinige,  ja  lediglich  aus  an- 
stehendem Kalkfels  gebildete  Hochfläche,  wo  nur  in  den  Spalten 
und  Rissen  und  zwischen  den  Steinen  eine  dürftige  Vegetation 
Nahrung  für  Schafe  bietet. 

Anbau  und  Ansiedelung  mußte  sich  also  auf  diese  Gebiete 
mit  fruchtbarem  Boden   beschränken. 

Es  kam  aber  noch  eine  dritte  Ursache  dazu,  die  die  Men- 
schen veranlaßte,  sich  auf  wenige  Punkte  zusammenzudrängen: 
eine  geschichtliche.  Die  ewigen  Kriege  und  die  allgemeine  Un- 
sicherheit nach  dem  Untergange  des  römischen  Reiches  ver- 
nichteten zahllose  kleinere,  schutzlose  Ansiedelungen,  nur  die 
größten  vermochten  sich  zu  behaupten,  und  in  sie,  hinter  ihre 
Mauern,  in  den  Schutz  ihrer  mächtigen,  meist  flache  Anhöhen 
krönenden  Kastelle  flüchtete  sich  die  Bevölkerung  des  flachen 
Landes.  In  einigen  Gegenden  Apuliens  läßt  sich  das  Verschwinden 
von  Ortschaften  aus  dem  Vorkommen  von  Trümmern  verschiedener 
Art,  Resten  von  Ziegelsteinen,  Scherben,  Gräbern  u.  dgl.  weitab 
von  heutigen  Ansiedelungen  mit  Sicherheit  schließen.  In  gleichem 
Sinne  wirkte  dann  auch  die  Feudalzeit.  Die  Besitzer  großer 
Güter  zogen  künstlich  ihre  Hintersassen  um  ihre  Burgen  zusammen, 
wo  sie  sie  leichter  beherrschen  konnten.  Das  verschaffte  ihnen 
zugleich  höheres  Ansehen,  höhere  Titel.  Manche  der  heute  vor- 
handenen großen  Ansiedelungen,  wahre  Stadtdörfer,  sind  so  ganz 
neue,  willkürliche  Schöpfungen,  bei  denen  kaum  irgendwelche 
geographischen  Bedingungen  mitgewirkt  haben. 

Diese  Umstände  erklären  die  Siedelungsverhältnisse  von 
Apulien,    die   selbst  von    den    in  Italien   herrschenden  abweichen, 


—      2og      — 

am  wenigsten  noch  von  denjenigen  Siziliens,  weil  dort  ähnliche, 
namentlich  geschichtliche  Ursachen  wirksam  gewesen  sind,  aber 
zu  dem,  was  wir  in  Mitteleuropa  gewöhnt  sind,  im  grellsten 
Gegensatze  stehen.  Tatsächlich  gibt  es  in  Apulien  keine  Dörfer 
in  unserem  Sinne.  Nur  in  der  Provinz  Bari  kann  man  von  den 
62  Wohnorten  derselben  fünf  als  Dörfer  bezeichnen,  von  denen  aber 
vier  unmittelbar  bei  Bari  liegen.  Die  wenigen  Meierhöfe,  Ölmühlen 
u.  dgl.  sind  für  gewöhnlich  nur  von  einem  Wächter  bewohnt. 
Die  verstreut  wohnende  Bevölkerung  macht  im  Circondario  Bar- 
letta  2,2  7o.  in  Altamura  4,3 %,  in  Bari  9,7%  der  Gesamtbevölke- 
rung aus,  gegen  27,3%  iii  ganz  Italien.  Fast  die  ganze  Bevölke- 
rung ist  in  Siedelungen  zusammengedrängt,  die  man  nach  ihrer 
Einwohnerzahl  in  Mitteleuropa  als  Städte  bezeichnen  würde,  die 
aber  sonst  unserem  Städtebegriff  wenig  entsprechen.  Es  sind 
Städte,  deren  Bewohner  zum  größten  Teile  Landarbeiter  sind, 
meist  mit  breiten,  geraden  Straßen,  die  von  kleinen  niedrigen 
Häusern  gebildet  werden,  von  einigen  Kirchen  abgesehen,  meist 
ohne  alle  ansehnlicheren  Bauwerke.  Am  Tage,  wo  die  ganze 
männliche  Bevölkerung  und  auch  ein  Bruchteil  von  Frauen  und 
Kindern  auf  den  Feldern  arbeitet,  erscheinen  die  Straßen  wie 
ausgestorben,  im  grellsten  Gegensatze  zu  dem  Menschengewimmel 
am  Abend,  und  besonders  an  Sonn-  und  Feiertagen.  Ein  schmaler 
Saum  von  Gärten  mit  einigen  Landhäusern  und  Gärtnerwohnungen 
umgibt  diese  Ackerstädte,  dann  breitet  sich  unabsehbar,  wenig- 
stens im  Innern  von  Apulien,  in  der  Gegend  von  Minervino, 
Spinazzola,  Altamura,  wo  Getreidebau  und  Weideland  herrscht, 
das  offene  Land  aus,  im  Spätsommer,  wenn  alles  abgeerntet  ist, 
öder  Steppe  ähnlich,  in  welcher  kein  Baum,  kein  Dorf  dem  Auge 
einen  Ruhepunkt  bietet.  An  der  86  km  langen  Eisenbahnlinie 
von  Spinazzola  nach  Gioja  del  Colle  hegen  außer  diesen  beiden 
Orten  nur  noch  die  volksreichen  Städte  Gravina,  Altamura, 
St.  Eramo.  Zwischen  Spinazzola  und  Gravina  trifft  man  auf 
36  km  nur  einige  Meierhöfe.  Das  50000  Einwohner  zählende 
Andria  ist  15  km  vom  nächsten  bewohnten  Orte,  Barletta,  ent- 
fernt! Die  ausgedehnte  Feldflur  dieser  Städte  des  Inneren  zerfällt 
neuerdings,  wo  der  Anbau  des  Bodens  in  Apulien  große  Fort- 
schritte gemacht  hat,  vielfach  in  vier  konzentrische  Gürtel.  Zu- 
nächst um  die  Städte  Gärten,  die  aus  Zisternen  bewässert  werden, 
dann   Haine   von    Fruchtbäumen,    Oliven,    Mandeln  u.  dgl.,  dann 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  I4 


—       2IO       

Getreidefelder,  dann  Weideland  mit  einzelnen  Waldresten.  Es 
prägt  sich  darin  die  mit  der  Entfernung  vom  Wohnorte  immer 
schwieriger  werdende  Verwertung  des  Bodens  aus.  Die  Feld- 
fluren von  Spinazzola,  Gravina,  Altamura  dehnen  sich  auf  20,  25, 
ja  30  km  vom  Orte  aus. 

Das  ganze  Gebiet  der  Murge  ist  sehr  dünn  bevölkert,  ja  auf 
1000  qkm  ganz  unbewohnt.  Was  von  einer  Linie  umschlossen  wird, 
welche  über  die  Städte  Canosa,  Minervino,  Spinazzola,  Gravina, 
Altamura,  St.  Eramo,  Gioja,  Grumo,  Ruvo,  Corato,  Andria,  Canosa 
läuft,  fast  die  Hälfte  der  Provinz  Bari,  ist  fast  siedelungslos. 

Dem  steht  nun  in  grellstem  Gegensatze  das  Küstengebiet 
gegenüber,  in  welchem  sich  die  Menschen  und  die  Siedelungen 
förmlich  drängen.  Auf  der  98,5  km  langen  Küstenstrecke  von 
Barletta  bis  Monopoli  kommt  auf  je  1 1  km  Entfernung  eine 
größere  Küstenstadt  und  dieser  Städtereihe  läuft  im  Inneren  im 
mittleren  Abstände  von  10  km  eine  zweite  Reihe  von  Land-  und 
Ackerstädten  annähernd  parallel  von  Canosa  bis  Castellana,  jede 
mit  ihrer  maritimen  Ergänzung,  wohl  auch  mit  zweien,  durch 
schnurgerade  Straßen,  zum  Teil  schon  Eisenbahnen  verbunden. 
Die  größte  und  in  jeder  Hinsicht  wichtigste  dieser  Seestädte, 
Bari,  ist  in  einem  Halbkreise  von  15  km  Radius  von  nicht  weniger 
als  15  solcher  Ackerstädte  umgeben.  Ja,  verlängert  man  den 
Radius  auf  20  km,  so  erhält  man  22  große  Siedelungen  auf  einer 
Fläche  von  etwa  600  qkm  mit  heute  etwa  260000  Bewohnern. 
Die  Volksdichte  des  Circondario  Bari  wurde  igoi  zu  ig8,  die 
von  Barletta  zu  184,  die  von  Altamura  dagegen,  tiefer  im  Innern, 
zu  75  Köpfen  auf  i  qkm  berechnet,  für  die  ganze  Provinz  Bari 
zu  155.  Aber  diese  große  Volksdichte  ist,  wie  schon  Altamura 
erkennen  läßt,  nur  dem  schmalen  Landstreifen  längs  des  Meeres 
eigen.  Im  Circondario  Barletta  liegen  alle  Siedelungen  bis  auf 
Spinazzola  und  Minervino  auf  einem  Drittel  der  Fläche,  nämlich 
auf  dem  von  der  inneren  Städtereihe  begrenzten  Landgürtel. 
Ebenso  im  Circondario  Bari,  so  daß  von  den  678  968  Bewohnern, 
welche  die  Zählung  von  1881  auf  den  5350  qkm  Fläche  der 
Provinz  Bari  aufwies,  nicht  weniger  als  640000  auf  den  2500  qkm 
dieses  Küstengürtels  wohnten,  also  256  auf  i  qkm,  ja  unmittelbar 
an  der  Küste   300  Köpfe. 

Merkwürdig  ist  aber,  daß  trotz  dieser  Gegensätze  der  Volks- 
dichte im  Küstengürtel  wie  im  Innern  in  beiden  sich  die  Menschen 


211        

in  wenigen  großen  Ortschaften  zusammendrängen.  In  der  ganzen 
Provinz  Bari  gibt  es  nur  62  bewohnte  Orte.  Die  Gemeinden, 
die  hier  meist  nur  von  der  namengebenden  Ortschaft  gebildet 
werden,  sind,  wie  schon  Spinazzola,  Gravina  und  Altamura  er- 
kennen ließen,  sowohl  der  Fläche  ihrer  Feldflur,  wie  ihrer  Be- 
wohnerzahl nach  sehr  groß,  im  Circondario  Bari  fast  doppelt,  in 
Barletta  und  Altamura  etwa  fünfmal  so  groß  wie  im  Durchschnitt 
in  Italien.  Dabei  lebt  aber  die  gesamte  Bevölkerung  der  Städte 
beider  Landgürtel  durchaus  vom  Anbau  des  Bodens  und  der 
Bruchteil,  von  welchem  dies  nicht  gilt,  beschäftigt  sich  mit  der 
ersten  Verarbeitung  der  Bodenerzeugnisse,  Ölbereitung,  Wein- 
bereitung u.  dgl,,  bzw.  mit  Anfertigung  von  Gefäßen  zur  Auf- 
nahme oder  mit  der  Ausfuhr  derselben,  also  mit  dem  Handel 
mit  den  Bodenerzeugnissen  und  allenfalls  der  Zufuhr  von  im 
Lande  selbst  nicht  gewonnenen  Erzeugnissen  des  Gewerbefleißes. 
Doch  fällt  dieser  nur  bei  den  Küstenstädten  ins  Gewicht.  Was 
sonst  an  Gewerbtätigkeit  hier  vorhanden  ist,    ist  völlig  belanglos. 

Dieses  Sichzusammendrängen  der  Menschen  in  wenigen  großen, 
ihre  Bewohner  nach  Zehntausenden  zählenden  Ortschaften  er- 
scheint aber  noch  auffallender  dadurch,  daß  es  Gebiete  mit  grund- 
verschiedener Bodenverwertung  und  infolgedessen  auch  mit  ganz 
verschiedenem  Landschaftscharakter  in  gleichem  Maße  kennzeichnet. 
Jener  so  dicht  mit  Städten  besetzte  Küstengürtel  nämlich  ist  eines 
der  ausgezeichnetsten  Gebiete  mediterraner  Baumzucht,  also  inten- 
sivster Bodenkultur  mit  vorwiegendem  Mittel-  und  Kleinbesitz, 
während  im  Innern  Getreidebau  und  Weidewirtschaft  mit  Groß- 
grundbesitz vorherrscht.  Während  in  Italien  auf  jeden  Grund- 
besitzer im  Durchschnitt  8,68  ha  Land  kommen,  besitzt  in  Alta- 
mura deren  jeder  10,68  ha,  in  Bari  dagegen  nur  4,55  ha.  Gebiete 
der  Baumzucht  werden  im  Mittelmeergebiete  sonst  fast  überall 
durch  Kleinbesitz,  aber  auch  fast  überall  durch  verstreutes  Wohnen 
der  Menschen  gekennzeichnet. 

Man  kann  den  ganzen  Küstengürtel  bis  zur  inneren  Städte- 
reihe in  einer  Breite  von  etwa  15  km  als  einen  ungeheuren 
Fruchthain  von  nahezu  looo  qkm  Flächeninhalt  bezeichnen.  Die 
Mannigfaltigkeit  der  ihn  zusammensetzenden  Fruchtbäume  ist 
groß.  Der  Ölbaum  überwiegt  allerdings  bei  weitem  und  tritt 
allein  in  reinen  Beständen  auf,  die  in  der  ganzen  Provinz  Bari 
98  000   ha    bedecken.     Daneben    spielt    aber    der    Mandelbaum, 

14* 


212       — 

wenn  auch  selten  in  reinen  Beständen,  der  Feigenbaum,  der 
Johannisbrotbaum,  Aprikosen,  Pfirsiche,  Granaten,  Kirschen,  Birnen, 
Äpfel,  Pflaumen,  Mispeln  eine  Rolle.  Selbst  Agrumenhaine  finden 
sich  bei  Monopoli  und  Mola.  Ungeheure  Flächen,  zusammen 
lOOOOO  ha  sind  der  Rebe  gewidmet.  Hier  wird  der  Boden 
sorgsam  bearbeitet  und  gedüngt,  die  Bäume  beschnitten  und  ge- 
pflegt. Meist  sieht  man  davon  ab,  unter  den  Bäumen  noch 
andere  Gewächse  zu  ziehen.  Doch  sind  beträchtliche  Flächen 
dem  Gemüsebau,  Bohnen,  Erbsen,  Kichererbsen  u.  dgl.,  und 
Handelsgewächsen,  wie  Anis,  Kumin,  Fenchel,  Kapern,  Flachs, 
Süßholz  u.  dgl.,  namentlich  früher,  gewidmet.  Zwei  Fünftel  der 
Bodenfläche  der  Provinz  Bari  unterliegen  somit  intensivstem  An- 
bau. Die  Lage  der  landbauenden  Bevölkerung  ist  hier  im  all- 
gemeinen besser  als  sonst  in  Italien. 

Der  uimiittelbar  an  diesen  Küstengürtel  angrenzende  Land- 
gürtel enthält  auch  noch  große  Baumpflanzungen,  aber  sie  sind 
schon  mehr  oasenartig  in  die  Getreidefelder  eingestreut.  Und 
noch  weiter  im  Innern  überwiegen  diese  und  das  Weideland 
durchaus,  nur  um  die  Städte  findet  man  Baumpflanzungen.  Be- 
deutungsvoll ist  aber,  daß  diese  und  der  Weinbau  seit  1870 
große  Fortschritte  auf  Kosten  des  Getreide-  und  des  Weidelandes 
gemacht  haben.  Es  ist  seit  1870  die  mit  Fruchtbäumen  be- 
pflanzte Fläche  in  der  Provinz  Bari  um  60  000  ha  gewachsen. 
Dabei  zieht  man  vielfach  die  Rebe  als  Vorfrucht  für  den  Ölbaum, 
denn  dieser  braucht  zehn  Jahre  und  mehr,  um  vollen  Ertrag  zu 
bringen,  während  dies  bei  der  Rebe  meist  schon  im  dritten  Jahre 
der  Fall  ist.  Auch  nach  dem  Innern  dringt  Baumzucht  und 
Weinbau  immer  weiter  vor,  beide  erobern  immer  größere  Flächen, 
so  um  Altamura,  Gravina  usw.  Die  mit  Getreide  bestellte  Fläche 
ist  etwas  zurückgegangen  und  die  Vieh-,  namentlich  die  Schaf- 
zucht, die,  früher  mit  großen  Vorrechten  ausgestattet,  den  Acker- 
bau erschwerte,  noch  mehr.  Immerhin  aber  rechnet  man,  daß 
etwa  1652  ha  anbaufähigen  Bodens  als  tratturi,  die  breiten  Wege, 
auf  denen  die  Herden  von  den  Winterweiden  zu  den  Sommer- 
weiden und  umgekehrt  wanderten,  aus  den  Abruzzen  bis  vor  die 
Tore  von  Tarent  und  Lecce,  noch  unbenutzt  daliegen. 

Hier  in  Apulien  tritt  uns  daher  auch  die  in  Europa  so 
seltene  Erscheinung  entgegen,  daß  die  ackerbauende  Bevölkerung 
in  den  letzten  Jahrzehnten  gewachsen  ist  und  noch  immer  wächst. 


—      213      — 

Im  Circondario  Altamura  und  auch  noch  in  dem  von  Barletta 
ist  in  der  Zeit  von  1881  —  97  die  landwirtschaftliche  Bevölkerung 
rascher  gewachsen  wie  die  Bevölkerung  im  allgemeinen. 

Der  Boden  Apuliens  eignet  sich  vorzüglich  zur  Baumzucht, 
besser  als  für  Getreidebau,  ganz  wie  in  Mittel tunesien,  wo  der 
Getreidebau  so  häufigen  Mißernten  durch  Ausbleiben  der  Regen 
unterUegt,  daß  man  nur  jedes  vierte  oder  fünfte  Jahr  auf  eine 
volle  Ernte  rechnen  kann,  während  Baumzucht  im  Sahel  (dem 
Küstengebiete)  noch  heute  reichen  Ertrag  bringt  und  durch  Baum- 
zucht in  spätrömischer  Zeit  dieses  öde  Steppenland  der  Gegen- 
wart in  jenes  reiche  Kulturland  verwandelt  worden  war,  von 
dessen  Blüte  noch  heute  die  Trümmer  zeugen,  mit  denen  es 
übersäet  ist.  Apulien  besitzt,  wie  schon  hervorgehoben,  vor- 
wiegend Kalkboden  der  Kreideformation.  Hier  und  da  sieht 
man  mitten  in  den  Feldern  und  Fruchthainen  unbebaute,  fast 
kahle  Felsflächen.  In  andern  Gegenden  sind  die  Kalkbrocken 
zu  Trockenmauem,  Wällen  und  Steinhaufen  zusammengetragen. 
Im  Innern  bei  Gravina,  Altamura,  St.  Eramo  finden  sich  in  den 
sogenannten  Matine,  flachen,  von  felsigen  Höhen  umschlossenen 
Becken  tonige  Bodenarten,  die  sich  am  besten  für  Getreidebau 
eignen,  aber  weil  dort  Großgrundbesitz  herrscht,  noch  vielfach 
nur  als  Weideland  dienen.  Im  allgemeinen  eignet  sich  Apulien 
bei  der  geringen  Mächtigkeit  der  Verwitterungsschicht,  der  Steinig- 
keit des  Bodens,  der  die  Verwendung  des  Pfluges  nicht  erlaubt, 
und  wegen  der  herrschenden  Trockenheit  wenig  für  Gewächse, 
deren  Wurzeki  nicht  tief  gehen.  Die  Bäume  dagegen  und  die 
Rebe  treiben  ihre  Wurzeln,  wenn  es  zunächst  auch  schwierig  ist, 
sie  anzuflanzen,  in  die  Tiefe,  wo  sie  in  Spalten  und  Klüften 
Feuchtigkeit  und  fruchtbare  Terra  rossa  finden. 

Die  Übelstände,  welche  diese  eigenartigen  Siedelungsverhält- 
nisse  hervorrufen,  sind  groß  und  augenfällig.  Zunächst  vergegen- 
wärtige man  sich  den  Verlust  an  Zeit  und  Kraft,  wenn  die  Land- 
arbeiter täglich  zweimal  2 — 3  Stunden  zu  gehen  haben,  um  an 
die  Arbeitsstätte  zu  kommen!  Frauen  und  Kinder  sind  dadurch 
geradezu  von  der  Mitarbeit  ausgeschlossen.  Die  Erwerbstatistik 
läßt  erkennen,  wie  wenig  sich  die  Frauen  an  der  Feldarbeit  zu 
beteiligen  vermögen.  Es  verhielten  sich  1881  die  an  der  Feld- 
arbeit beteiligten  Frauen  zu  den  Männern  über  15  Jahre  im  Cir- 
condario Bari  wie   i  :4,  in  Altamura  wie   i  :4,8,  in  Barletta  wie 


214      — 

I  :  lO,  während  für  ganz  Italien  das  Verhältnis  wie  i  :  1,76  war! 
Bei  dem  Wohnen  weit  ab  von  den  Feldern  ist  es  dem  Land- 
arbeiter unmöglich,  einen  Nebenerwerb  durch  Halten  von  Geflügel, 
Schweinen  u.  dgl.,  durch  etwas  Gartenbau  zu  erzielen.  Die 
Frauen,  denen  dies  obliegen  würde,  sind,  da  sie  durch  Hand- 
arbeiten täglich  kaum  35 — 40  Centesimi  zu  erwerben  vermögen, 
vielfach  geradezu  zur  Untätigkeit  verurteilt.  Dies,  wie  die  Ab- 
wesenheit der  Männer,  führt  weiter  zu  schweren,  sittlichen  Schäden. 
Der  Landarbeiter  ist  also  genötigt,  seinen  ganzen  Lebensunterhalt 
zu  kaufen.  Dabei  wird  jeder  Gegenstand  durch  die  städtische 
Mauth,  die  vorzugsweise  von  Nahrungsmitteln  erhoben  wird  imd 
die  Haupteinnahme  der  Städte  bildet,  die  also  von  den  Armen 
erpreßt  wird,  wesentlich  verteuert.  Der  Landarbeiter  wohnt  natur- 
gemäß in  den  Städten  teurer,  schlechter,  ungesunder.  Die  Sterb- 
lichkeit unter  denselben,  namentlich  unter  den  Kindern,  ist  daher 
größer  als  sonst  in  Italien.  Schließlich  bringt  dies  Zusammen- 
wohnen große,  soziale  Gefahren.  Es  ist  bei  der  leichten  Erreg- 
barkeit des  Italieners  nicht  schwer,  in  Zeiten  der  Not  hier  Auf- 
stände dieser  armen,  ungebildeten,  zusammengedrängten  Menschen- 
massen hervorzurufen.  Die  Greuelszenen,  die  so  im  Mai  1898 
in  Minervino  Murgie  sich  abspielten,  sind  noch  in  frischem  An- 
denken. Vermag  doch  der  Feldarbeiter  in  Apulien,  wenn  er  alle 
irgendwie  möglichen  Tage  ausnutzt,  nur  300,  im  äußersten  Falle 
400  Lire  im  Jahre  zu  verdienen.  Da  die  Frau  allerhöchstens 
noch  100  Lire  hinzuzuverdienen  vermag,  so  muß  also  eine  ganze 
Familie  von  400 — 500  Lire  jährlich  leben.  Das  ist  selbst  für 
Apulien  zu  wenig! 

Gewiß  hat  man  in  der  Neuzeit  daran  gedacht,  diesen 
schweren  Übelständen,  die  dies  Zusammendrängen  einer  land- 
bauenden Bevölkerung  weit  ab  von  dem  zu  bebauenden  Lande 
zur  Folge  hat,  abzuhelfen  und  die  Landarbeiter  aus  den  Städten 
hinaus  über  neu  zu  gründende  Dörfer  und  Meierhöfe  inmitten 
der  Felder  zu  verstreuen.  Die  Neugründung  solcher  Ansiede- 
lungen wird  aber  durch  die  Wasserfrage  außerordentlich  er- 
schwert, die  nur  gelöst  werden  könnte  durch  Anlegung  zahl- 
reicher und  großer  Zisternen  im  Felsboden.  Dazu  fehlen  aber 
dem  Mittel-  und  Kleinbesitzer  die  Mittel  und  bei  der  heutigen 
Lage  der  Landwirtschaft  der  rechte  Ansporn.  Gegenüber  der 
Macht    der  Gewohnheit  wird    es    daher  wohl   noch   lange  dauern, 


—      215      — 

ehe  in  Apulien  (wieder?)  Dörfer  entstehen  werden.  Wir  haben 
also  hier  eine  der  zahlreichen  großen  Aufgaben  vor  uns,  vor 
deren  Lösung  der  junge,  wenig  geldkräftige  italienische  Staat 
gestellt  ist. 

4.  Land  und  Leute  in  Korsika.^ 

Von  der  in  den  verschiedensten  Hinsichten  anziehenden 
Doppelinsel  Sardinien-Korsika  wird  neuerdings  das  landnähere, 
von  Livorno  und  Nizza  aus  leichter  erreichbare,  auch  durch  die 
französische  Verwaltung  besser  aufgeschlossene  Korsika  immer 
häufiger,  namentlich  von  Deutschen,  besucht,  wenn  auch  meist  nur 
Ajaccio  als  winterliche  Zufluchtsstätte.  Da  nun  über  die  Insel, 
wenn  wir  von  Gregorovius'  wundervollen,  aber  nun  schon  etwas 
älteren,  auch  mehr  geschichtlichen  Schilderungen  absehen,  nicht 
viel,  oder  wenigstens  nicht  viel  Zuverlässiges  weder  in  deutscher 
noch  in  einer  anderen  Sprache  geschrieben  worden  ist,  so  dürften 
die  nachfolgenden  Beobachtungen  und  Studien  des  Verfassers 
manchem  Leser  erwünscht  sein. 

Ringsum  aus  tiefem  Meere,  mitten  aus  der  tiefen  Hohlform 
der  Erdrinde,  die  mit  Salzwasser  gefüllt  uns  heute  als  Nordwest- 
becken des  Mittelmeeres  erscheint,  erhebt  sich  Sardinien-Korsika. 
Es  ist  diese  Doppelinsel,  deren  Zusammenhang  nur  durch  die 
schmale  (12  km  breite)  und  flache  Meerenge  von  San  Bonifacio 
verhüllt  ist,  die  aber  nach  allen  ihren  geographischen  Verhält- 
nissen als  zusammengehörig  erscheint,  das  größte  Trümmerstück 
einer  alten  Festlandsscholle,  die  in  einer  geologisch  naheliegen- 
den Vergangenheit  bei  Bildung  jener  Hohlform  durch  zentripetale 
Bewegungen  dieses  Teils  der  Erdrinde  zertrümmert  wurde.  Da 
auf  ihre  Kosten  im  wesentlichen  das  Tyrrhenische  Meer  ent- 
standen ist,  so  hat  man  für  dies  alte  Land  die  Bezeichnung 
Tyrrhenis  eingeführt.  Zu  derselben  gehörten,  abgesehen  von 
Kalabrien  und  Nordostsizilien,  auch  die  toskanischen  Inseln  und 
Teile  von  Toskana,  die  durch    spätere  Vorgänge  dem  Festlande 


i)  Erschienen  in  der  Deutschen  Rundschau  Febr.  1899.  F.  Ratzel  hat 
ohne  Kenntniss  meines  Aufsatzes  im  Juliheft  der  Annales  de  Geographie  1899 
auf  Grund  von  zwei  längeren  Aufenthalten  in  Korsika  1898  und  1899  eine 
anthropogeographische  Studie  über  Korsika  veröffentlicht,  in  französischer 
Sprache,  übersetzt  von  Zimmermann. 


2l6       — 

von  Italien  einverleibt  worden  sind.  Italien  liegt  denn  auch 
Korsika  am  nächsten,  die  toskanischen  Inseln  verbinden  es  mit 
demselben.  Korsika  gehört  also,  wie  Sardinien,  zu  dem  Lande 
Italien,  wenn  es  auch  seit  beinahe  anderthalb  Jahrhunderten  dem 
geographisch  nächstberechtigten  Staate  Frankreich  durch  Waffen- 
gewalt angegliedert  worden  ist.  Immerhin  haben  die  Lotungen 
der  italienischen  Kriegsmarine  festgestellt,  daß  die  Flachsee,  auf 
welcher  die  toskanischen  Inseln  liegen,  nicht  nach  Korsika  hin- 
überreicht, sondern  durch  eine  Rinne  mit  Tiefen  von  über  400  m 
von  der  Insel  getrennt  ist.  Da  das  Nordwestbecken  des  Mittel- 
meeres ringsum,  außer  zu  beiden  Seiten  des  Ostendes  der  Pyre- 
näen, von  durch  Faltung  der  jüngeren  Schichten  der  Erdrinde 
gebildeten  Kettengebirgen  umgeben  ist,  so  ragt  also  Sardinien- 
Korsika  aus  demselben  als  ein  fremdartiges  Gebilde  inmitten 
dieses  Wirbels  jugendlicher  Faltengebirge  auf.  Dies  Fremdartige 
wird  jeder  geographisch  und  naturwissenschaftlich  Gebildete  bei 
einigermaßen  aufmerksamer  Beobachtung  beim  Betreten  dieser 
Inseln  bald  feststellen,  von  welchem  Punkte  des  umgebenden 
jungen  festländischen  Faltenlandes  er  immer  kommen  mag,  dem 
alpinen,  dem  appenninischen,  dem  atlantischen,  dem  andalusischen 
oder  pyrenäischen.  Von  wo  immer  er  eine  der  beiden  Inseln, 
aber  namentlich  Korsika,  betritt,  wird  er  feststellen,  daß  er  hier 
ganz  andere  Gebirge,  Oberflächenformen,  Fels-  und  Bodenarten 
vor  sich  hat,  wie  auf  dem  eben  verlassenen  Festlande.  Und 
dringt  er  tiefer  ein,  so  stellt  er  durch  Beobachtung  fest,  daß  auch 
die  Pflanzenwelt,  wenn  sie  auch  naturgemäß  alle  wesentlichen 
Züge  der  Mediterranflora  aufweist,  manches  Eigenartige,  die  Tier- 
welt und  selbst  der  Mensch  altertümliche  Züge  aufweist,  die  auf 
längere  Absonderung  schließen  lassen.  Nur  hier  ist  in  ganz 
Italien  der  Damhirsch  noch  wild  erhalten,  ebenso  das  früher  weit 
verbreitete  Wildschaf,  der  Mufflon.  Das  Wildschwein  hat  so 
eigenartige,  an  das  ausgestorbene  Sus  palustris  erinnernde  Züge 
entwickelt  oder  erhalten,  daß  manche  Zoologen  es  als  besondere 
Art  unterscheiden  möchten.  Pferde,  Esel  und  Rinder  werden 
durch  ihre  geringe  Größe  gekennzeichnet.  Auch  die  Bewohner 
sind  fast  unberührt  geblieben  von  den  großen  Bewegungen  des 
Festlandes,  die  die  Völker  untereinander  geworfen,  aber  auch 
die  Gesittung  gefördert  haben.  In  ihren  Sitten,  ihren  Einrich- 
tungen, ihrer  Sprache  selbst  hat  sich  viel  Altertümliches  erhalten, 


—       217       — 

das  auf  dem  Festlande  längst  vergangenen  Zeiten  angehört. 
Sardinien  besitzt  sogar  in  seinen  Nuraghi  ganz  eigenartige  vor- 
geschichtliche Denkmäler,  mit  denen  die  auf  den  Balearen  und 
auf  der  Insel  Pantelleria  zwischen  Sizilien  und  Afrika  erhaltenen 
nur  eine  sehr  entfernte  Ähnlichkeit  haben.  Sie  gleichen  Wart- 
türmen, aber  über  ihren  Zweck  und  ihre  Erbauer  hat  bis  heute 
noch  kein  Forscher  Aufschluß  zu  geben  vermocht.  Auch  Korsika 
besitzt  in  seinen  sogenannten  Stazzone  und  Stantare  noch  vor- 
geschichtliche Denkmäler,  die  man  aber  wohl  mit  den  Dolmen 
und  Menhir  vergleichen  kann. 

So  bedeutende  Abtragung  Korsika  auch  durch  die  zerstören- 
den Kräfte  des  Luftkreises  während  der  langen  Zeit,  die  es 
nicht  vom  Meer  bedeckt  gewesen  ist,  erfahren  hat,  so  ragt  es 
doch  noch  immer  als  alpines  Hochgebirge  mitten  aus  dem  Mittel- 
meere auf  zu  Höhen,  die  selbst  in  den  Alpen  noch  ansehnliche 
sind,  im  Mittelmeergebiet  aber  zu  den  größten  gehören.  Erreicht 
doch  der  Monte  Cinto  2707  m.  Sein  Gipfel  ragt  also  um  bei- 
nahe 6000  m  von  der  Sohle  des  Mittelmeeres  auf! 

Aus  Granit  ist  die  Insel  zum  großen  Teil  aufgebaut.  Hart 
und  rauh  wie  dieses  Gestein  sind  ihre  Formen,  dunkel  ihr 
Pflanzenkleid,  ernst  der  Charakter  der  Landschaft.  Und  ernst, 
zurückhaltend,  hart  und  gewalttätig  sind  auch  meist  die  Men- 
schen, wenig  fähig  der  Freude,  um  so  mehr  dem  Schmerz  und 
der  Leidenschaft  Ausdruck  zu  geben.  Melancholisch  sind  ihre 
Gesänge.  Schwarz  ist  die  beliebteste  Farbe  der  Frauen,  die  doch 
sonst  im  Süden  so  g^oße  Vorliebe  für  bunte,  leuchtende  Gewänder 
haben.  Nur  Männer,  die  sich  durch  kriegerische  Taten,  durch 
Mut,  Kühnheit  und  Selbstverleugnung  ausgezeichnet  haben,  hat 
die  rauhe  Insel  hervorgebracht,  keine,  die  die  menschliche  Ge- 
sittung, die  Kunst  oder  die  Wissenschaft  gefördert  haben. 

Nur  an  der  Südspitze,  aber  in  sehr  geringer  Ausdehnung, 
in  größerer  an  der  Nordostseite,  sind,  einen  meridionalen  Rücken 
und  gleichsam  den  Stil  der  Insel,  die  Halbinsel  des  Kap  Korso 
bildende  Schichtgesteine,  besonders  der  Kreideformation,  mit  be- 
deutenden Serpentindurchbrüchen  dem  granitischen  Inselkerne 
angelagert  und  rufen  dort  wesentlich  mildere  Oberflächenformen, 
besseren  Anbau,  dichtere  Bevölkerung  und  mildere  Sitten  hervor. 
Aber  die  Küste  der  Ostseite  ist,  außer  im  äußersten  Süden  und 
im    äußersten    Norden,    von    einer    schmalen    Schwemmland  ebene 


2IÖ        — 

gebildet,  die  hier  an  der  Leeseite  der  Insel,  der  den  stürmischen 
Südwest-  und  Westwinden  und  dem  heftigen  brandenden  Meere, 
die  die  weit  geöffnete  Rias  der  Westseite  geschaffen  haben, 
abgekehrten  Seite,  die  größten  P'lüsse  Golo  und  Tavignano 
mit  ihren  Sinkstoffen  angelagert  haben.  Dieselbe  verläuft  daher 
fast  geradlinig,  ist  flach,  von  Haffen  und  Sümpfen  begleitet,  fieber- 
schwanger und  ungastlich.  Wäre  nicht  im  Süden  der  Porto  Vecchio 
genannte  herrliche  Naturhafen,  der  freilich  im  Sommer  der  Malaria 
wegen  fast  unbewohnbar  ist,  im  Norden,  nahe  dem  Punkt  der  größ- 
ten Annäherung  ans  Festland,  die  kleine  Bucht  von  Bastia,  so 
kehrte  in  der  Tat  Korsika  Italien  völlig  den  Rücken,  Bastia  ist 
zu  allen  Zeiten,  vor  Bastia  das  nahe  gelegene  Biguglia,  noch 
früher  Aleria  hier  an  der  Ostküste  das  Organ  gewesen,  durch 
welches  Korsika  den  Verkehr  mit  Italien,  namentlich  Genua  und 
Livorno  unterhalten  hat  und  noch  heute  unterhält.  Hier  legten 
die  Genuesen  auf  steilem  Felshügel  über  der  kleinen  Hafenbucht 
eine  Festung  an,  die  dem  Orte  den  Namen  (Bastei)  gegeben  hat. 
Die  kleine  Bucht  selbst  dient  heute  nur  noch  Fischerbooten,  durch 
gewaltige  Steindämme  ist  ihr  ein  geräumiger  Hafen  vorgebaut 
worden,  der  nur  den  einen  unverbesserlichen  Nachteil  hat:  wenn 
der  Mistral  sich  von  den  steilen  Höhen  des  Kap  Korso  in  wüten- 
den Stößen  herabstürzt,  kann  kein  Schiff  aus-  und  einlaufen. 
Ein  guter  Naturhafen,  den  Napoleon  zu  einem  großen  Kriegs- 
hafen auszubauen  beabsichtigte,  liegt  westlich  von  Bastia  an  der 
Wurzel  der  Halbinsel,  San  Fiorenzo.  Aber  auch  er  wird  von  der 
Malaria  verpestet.  Malariafrei  ist  dagegen  die  kleine,  gegen  alle 
Winde  geschützte  Bucht  von  San  Bonifacio,  nahe  der  Südspitze 
der  Insel,  deren  sich  die  Genuesen  daher  auch  für  alle  Zeit  ver- 
sicherten, indem  sie  dort  ligurische  Ansiedler  ansetzten,  die, 
gewissermaßen  einen  kleinen  Freistaat  bildend,  zu  allen  Zeiten 
dem  Mutterlande  treu  geblieben  sind  und  sich  noch  heute  von 
den  Korsen  scharf  unterscheiden.  Hier  kennt  man  die  Blutrache 
nicht;  hier  sieht  man  die  Männer  unbewaffnet  gemeinsam  mit 
den  Frauen  im  Feld  und  Garten  arbeiten;  hier  reitet  die  Frau 
auf  dem  Esel  und  der  Mann  geht  nebenher.  Beim  Betreten  der 
Gemarkung  von  S.  Bonifacio  könnte  man  sich  an  die  Riviera, 
in  den  engen,  von  viele  Stockwerke  hohen  Häusern  gebildeten 
Gassen  in  das  Hafenviertel  von  Genua  versetzt  wähnen.  Auf 
60  m  hoher  Kalkplatte,   deren  Wände  zum  Teil  überhängen  oder 


2  19      — 

von  der  Brandung  zu  Höhlen  ausgewaschen  sind,  thront  das 
Städtchen,  das  zu  allen  Zeiten  Festung,  von  den  Franzosen  zu 
einem  Gibraltar  im  kleinen  umgeschaffen  worden  ist.  Dieselben 
haben  bereits  hier  eine  Flotte  von  Torpedobooten  aufgestellt  und 
beabsichtigen  einen  Kriegshafen  zu  schaffen,  der  imstande  ist, 
demjenigen  der  Italiener  am  anderen  Eingange  der  Meerenge 
auf  der  Granitinsel  von  La  Maddalena  an  der  Nordspitze  von 
Sardinien  Trotz  zu  bieten.  In  genuesischer  Zeit  spielte  auch 
Calvi,  an  der  Nordwestseite  der  Insel  Genua  nahe  gelegen,  wegen 
seiner  kleinen  Hafenbucht  und  als  Hauptort  der  fruchtbaren 
Landschaft  Balagna  eine  gewisse  Rolle,  die  es  jetzt  immer  mehr 
an  das  nahegelegene  Isola  Rossa  abtritt.  Ajaccio  dagegen  hat 
erst  seit  dem  Anschluß  der  Insel  an  Frankreich  und  durch  größte 
Begünstigung  durch  Frankreich,  namentlich  seit  Napoleon  III., 
größere  Wichtigkeit  erlangt,  steht  aber  noch  heute  wie  an  Ein- 
wohnerzahl, so  auch  an  Verkehr  Bastia  nach.  Immerhin  ist  es 
auch  durch  die  Natur  begünstigt  insofern,  als  es  an  dem  größten 
der  kleinen,  sich  nach  Westen  und  Südwesten  öffnenden  Golfe, 
die  zum  Seeverkehr  und  zur  Verdichtung  der  Bevölkerung  im  all- 
gemeinen wenig  begünstigt  sind,  und  fast  in  der  Mitte  der  West- 
seite liegt,  mit  einer  kleinen  fruchtbaren  Ebene  im  Hintergrunde  des 
Golfs,  die  man  nach  korsischen  Begriffen  wohl  als  Campo  dell'  Oro 
bezeichnen  konnte.  Das  Gebiet  dieser  Rias  ist  sonst  fast  menschen- 
leer. Vor  allem  hat  Ajaccio  auch  eine  sehr  geschützte  Lage  für  sich, 
die  es  nach  Milde  des  Klimas  und  südlicher  Üppigkeit  der  Vege- 
tation fast  Neapel  gleichkommen  läßt.  Auch  das  Landschaftsbild, 
der  Blick  auf  das  Meer  und  die  Vorgebirge,  die  einen  Teil  des 
Jahres  schneebedeckten  Gebirge,  ist  entzückend,  aber  kein  Un- 
befangener wird  Ajaccio  Neapel  im  allgemeinen  gleichsetzen 
wollen,  wie  es  hier  und  da  versucht  worden  ist.  Wo  ist  der 
Vesuv,  wo  sind  Capri  und  Ischia,  wo  Sorrent  und  die  geschicht- 
lichen Erinnerungen,  die  den  ganzen  Golf,  vor  allem  aber  Pozzuoli 
und  Bajä  verklären? 

Die  Küste  von  Korsika  ist  dem  Seeverkehr  im  allgemeinen 
nicht  günstig,  von  außen  her  mußte  derselbe  hier  eingebürgert 
werden,  was  aber  die  rauhe  Landesnatur  wesentlich  erschwerte. 
Heißt  es  doch,  daß  Ansiedelungsversuche  der  Griechen  und  der 
Römer  förmlich  von  den  undurchdringlichen  Wäldern  zurück- 
geschlagen   wurden.     Völlig    heimisch    wurde    das    Seewesen    in 


220       

Korsika  niemals,  es  blieb  immer  in  den  Händen  der  Fremden. 
Die  Korsen  sind,  obwohl  Inselbewohner,  doch  ein  Bergvolk,  wie 
auch  die  Bewohner  der  Insel  des  Pelops  niemals  in  einer  langen 
Geschichte  Seefahrer  gewesen  sind  und  sich  auch  heute  in  geringem 
Maße  an  der  griechischen  Schiffahrt  beteiligen.  In  den  Kielen 
fremder  Schiffe  wurde  den  Korsen  viel  mehr  festländische  Ge- 
sittung tropfenweise  zugeführt,  als  daß  sie  sich  dieselbe  selbst 
holten.  Die  Abgeschlossenheit  der  Küsten  wie  der  Gebirge  der 
Insel  ist  noch  heute  in  der  scharf  ausgeprägten  Eigenart  dieser 
Insel-  und  Bergbewohner  zugleich  erkennbar.  Der  Korse  ist  nur 
Korse.  Das  stammverwandte  Italien,  dessen  Sprache  er  spricht, 
mit  dem  ihn  eine  lange  Geschichte  und  eine  Vielheit  geographisch 
bedingter  Beziehungen  verbindet,  steht  seinem  Herzen  ebenso 
fem  wie  Frankreich,  das  die  Insel  seit  mehr  als  einem  Jahr- 
hundert beherrscht,  und  dem  es  seinerseits  seinen  gewaltigsten 
Herrscher  gegeben  hat.  Aber  der  Korse  weiß  Frankreich  zu 
schätzen,  denn  es  gibt  ihm  Ämter  und  Pfründen,  es  baut  ihm 
Häfen,  Straßen  und  Eisenbahnen  und  befruchtet  die  Insel  mit 
seinem  Golde.  Frankreich  ist  auch  bemüht,  und  mit  Erfolg,  die 
Korsen  mehr  und  mehr  zu  französieren  und  die  französische 
Sprache,  namentlich  durch  die  Schule,  an  Stelle  der  italienischen 
zu  setzen.  Für  Frankreich  ist  Korsika  seiner  Lage  zu  Italien 
und  zur  Südküste  Frankreichs  wegen  außerordentlich  wichtig,  und 
es  unterhält  und  ergänzt  daher  die  vorhandenen  meist  veralteten 
Festungswerke,  die  naturgemäß  die  wichtigsten  Punkte  an  der 
Küste  decken  müssen.  Im  Innern  freilich,  wo  beispielsweise  die 
Straße  über  den  Vizzavonapaß  durch  ein  Fort  gesperrt  wird  und 
der  Bahnhof  von  Corte,  ähnlich  wie  vielfach  in  Algerien,  von 
einem  mit  Schießscharten  versehenen  Mauerviereck  umschlossen 
ist,  sind  Befestigungen  auffallende  Erscheinungen. 

Ein  Granitgebirge  durchzieht  die  Insel  in  ihrer  ganzen  Länge 
und  scheidet  die  Westseite,  von  altersher,  naturgemäß  von  Italien 
aus  Banda  di  fuori  genannt,  von  der  Ostseite,  der  Banda  di 
dentro.  In  zahlreichen  Gipfeln  erreicht  dasselbe  mehr  als  2000  m, 
der  Monte  Rotondo,  fast  in  der  Mitte  der  Insel,  hat  sogar  über 
2600,  der  schon  genannte  Monte  Cinto,  der  höchste  Punkt 
eines  ausgedehnten  Porphyrdurchbruches,  etwas  weiter  nach  Nor- 
den, über  2700  m.  Kleine,  grüne  Hochgebirgsseen,  die  wie  Hals- 
bänder von   Smaragden   fast    jeden   dieser    massigen   granitischen 


—       221       — 

Hochgipfel  umgeben,  den  Monte  Rotondo  allein  sieben,  Moränen 
und  Gletscherschliffe  weisen  hier  auf  die  ehemalige  Vergletsche- 
rung, diluviale  Schottermassen,  oft  mit  riesigen  Granitblöcken,  in 
den  Tälern  auf  die  großartige  Abtragung  hin,  die  damals  vor 
sich  ging.  Vom  Gipfel  des  Monte  Cinto  überblickt  man  die 
ganze  Nordhälfte  der  Insel  bis  zum  Kap  Korso,  ja  bei  hellem 
Wetter  erkennt  man  wohl  noch  in  blassen  Umrissen  Elba,  wäh- 
rend nach  Süden  das  Auge  über  eine  großartige  Gebirgswelt  und 
Hochgipfel  von  wenig  geringerer  Höhe  schweift,  deren  einzelne, 
wie  der  Monte  d'  Oro,  nahe  dem  Paß  von  Vizzavona,  und  der 
Monte  Incudine,  der  südlichste  Hochgipfel,  eine  kaum  minder 
schöne  Aussicht  bieten.  Freilich  muß  dieselbe  beim  Fehlen  guter 
Wege  und  Schutzhütten,  wenn  auch  nicht  häufig  vorkommende 
Steilabstürze  und  Felswände  leicht  umgangen  werden  können, 
durch  größere  Anstrengungen  und  Entbehrungen  erkauft  werden, 
als  sie  ähnliche  Höhen  in  den  Alpen  bieten,  da  man  hier  meist 
vom  Meeresniveau  ausgeht.  Die  Kamm-  und  Paßhöhe  des  Ge- 
birges ist  verhältnismäßig  groß.  Der  Col  di  Vergio,  einer  der 
wichtigsten  der  Insel,  hat  1464  m,  ist  also  höher  als  der  Brenner. 
In  schwierigem  Anstieg,  vielfach  auf  Treppen,  erklimmt  man  die 
Paßhöhe  der  Saum-  oder  Ziegenpfade,  die  auf  der  Insel  noch 
vorherrschen.  Wo  sie  unter  großen  Kosten  in  Straßen  verwandelt 
sind,  stehen  sie  den  kühnsten  der  Alpen  nicht  nach.  Jede  Win- 
dung bietet  neue  Ausblicke,  sei  es  in  Schluchten,  sei  es  über 
Vorgebirge  und  Meer;  alle  Hänge  sind  mit  dem  dunkeln  Grün 
der  duftigen  Macchien  überkleidet,  aus  dem  hier  und  da  graue 
Granit-  oder  rote  Porphyrfelsen  her\orragen,  bis  uns  auf  der  Paß- 
höhe hochstämmige  Wälder  von  Buchen  oder  Lariciokiefern  auf- 
nehmen. Darüber  wölbt  sich  das  herrliche  Blau  des  südlichen 
Himmels. 

Selbst  die  neue  Eisenbahn,  die  jetzt  nach  langer  kostspieliger 
Bauzeit  die  ganze  Insel  quert  und  Ajaccio  mit  Bastia  verbindet, 
steigt  von  Ajaccio  auf  47  km  Linienlänge  900  m  empor  und 
unterfährt  schließlich  den  1145  m  hohen  Paß  von  Vizzavona  in 
einem  4  km  langen  Tunnel.  Eine  Gotthardbahn  im  kleinen  windet 
sie  sich  an  der  Nordostseite  in  langen  Kehren,  wo  man  wieder- 
holt die  eben  zurückgelegte  Strecke  tief  unter  sich  sieht,  bald 
durch  tiefe  Einschnitte,  bald  über  gewaltige  Viadukte  und  Brücken, 
die  nicht  selten  kühn  zwischen  zwei  Tunneln  über  einen  Abgrund 


222       — 

gespannt  sind,  zur  Scheitelhöhe  empor.  Diese  liegt  über  der 
immergrünen  Region  in  einem  herrlichen  Revier  schöner  Buchen- 
und  Lärchenwälder,  in  welchen,  wenigstens  im  Frühling,  sich  von 
allen  Seiten  rauschende  Gießbäche  über  Felswände  in  die  Tiefe 
stürzen.  Beim  Aufstieg,  noch  unter  Ölbäumen  und  Weinpflanzungen 
dahinfahrend ,  hat  man  nicht  selten  auf  der  einen  Seite  einen 
Ausblick  über  Berge  und  Hügel  weithin  auf  das  Meer,  auf  der 
andern  in  waldige  Täler,  in  deren  Hintergrunde  im  Frühling  mit 
Schnee  bedeckte  Berge  herüberleuchten. 

So  hoch  aufragende,  längere  oder  kürzere  Zeit  mit  Schnee 
bedeckte  Gebirge  mitten  im  wannen  Mittelmeere  und  auf  der 
Bahn  der  winterlichen  Zyklone  müssen  bedeutende  Niederschläge 
hervorrufen  und  die  geringe  Meerferne  der  höchsten  Gipfel  — 
die  des  Monte  Cinto  beträgt  nur  24  km!  —  muß  den  für  ge- 
wöhnlich wasserarmen,  aber  in  ihren  smaragdgrünen  Tümpeln, 
forellenreichen  Flüßchen  und  Bächen,  die  bei  der  Schneeschmelze 
und  nach  starkem  Regen  zu  tobenden  Ungeheuern  werden,  eine 
riesige  Erosionskraft  verleihen.  So  ist  die  Insel  überall  von  tiefen 
Tälern  gefurcht,  ja  reich  an  Schluchten  von  großartiger  Wildheit, 
die  mit  ihrer  immergrünen  Vegetation  an  einzelne  Pyrenäentäler 
erinnern,  deren  Steilhänge  mit  Buchsbaumgebüsch  dicht  bewachsen 
sind.  Bei  der  Steilheit,  mit  welcher  die  Gebirge,  namentlich  an 
der  Westseite,  emporsteigen,  liegen  hier  oft  recht  grelle  Gegen- 
sätze nahe  beieinander.  Von  der  Küste  und  aus  den  untersten 
Tälern,  die  den  Charakter  lieblicher,  hier  und  da  allerdings  mehr 
großartiger  Mittelmeeriandschaft  mit  Dattelpalmen  und  Hainen 
von  Apfelsinen  tragen,  steigt  man  in  wenigen  Stunden  durch 
wilde,  in  immergrünes  Gestrüpp  gehüllte  Schluchten  und  hoch- 
stämmige Wälder  mitteleuropäischer  Buchen  zu  alpinen  Hoch- 
gebirgslandschaften empor,  die  nur  im  Spätsommer  schneefrei 
werden.  In  breiten  Rücken  streicht  das  Granitgebirge  nach  Westen 
und  Südwesten  aus  und  bedingt  dort  die  an  die  Rias  von  Ga- 
licia  erinnernde  Gliederung  der  Küste  in  Buchten  und  Vorgebirge, 
über  welche  noch  heute  felsige  Saumpfade  die  kleinen  Ortschaften 
an  den  Buchten  miteinander  verbinden. 

Es  zerfällt  so  die  ganze  Insel  in  zahlreiche  kleine  Sonder- 
landschaften und  Talschaften,  ähnlich  denen,  die  die  Urkantone 
der  Schweiz  rings  um  den  Vierwaldstättersee  bilden.  Alle  diese, 
meist  auch   besondere,    in    der  Geschichte  der  Insel  vielgenannte 


—       22Z       — 

Namen  führenden  Talschaften,  selbst  die  ans  Meer  ausmündenden, 
verkehren  meist  nur  durch  Engpässe  oder  über  steile  Kämme 
miteinander.  So  begreifen  wir,  daß  die  Bevölkerung,  wenn  auch 
durch  das  allumfassende  Meer  zusammengehalten,  von  jeher  in 
zahlreiche  Clane  zerfiel,  wie  im  schottischen  Hochlande,  und  daß 
die  die  einzelnen  Clane  führenden  Familien,  wenn  nicht  der 
Druck  der  Fremdherrschaft  zur  Einigkeit  zwang,  sich  unablässig 
befehdeten.  Noch  heute  haben,  zum  Hohne  des  allgemeinen 
Wahlrechts,  tatsächlich  etwa  zwanzig  Familien  die  wirkliche  Herr- 
schaft auf  der  Insel.  Zu  den  noch  nicht  völlig  ausgestorbenen 
Fehden  der  Clane  untereinander  sind  nun  die  Wahlschlachten 
hinzugekommen,  die  nach  der  Versicherung  eines  korsischen 
Patrioten  schlimmer  sind  als  das  Banditentum.  Ämter  und  allerlei 
Vergünstigungen  zum  Schaden  der  Allgemeinheit  sind  die  Beute 
des  Siegers,  wie  das  ja  mehr  oder  weniger  überall  in  den  völker- 
beglückenden Republiken  der  Fall   ist. 

Gemildert  wird  der  gebirgige  Charakter  der  Insel  durch  das 
üppige,  immergrüne  Pflanzenkleid,  in  welches  das  milde,  nieder- 
schlagsreiche Klima  den  größeren  Teil  derselben  bis  etwa  800 
bis  1000  ra  empor  hüllen  und  unter  welchem  die  wilden  Fels- 
formen meist  verschwinden.  Die  Üppigkeit  und  Undurchdringlich- 
keit der  korsischen  Wälder  war  so  groß,  daß  Besiedelungsversuche 
in  griechischer  und  römischer  Zeit  dadurch  vereitelt  wurden. 
Freilich  ist  auch  hier  der  Mensch,  wie  überall  in  den  Mittelmeer- 
ländem,  des  Waldes  schließlich  und  gründlich  Herr  geworden, 
nur  noch  im  höheren  Gebirge  finden  sich  herrliche,  ausgedehnte 
Wälder,  an  deren  Stelle  sonst  überall  ungeheure  Dickichte  immer- 
grüner Sträucher,  die  sogenannten  Macchien  (von  lat.  macula 
Flecken),  in  korsischer  Mundart  Maquis,  getreten  sind.  Man  kann 
so  Korsika  wohl  eine  immergrüne  Insel  nennen.  Diese  Macchien, 
je  nach  Boden  und  Feuchtigkeit  bald  übermannshoch  und  viel- 
fach von  Schlingpflanzen,  auch  dornigen,  durchrankt  und  un- 
durchdringUch,  bald  niedrig  und  von  vereinzelten  Sträuchern  ge- 
bildet, kennzeichnen  Korsika  ganz  besonders,  wenn  sie  auch  eine 
überall  in  den  Mittelmeerländern  wiederkehrende  Vegetations- 
formation sind.  Sie  sind  hier  von  einer  bunten  Mischung  von 
Sträuchern  mit  meist  kleinen  Blättern  und  unscheinbaren  Blüten 
gebildet,  von  denen  viele,  wie  die  M^Tthe,  Rosmarin  u.  a.  bei  uns 
in  Töpfen  gezogen  werden.    Alle  sind  aromatisch,  und  besonders 


—       224       — 

im  Frühling,  wo  das  Blühen  monatelang  andauert^  eine  Art  nach 
der  andern,  erscheint  die  Insel  wie  in  Blütenduft  gehüllt,  den  der 
Wind  vom  Lande  her,  wie  von  tropischen  Inseln,  nicht  selten 
dem  Ankömmling  entgegenträgt.  Der  Korse  liebt  diesen  Duft 
seiner  Macchien  über  alles,  wie  auch  Napoleon  noch  auf  St.  Helena 
wehmütig  diese  Eigenart  seiner  Heimatsinsel  pries.  Wundervoll 
ist  namentlich  die  Baumheide,  die  ihre  schwanken  Zweige  mit 
einer  unglaublichen  Fülle  duftiger,  zierlicher  weißer  Glockenblüten 
bedeckt.  Das  Aroma  dieser  Pflanzen  wirtschaftlich  zur  Gewinnung 
von  Wohlgerüchen  zu  verwerten,  wie  in  der  Provence,  in  Alge- 
rien und  anderwärts  geschieht  (Rosmarinöl,  Thymöl,  Lavendel- 
Öl  usw.),  dazu  ist  der  Korse  noch  nicht  fortgeschritten,  und  auch 
sein  Verdienst  ist  es  wohl  nicht,  wenn  die  stärkeren  Stämme  der 
Baumheide  (Briarwood  vom  franz.  bruyere)  zu  jenen  kurzen  Tabaks- 
pfeifen verarbeitet  werden,  die  bei  den  Engländern  so  beliebt 
sind.  Ihm  dienen  die  Macchien  als  Brennholz  und  als  Weide- 
gründe  für  seine  Ziegen,  und  unzertrennlich  ist  mit  denselben  das 
Banditenwesen  verbunden.  „E  andato  nella  macchia*',  er  ist  in 
die  Macchia  gegangen,  ist  der  oft  gehörte  landesübliche  Ausdruck 
für  denjenigen,  der  es  für  gut  findet,  sich  dem  Arme  der  Ge- 
rechtigkeit zu  entziehen,  d.  h.  Bandit  zu  werden.  Kein  Gensdarm 
vermag  ihn  in  der  Macchia  aufzustöbern.  Aber  nicht  bloß  sichere 
Zuflucht,  auch  Nahrung  liefert  das  Waldgebirge  dem  Verfolgten, 
selbst  wenn  ihn  seine  Freunde  nicht  unterstützen  sollten.  Bis 
in  die  innersten  Gebirgstäler  und  im  Mittel  bis  zu  lOOO  m  Höhe 
kommt  nämlich  die  Edelkastarue  vor.  Oft  in  Halbkulturen  ge- 
halten und  mächtige  Stämme  bildend,  liefert  sie  eine  Fülle  von 
Nährfrüchten,  die  getrocknet  und  gemahlen  sich  das  ganze  Jahr 
halten  und  der  verschiedensten  Zubereitung,  ähnlich  unserer  Kar- 
toff"el,  fähig  sind.  Auch  bieten  wohl  kleine  Steinhütten  in  den 
Kastanienwäldern,  die  nur  zur  Erntezeit  bewohnt  werden,  Zuflucht 
in  der  rauhen  Jahreszeit.  Fast  ohne  Arbeit  liefert  die  Edel- 
kastanie, nach  welcher  eine  der  kleinen  Sonderlandschaften 
geradezu  Castagniccia  genannt  wird,  den  Korsen  den  Brodstofi". 
Castagniccia,  das  übrigens  heute  eine  der  besser  angebauten 
Landschaften  Korsikas  in  dem  mesozoischen  Hügellande  der  Ost- 
seite zwischen  dem  Golo  und  Tavignano  ist,  war  daher  von  jeher 
einer  der  Hauptherde  des  Widerstandes  gegen  die  Genuesen, 
die  Heimat  Pasquale  Paolis,  also  ähnlich  der  von  Eichenwäldern 


—       225       — 

bedeckten  Schumadia,  der  Zufluchtsstätte  der  Serben  in  ihrem 
langen  Unabhängigkeitskampfe  gegen  die  Türken.  Zu  seinen 
Kastanienbäumen  bedarf  der  Korse  nur  noch  einer  Ziegenherde, 
die  sich  auch  fast  von  selbst  nährt.  Sie  liefert  ihm  Milch  und 
Käse,  den  berühmten  aromatischen  Broccio,  wohl  auch  gelegent- 
lich Fleisch  und  durch  Verkauf  einzelner  Stücke  bares  Geld  zur 
Anschaffung  der  wenigen  unentbehrlichen  Gegenstände,  vor  allem 
eines  Dolches  und  eines  Gewehrs  mit  Schießbedarf,  ohne  die 
man  keinen  Gebirgskorsen  sieht.  Die  Bewohner  ganzer  Land- 
schaften, wie  des  Niolo,  sind  fast  ausschließlich  Hirten,  die  bei- 
nahe nur  von  Kastanien  und  Käse  leben:  Wanderhirten,  denn  der 
rauhe  Winter  des  Gebirges  zwingt  sie  mit  den  Herden  an  die 
Küsten  hinabzusteigen,  so  daß  dann  die  Gebirgsdörfer  nur  von 
Greisen,  Frauen  und  Kindern  bewohnt  sind.  Doch  ist  auch  dies 
eine  von  der  Landesnatur  bedingte,  überall  in  den  ^Nlittelmeer- 
ländern  wiederkehrende  Erscheinung.  Kein  Zweifel,  daß  die 
Kastanie  und  die  Ziege  die  ausgesprochene  Arbeitsscheu  des 
Korsen  wesentlich  gefördert  haben,  den  Anbau  des  Landes  hin- 
dern und  ihn  in  Armut  und  Anspruchslosigkeit  erhalten.  So 
konnte  in  den  Köpfen  der  französischen  Jakobiner  der  Gedanke 
reifen,  alle  Kastanienbäume  der  Insel  umhauen  zu  lassen,  um  die 
Korsen  zur  Arbeit  zu  zwingen. 

Die  nur  im  Hochgebirge  erhaltenen  Wälder  verdanken  dies 
ihrer  geringen  Zugänglichkeit,  erliegen  aber  häufigen  Waldbränden, 
die  wohl  meist  von  Hirten  angelegt  sein  dürften.  Tausende  von 
Hektaren  werden  so  jährlich  vernichtet,  ja  in  den  letzten  zwanzig 
Jahren  soll  ein  Viertel  des  ganzen  Waldbestandes  dem  Feuer 
erlegen  sein.  Wo  sie  erhalten  sind,  gleichen  sie  einsamen, 
schweigenden  Urwäldern,  in  denen  Baumriesen,  Stämme  von  8  m 
Umfang,  nicht  selten  sind.  Große  Flechten,  gleich  dem  Barte 
eines  Greises,  hängen  an  den  Zweigen,  Moos  bedeckt  die  Stämme ; 
vom  Sturm  gefällt,  strecken  sie  ihre  entrindeten,  gebleichten 
Leiber  —  Ungeheuern  der  Vorwelt  gleich  —  am  Boden  hin,  um 
allmählich  zu  vermodern.  Immerhin  ist  Bauholz  noch  ein  wesent- 
licher Gegenstand  der  Ausfuhr,  wie  seit  Jahrhunderten,  besonders 
für  die  Schiffswerften  von  Genua  und  Livomo.  Ähnlich  wie  im 
toskanischen  Appennin  beginnnen  sich  auch  in  diesen  Gebirgs- 
wäldem  Sommerfrischen  zu  entwickeln,  was  wohl  hauptsächlich 
zu  ihrer  Erhaltung  beitragen  wird. 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  15 


226       — 

Der  Wildreichtum  dieser  Wälder  und  Macchien  ist  wegen 
übermäßiger  Ausübung  der  Jagd  nicht  mehr  sehr  groß,  aber  noch 
groß  genug  und  so  leicht  zu  vergrößern,  daß  ein  Engländer  den 
Gedanken  aussprechen  konnte,  die  Korsen  würden  sich  am  besten 
stehen,  wenn  man  die  ganze  Insel  in  einen  großen  Wildpark  ver- 
wandelte, jedenfalls  für  englische  Sportsmen,  also  ungefähr  so  wie 
die  schottischen  Hochlande.  Das  edelste  Wild  Korsikas,  den 
Mufflon,  ein  Wildschaf,  zu  jagen,  ist  schwierig  und  entbehrungs- 
reich, aber  selten  erfolgreich. 

Schon  die  bisherigen  Andeutungen  lassen  erwarten,  daß  nur 
ein  geringer  Teil  der  Insel  angebaut  ist.  Von  vielleicht  nicht 
mehr  als  einem  Drittel  mag  das  gelten.  Auch  der  gebirgige 
Charakter,  der  felsige  Boden  und  vor  allem  die  die  Täler  und 
Küstenebenen  im  Sommer  heimsuchende  Malaria,  die  ebenso  sehr 
wie  die  geringe  Sicherheit  die  Bewohner  zwang,  sich  hoch  oben 
auf  den  Bergen,  auf  schwer  zugänglichen  Höhen  anzusiedeln, 
wirken  dabei  mit.  Die  auch  in  der  Landesnatur  begründeten 
Clanfehden,  die  uralte  Sitte  der  Blutrache,  die  Notwendigkeit, 
sich  gegen  fremde  Eindringlinge  in  jahrhundertelangen,  fast  nie 
endenden  Kämpfen  zu  verteidigen,  ließen  auch  diesem  Gebirgs- 
volke  das  Waffenhandwerk  als  die  eines  Mannes  allein  würdige 
Tätigkeit  erscheinen.  Höchstens  das  Weiden  der  Herden  galt 
daneben  noch  als  anständige  Beschäftigung:  also  ganz  wie  bei 
den  alten  Arkadiern  und  den  Bewohnern  der  Urkantone  der 
Schweiz.  Reisläuferei  war  daher  auch  hier  heimisch.  Italien  und 
Frankreich  zogen  davon  Nutzen.  Wie  schon  früher,  besonders 
im  i6.  Jahrhundert,  korsische  Söldnerregimenter  in  Frankreich 
dienten,  so  war  mit  der  Napoleonischen  Zeit  die  Zahl  der  Korsen 
als  Offiziere  und  Soldaten  im  französischen  Heere  ebenso  groß 
und  wichtig,  wie  die  der  elsässischen.  Im  deutsch-französischen 
Kriege  standen  nicht  weniger  als  20  500  Korsen  gegen  uns  im 
Felde,  y^g  ^^^  Bewohnerschaft,  und  1885  zählte  man  nicht  weniger 
als  1 2 1 7  korsische  Offiziere  im  Heere  und  in  der  Gensdarmerie 
Frankreichs.  Namentlich  liefert  die  korsische  Waldlandschaft  Baste- 
lica,  südöstlich  von  Ajaccio,  viele  Offiziere.  Die  Zahl  der  Korsen, 
die  es  in  den  letzten  hundert  Jahren  in  Frankreich  im  Heere 
(und  in  der  Verwaltung)  zu  hohen  Stellungen  gebracht  haben, 
ist  unverhältnismäßig  groß.  In  bezug  auf  körperliche  Tüchtigkeit 
der  zur  Aushebung  kommenden  Mannschaften  steht  Korsika  unter 


2  2  7 

allen  französischen  Departements  bei  weitem  oben  an,  indem  auf 
looo  zur  Stellung  kommende  Mannschaften  im  Durchschnitt  774 
bis  779,  ja  in  einzelnen  Bezirken  886  brauchbar  sind.  In  Korsika 
spielen  die  Kinder,  eine  in  nicht-deutschen  Ländern  sehr  seltene 
Erscheinung,  Soldaten  oder  Banditen.  Es  leuchtet  ein,  daß  dies 
den  Wert  Korsikas  für  Frankreich  wesentlich  erhöht,  andrerseits  die 
feste  Angliederung  der  Insel  an  Frankreich  fördert. 

Im  bei  weitem  größten  Teile  von  Korsika,  überall  da,  wo 
italienische  Kultureinflüsse  nicht  durchgedrungen  sind,  gilt  es  für 
den  Mann  nicht  für  anständig,  das  Feld  selbst  zu  bestellen.  Er 
überläßt  das  der  Frau  oder,  wenn  möglich,  gedungenen  italieni- 
schen Landarbeitern,  wohl  weil  sie  meist  aus  der  Gegend  von 
Lucca  sind  oder  waren,  Lucchesen  genannt,  deren  etwa  12000 
alljährlich  zu  dieser  Arbeit  herüberkommen.  Auf  diese  fleißigen 
Leute  sieht  aber  der  Korse  mit  Verachtung  herab  und  gebraucht 
ihren  Namen  als  Schimpfwort,  gerade  so  wie  der  Magyare  für 
die  besten  Bürger  des  ungarischen  Staates  den  Namen  desjenigen 
deutschen  Stammes,  aus  welchem  ein  Schiller,  ein  Uhland,  aus 
welchem  die  Herrscherhäuser  der  Hohenstaufen,  der  HohenzoUern, 
ja  das  eigene  Herrscherhaus  hervorgegangen  ist,  als  Schimpfwort 
gebraucht.  Nur  die  ganz  italienische  Halbinsel  des  Kap  Korso, 
die  Gegend  von  Calvi  und  von  San  Bonifacio  sind  sorgsam  be- 
stellt und  gleichen  baumreichen  Gartenlandschaften,  sonst  aber 
sind  immer  nur  kleine  Flächen  um  die  Ortschaften  angebaut. 
Wein,  Öl,  Südfrüchte,  Vieh  und  Holz  geben  die  Mittel  zur  Er- 
werbung der  nicht  hinreichend  gewonnenen  Brotstoff"e  und  anderer 
Bedürfnisse.  Die  Viehzucht  ist  durchaus  naturwüchsig,  sie  er- 
streckt sich  auch  fast  nur  auf  Schafe  und  Ziegen,  denen  die 
saftarme,  aromatische  Vegetation  besonders  zusagt.  Ähnlich  wie 
man  vor  zwanzig  Jahren  (und  vielleicht  noch  heute)  in  der  Groß- 
stadt Palermo,  vor  Fälschung  sicher,  sich  die  Milchziege  in  das 
dritte  Stockwerk  eines  Palazzo  der  Hauptstraße  hinaufbringen 
und  im  Zimmer  melken  lassen  kormte,  so  sind  morgens  und  abends 
auch  in  den  Straßen  der  Städte  Korsikas  die  Ziegen  Charakter- 
figuren. Nachdem  sie  tagsüber  auf  den  Bergen  und  in  den 
duftigen  Macchien  der  Milcherzeugung  obgelegen  haben,  tragen 
sie  getreulich  ihr  Erzeugnis  selbst  in  die  Stadt,  wo  man  beim  Er- 
scheinen der  Herden  die  Hausfrauen  und  Mädchen  aus  den 
Häusern   herbeieilen    sehen   kann.     Die    korsische    Ziege   zeichnet 

15* 


—       228        — 

sich    durch   merkwürdige   Buntfarbigkeit   ihres   langen ,    hängenden 
Seidenhaares  aus. 

Die  Gewerbtätigkeit  Korsikas  erstreckt  sich  als  Hausgewerbe 
und  durchaus  bodenständig  nur  auf  Deckung  des  eigenen  Bedarfs 
an  Gebrauchsgegenständen,  besonders  der  Bekleidungsstoffe  der 
Gebirgsbewohner,  aus  Leinen,  Schafwolle  und  Ziegenhaar.  Aus 
letzterem  fertigen  namentlich  die  Frauen  des  Niolo  die  sogenannten 
Peloni,  rauhe  Mäntel,  in  unübertrefflicher  Wetterbeständigkeit  an. 

Die  wirtschaftliche  Entwicklung  der  Insel  wird  aber  doch 
mit  der  Erschließung  derselben  durch  Straßen  und  Eisenbahnen, 
mit  der  Hebung  des  Verkehrs  im  allgemeinen  und  auch  durch 
den  sich  mehrenden  Fremdenbesuch  raschere  Fortschritte  machen. 
Unter  den  Fremden  wird  nächst  den  Engländern  die  Zahl  der 
Deutschen  immer  größer,  während  gerade  Franzosen  die  Insel 
verhältnismäßig  selten  besuchen  und  die  französischen  Beamten 
gern  dieselbe  so  rasch  wie  möglich  wieder  verlassen.  Ajaccio 
namentlich  entwickelt  sich  immer  mehr  zu  einer  vielbesuchten 
Winterstation. 

Alle  diese  Umstände,  zu  denen  aber  noch  andere,  im  Volks- 
charakter wurzelnde,  hinzukommen,  lassen  keine  dichte  Bevölke- 
rung auf  der  Insel  erwarten.  In  der  Tat  hat  Korsika,  obwohl 
es  nur  um  looo  qkm  kleiner  ist  als  das  Großherzogtum  Hessen 
und  trotzdem  die  vorher  furchtbar  zusammengeschmolzene  Be- 
völkerung seit  der  französischen  Besitzergreifung  stetig  gewachsen 
ist,  nur  so  viel  Bewohner,  wie  die  kleine  Provinz  Oberhessen,  so 
daß  nur  ^2  Menschen  auf  i  qkm  kommen.  Weite,  mit  Macchien 
bedeckte  Gebiete,  besonders  zwischen  Ajaccio  und  Calvi,  sind 
fast  menschenleer.  Und  doch  könnte  die  Insel  wohl  die  doppelte 
Bewohnerzahl  ernähren!  Lehrreich  ist  dabei,  daß  das  nördlichste 
Viertel,  die  eigentliche  Banda  di  dentro,  auf  ihrem  nur  Hügel- 
land bildenden  nichtkristallinischen  Boden  eine  der  mittleren 
Frankreichs  entsprechende  Volksdichte  hat,  also  doppelt  so  groß, 
als  dem  Mittel  der  ganzen  Insel  entspricht,  dreimal  so  groß  wie 
im  kristallinischen  Korsika.  Auf  dem  etwa  2100  qkm  des  aus 
geschichteten  Gesteinen  bestehenden  Korsika  wohnen  1 40  000 
Menschen,  im  Arrondissement  Bastia  sogar  76  auf  i  qkm,  auf 
den  6600  qkm  des  kristallinischen  Korsika  nur  149000.  Dieses 
letztere  ist  denn  auch  vorzugsweise  das  Gebiet  der  Wälder  und 
Macchien,   mehr  von  Hirten   bewohnt    als  von  Ackerbauern,  vor- 


—        229       — 

wiegend  der  Schauplatz  der  Clanfehden  und  der  Vendetta.  Man 
wird  selten  einen  so  durchgreifenden  Einfluß  des  geologischen 
Baues  eines  Landes  auf  den  Charakter  der  Landschaft,  den  An- 
bau, die  Volksdichte  und  den  Charakter  der  Bewohner  feststellen 
können,  wie  hier. 

Dieser  geringen  Dichte  der  Bevölkerung  entsprechend  müssen 
alle  Städte,  die  naturgemäß  vorzugsweise  Küstenstädte  sind,  klein 
sein.  Bastia,  noch  immer  die  größte,  hat  doch  nur  23000  Ein- 
wohner, Ajaccio,  so  sehr  es  von  Frankreich  gefördert  wird,  nur 
1 9  000.  Die  weit  kleinere  nationale  Hauptstadt  der  Korsen, 
Corte,  liegt  aber  im  Inneren,  den  Angriffen  der  Fremden  mög- 
lichst entrückt.  Sie  hat  in  der  Geschichte  der  Insel,  namentlich 
im  vorigen  Jahrhundert,  als  Sitz  des  Diktators  Pasquale  Paoli 
gegenüber  Bastia  und  Ajaccio  etwa  die  Rolle  gespielt  wie  Dront- 
heim  als  nationale  Hauptstadt  Norwegens  in  der  Zeit,  wo  die 
Hanseaten  in  dem  günstiger  gelegenen  Bergen,  die  Dänen  in 
Christiania  überwältigenden  Einfluß  auszuüben  vermochten.  Die 
Lage  von  Corte  ist  eine  sehr  malerische  und  bevorzugte.  Nahe 
dem  Mittelpunkt  der  Insel,  auf  der  von  einem  kundigen  Auge 
sofort  zu  erfassenden  geologischen  Grenze  zwischen  dem  hohen 
rauhen  Granitgebirge  und  dem  rundere  Formen  und  geringere 
Höhe  aufweisenden  mesozoischen  des  nordöstlichen  Viertels,  also 
auch  zwischen  dem  wilden,  menschenarmen  Korsika  und  dem 
besser  angebauten  volkreicheren,  haben  drei  sich  hier  vereinigende 
Flüsse,  der  Tavignano,  der  größte  der  Insel,  und  seine  beiden 
Nebenflüsse  Restonica  und  S.  Pancrazio,  eine  Talweitung  aus- 
gewaschen, deren  durch  ungeheure  diluviale  Geröllmassen  wieder 
aufgehöhte  Sohle  nur  eine  Meereshöhe  von  400  m  hat.  Mitten 
in  derselben  ist  ein  Felshügel  von  100  m  relativer  Höhe  stehen 
geblieben,  der,  von  gegen  das  Kristallinische  steil  aufgebogenen 
Schichten  gebildet,  zur  Hälfte  noch  vom  brausenden  Tavignano 
umflossen  und  benagt  wird,  so  daß  dort  ein  100  m  hoher,  fast 
senkrechter  Absturz  entstanden  ist,  während  gegen  Osten  der 
Felshügel  etwas  weniger  steil  ist.  Auf  demselben  liegt  die  noch 
von  den  Franzosen  als  Festung  benutzte  Zitadelle,  zu  welcher  die 
Stadt  mit  übereinander  aufgetürmten  Häusern  emporklimmt.  Sie 
bietet  so,  mit  ihren  weißen,  hohen,  fensterreichen  Häusern  sich 
scharf  von  dem  dunklen  Gebirgshintergrunde  abhebend,  von  fem 
ein  entzückendes  Stadtbild.     Freihch,  das  Innere  entspricht  dem 


—       230      — 

nicht.  Schmutz  und  Unrat  füllt  die  meist  engen,  steilen  Gassen, 
wenn  auch  nicht  in  dem  Maße  wie  in  Bastia.  Zu  der  natür- 
lichen festen  Lage  kommt  noch  eine  gewisse  Begünstigung  für 
friedlichen  Verkehr:  Corte  ist  der  Knotenpunkt  aller  Verkehrs- 
wege im  Innern  der  Insel.  Das  offene  Tal  des  Tavignano  führt 
zur  Ostküste,  das  nahe  und  bequem  zu  erreichende  Golotal  nach 
Nordosten  nach  Bastia,  und  selbst  nach  Ajaccio  und  an  die 
Westküste  führen  verhältnismäßig  gangbare  Pässe. 

Während  alle  übrigen  Städte  ähnlich  diesen  drei  größten 
und  geschichtlich  wichtigsten  aus  engen  Gassen  mit  hohen  Häu- 
sern bestehen  und  meist  hoch  auf  steilen  Bergen  liegen,  bestehen 
die  Dörfer,  obwohl  auch  von  ihnen  viele  eine  ähnliche  Lage 
haben,  im  Gebirge  häufig  aus  vereinzelten  kleinen  Häuschen,  die, 
aus  Granitblöcken  erbaut  und  mit  Stroh  gedeckt,  von  mächtigen 
Kastanien  beschattet  werden. 

Die  Bevölkerung  eines  schwer  zugänglichen,  meerumschlosse- 
nen Gebirgslandes  wird  notwendig  auch  in  ethnischer  Hinsicht, 
in  Charakter  und  Sitten  manches  Eigenartige  haben  bzw.  erhalten 
haben.  Die  Korsen  dürften,  wie  man  namentlich  aus  Schädel- 
messungen zu  schließen  geneigt  ist,  Nachkommen  der  alten 
Iberer  sein,  die  sich  von  jeher,  von  der  Landesnatur  geschützt, 
von  fremder  Zuwanderung  und  Blutmischung  ziemlich  rein  er- 
halten haben  dürften,  wie  die  schon  erwähnte  ligurische  Kolonie 
von  S.  Bonifacio  und  die  im  vorigen  Jahrhundert  in  Carghese 
angesiedelten  Griechen  zeigen.  Die  Schädelmessungen  lassen 
wenigstens  einen  einheitlichen  Typus  erkennen.  Braunes  Haar 
und  dunkle  Augen  überwiegen  bei  weitem,  blonde  sind  wenig 
vertreten.  Nur  im  Niolo  zeichnen  sich  die  Bewohner  durch 
lichte  Hautfarbe,  blondes  Haar  und  ungewöhnliche  Körperhöhe 
aus,  so  daß  man  auch  in  ihnen  versprengte  Reste  der  Goten 
hat  sehen  wollen.  Das  Niolo,  das  schwarze  Land,  nach  den 
dunkeln  Wäldern  von  Lariciokiefern  benannt,  ist  in  der  Tat 
das  innerste,  abgeschlossenste  Hochtal  der  Insel,  in  welchem  der 
Golo  von  den  Schneefeldern  und  Seen  des  Monte  Cinto  seine 
Gewässer  sammelt.  Von  der  Westseite  her  ist  es  nur  über  den 
1464  m  hohen  Col  di  Vergio,  von  Osten  her  nur  durch  die  enge 
Schlucht  des  Golo  zugänglich,  durch  welche  ein  Ziegenpfad,  seit 
kurzem  eine  kühne  Gebirgsstraße  gebahnt  ist.  In  84  Windungen 
führt    dieselbe   empor,    einer  Treppe   gleich,    daher  Scala   di  Sta. 


—       231       — 

Regina  genannt.  Männer,  welche  zwei  Meter  und  mehr  messen, 
sind  im  Niolo  häufig,  und  mit  dem  zottigen  Pelone  bekleidet, 
machen  diese  Riesen  einen  wildeu  Eindruck.  Das  Niolo  war 
von  jeher  der  Schauplatz  der  wildesten  Vendetten,  noch  heute 
werden  zahlreiche  Gensdarmen  dort  aufgeboten,  wenn  Markt  ist, 
um  blutige  Kämpfe  zu  verhindern.  Auch  sonst  zeichnet  sich  der 
Korse  durch  kräftigen,  gedrungenen  Körperbau  aus.  Er  ist  ge- 
weckten Geistes,  außerordentlich  bildungsfähig  und  ehrgeizig, 
Vaterlands-  und  freiheitsliebend,  kriegerisch  und  tapfer,  aber  auch 
leidenschaftlich  und  zu  Gewalttaten  geneigt.  Die  Volksbildung 
ist  allerdings  noch  sehr  dürftig,  Aberglaube  führt  allgemein  noch 
die  Herrschaft.  Das  eigentliche  Gebirgsvolk  zeichnet  sich  ebenso 
sehr  durch  Einfachheit  wie  Reinheit  der  Sitten  aus.  Untreue  ist 
selten  und  gilt  als  schwerste  Verschuldung.  Gastfreiheit  wird  in 
Ehren  gehalten,  selbst  gegenüber  dem  der  Vendetta  Verfallenen. 
Bettler  gibt  es  nicht,  außer  in  einigen  Städten,  wo  der  Unverstand 
der  Fremden  sie  groß  zieht.  Die  öffentliche  Sicherheit  läßt  für 
jeden,  der  nicht  in  Blutrache  verwickelt  ist,  nichts  zu  wünschen 
übrig.  Doch  dringen  neuerdings  manche  Schattenseiten  höherer 
Gesittung  ein.  Der  Absynthgenuß  z.  B.  hat  von  Frankreich  her 
in  Schrecken  erregender  Weise  Verbreitung  gefunden.  Bezeich- 
nend für  Charakter  und  Gesittung  der  Korsen  ist  jedoch  die 
klägliche  Stellung  der  Frau,  obwohl  einzelne  Frauen  wegen  helden- 
hafter Taten  viel  gepriesen  werden.  Alle  Arbeit  lastet  auf  der 
Frau,  sie  verblüht  daher  rasch.  Sie  ist  mehr  die  Sklavin  als  die 
Genossin  des  Mannes.  Sie  darf  nur  das  Mahl  bereiten,  aber 
nicht  mit  dem  Manne  bei  Tische  sitzen;  ja,  es  gibt  viele  Familien, 
in  denen  ein  besseres  Brot  für  die  Männer,  ein  geringeres  für 
die  Frauen  gebacken  wird! 

Manches  Altertümliche  hat  sich  wie  bei  anderen  Gebirgs- 
oder  Inselvölkern  auch  bei  den  Korsen  erhalten.  Eigenartig  ist 
die  Totenverehrung.  Für  die  Eltern  trägt  man  drei  bis  vier  Jahre 
Trauer,  für  Gatten  das  ganze  Leben,  wenn  nicht  eine  neue  Ehe 
geschlossen  wird.  Jede  Familie  ist  bemüht,  eine  eigene  Toten- 
kapelle zu  besitzen,  vorwiegend  kleine  viereckige,  weiß  getünchte 
Bauwerke  mit  Kuppelgewölbe,  die  den  Kubbas,  den  Gräbern 
mohammedanischer  Heiliger,  wie  man  sie  in  Nordafrika  so  häufig 
sieht,  auffallend  ähneln,  namentUch  wenn  sie,  wie  häufig,  ver- 
einzelt und  weithin  sichtbar  auf  den  Kuppen  der  Hügel  errichtet 


—       22,2       — 

sind.  Hier  und  da  stehen  sie,  wie  bei  Ajaccio,  in  langen  Reihen 
nebeneinander,  von  Zypressen  beschattet.  Schmuckloser  sind  die 
zahlreichen  Kreuze  an  den  Wegen,  die  die  Stätte  bezeichnen, 
wo  ein  Mord  verübt  wurde.  Hierher  gehören  auch  die  Toten- 
klagen, die  Voceri,  die  sich  hier  wie  in  Sardinien  und  anderen 
abgeschlossenen  Landschaften  noch  erhalten  haben.  Meist  in 
wehklagendem  Tone  von  den  Weibern  vorgetragene  gereimte 
Improvisationen  zur  Verherrlichung  des  Toten,  seiner  Tugenden, 
seiner  Taten,  wohl  auch  Vorwürfe,  daß  er  sie  verlassen  habe, 
vermögen  dieselben,  wenn  sie  einem  Ermordeten  gelten,  auch  auf 
den  Unbeteiligten  einen  furchtbaren  Eindruck  zu  machen.  Die 
Weiber  tauchen  ihre  Taschentücher  in  die  blutenden  Wunden, 
benetzen  die  Leiche  mit  ihren  Tränen,  lassen  ihre  aufgelösten 
Haare  wehen,  erheben  die  Hände  in  höchster  Leidenschaft  gen 
Himmel  und  stoßen  Schreie  der  Verzweiflung  aus.  Die  Männer 
zücken  dann  die  Dolche,  stoßen  mit  den  Gewehren  auf  und 
brechen  in  furchtbare  Schwüre  der  Rache  aus. 

Die  Blutrache  ist  auch  ihrerseits  ein  Ausdruck  tieferer  Ge- 
sittung und  daher  namentlich  bei  Gebirgsvölkern  noch  recht  häufig, 
in  Europa  beispielsweise  noch  bei  den  Mainoten  und  den  Alba- 
nesen.  Es  ist  daher  unrichtig,  wenn  behauptet  worden  ist,  das 
genuesische  System,  eine  Familie  gegen  die  andere  zu  hetzen, 
um  eine  Einigung  gegen  den  gemeinsamen  Feind  zu  verhindern, 
habe  die  Vendetta  erst  ins  Leben  gerufen.  Gefördert  hat  es 
dieselbe  gewiß.  Die  Blutrache,  gar  nicht  selten  durch  einen  un- 
beabsichtigten Totschlag  hervorgerufen,  erbt  sich  vom  Vater  auf 
den  Sohn  und  weiter,  sie  nimmt  immer  größere  Ausdehnung  an, 
daß  oft  die  eine  Hälfte  eines  Dorfes  gegen  die  andere,  ein  Dorf 
gegen  das  andere  zu  Felde  lag.  Es  ist  vorgekommen,  daß  die 
erwachsene  Schwester  den  kleinen  Bruder  bei  der  Totenklage 
das  Blut  des  ermordeten  Vaters  saugen  und  ihn  dabei  schwören 
ließ,  den  Toten  zu  rächen,  sobald  er  ein  Gewehr  führen  könnte. 
Und  der  Knabe  erfüllte  den  Schwur,  noch  ehe  er  erwachsen  war. 
Zehn  Jahre  lang  (1830 — 1840)  lieferten  in  Sartene,  der  viert- 
größten Stadt  der  Insel,  in  deren  Umgebung  die  Vendetta  noch 
am  meisten  blüht,  die  Bewohner  der  unteren  Stadt  denen  der 
oberen  blutige  Gefechte;  ja  noch  anfangs  der  neunziger  Jahre 
ist  es  nahe  bei  Ajaccio  zu  einem  Gefecht  verfeindeter  Familien 
gekommen,    bei  welchem  vier  Tote   auf  dem  Platze   blieben  und 


—      2S3     — 

es  mit  Mühe  einflußreichen  Männern  gelang,  Frieden  zu  stiften, 
den  alle  Männer  der  gegnerischen  Familien  feierlich  in  der  Kirche 
auf  dem  Altare  unter  dem  Läuten  der  Glocken  und  Ausstellung 
der  Sakramente  unterschreiben  mußten.  Zuweilen  wird  auch  durch 
Abschluß  einer  Ehe  der  Frieden  besiegelt.  Nicht  selten  endet 
aber  die  Fehde  mit  der  Austilgung  einer  ganzen  Familie.  Im 
Innern  der  Insel  kann  man  selbst  die  Gemeinderäte  mit  dem  ge- 
ladenen Gewehr  in  der  Hand  oder  umgehängt  ins  Rathaus  zur 
Sitzung  kommen  sehen.  Auch  heute  noch  ist  die  Achtung  vor 
dem  Gesetz  so  gering,  daß  sich  dies  in  viel  gebrauchten  Sprich- 
wörtern ausprägt,  wie  z.  B.:  Ich  lege  mehr  Gewicht  auf  ein 
gutes  Gewehr  als  auf  einen  guten  Richter,  oder:  Wenn  man 
einen  Feind  hat,  so  hat  man  die  Wahl  zwischen  drei  S:  schiop- 
petta,  stiletto,  strada,  d.  h.  Flinte,  Dolch,  Flucht.  Sich  selbst 
Recht  zu  verschaffen,  gilt  für  so  heilige  Pflicht,  daß,  wer  es  unter- 
läßt,  der  Verachtung  anheim  fällt  und  man  sich  lieber  dem  Tode 
als  der  Schande  aussetzt.  Einen  Mörder  aus  Blutrache  pflegen 
korsische  Geschworene  freizusprechen,  und  wer  nach  einem 
solchen  Morde  in  die  INIacchia  flieht,  ist,  solange  er  kein  gemeines 
Verbrechen  begeht  oder  gar  einer  Frau  zu  nahe  tritt,  der  all- 
gemeinen Teilnahme  sicher.  Die  Hirten  des  Gebirges  gewähren 
ihm  Zuflucht,  die  ganze  Familie,  der  ganze  Clan  unterstützt  einen 
aus  solchen  Gründen  Verfolgten  gegen  die  Behörden  und  ihre 
Organe.  Wollte  jemand  gegen  Geld  einen  derartig  Verfolgten 
verraten,  der  Rächer  selbst  würde  ihn  töten.  So  ist  es  möglich 
gewesen,  daß  im  Schutz  der  Macchien  derartige  Banditen,  die 
also  keineswegs  gemeine  Räuber  sind,  Jahrzehnte  lang  allen  Ver- 
folgungen spotten  konnten,  ja  die  berühmte  Banditenfamilie  der 
Bella  Coscia  hielt  ein  halbes  Jahrhundert  die  Gensdarmerie  in 
Bewegung  und  schloß  1892  unter  Gewährung  völliger  Amnestie 
mit  der  Regierung  förmHch  Frieden.  Schon  1870  war  still- 
schweigend ein  Waffenstillstand  eingetreten,  als  dieselben  eine 
Kompanie  Franktireurs  gegen  die  Deutschen  ins  Feld  stellten.  Im 
vorigen  Jahrhundert  scheint  die  furchtbare  Unsitte  ihre  größte 
Entwicklung  erlangt  zu  haben.  Es  erlagen  derselben  in  manchem 
Jahre  bis  zu  1000  Männer,  meist  natürlich  in  der  Blüte  der  Jahre, 
ja  es  wird  die  Zahl  von  30000  für  dreißig  Jahre  angegeben. 
Mit  so  großem  Erfolge  die  Franzosen  auch  dagegen  angekämpft 
haben,    so   beziff"erten    amtliche   Angaben,    die    aber   sicher  hinter 


—     234     — 

der  Wahrheit  zurückbleiben,  die  von  182  i  — 1852  verübten  Morde 
noch  immer  auf  4300,  und  nachdem  sich  dieselben  unter  Na- 
poleon in.  durch  Einführung  strenger  Spezialgesetze  sehr  ge- 
mindert hatten,  scheinen  sie  in  der  allerneuesten  Zeit  nach  deren 
Aufhebung  sich  wieder  zu  mehren.  Man  schätzte  in  den  letzten 
Jahren  die  Zahl  der  in  den  Macchien  und  Bergen  umherirrenden 
Banditen  auf  sechshundert.  Nicht  selten  vereinigen  sie  sich  zu 
dreißig  bis  vierzig,  nie  aber  bilden  sie  wirkliche  Räuberbanden. 
Sie  erheben,  wenn  die  Not  sie  zwingt,  nur  bei  nächtlicher  Weile 
in  den  Dörfern  die  unerläßlichen  Lebensbedürfnisse,  die  ihnen 
niemand  versagt.  Auch  wird  der  gewöhnliche  Reisende,  nament- 
lich wenn  er  der  Landessprache  nicht  kundig  ist,  und  das  Miß- 
trauen, welches  der  Korse  jedem  Fremden  entgegenbringt,  zu 
brechen  vermag,  kaum  etwas,  es  sei  denn  durch  Zufall  im  men- 
schenleeren Hochgebirge,  von  Banditen  und  Banditentum  merken. 
Diese  Mitteilungen  beruhen  daher  auch  vorzugsweise  auf  fran- 
zösischen bzw.  einheimischen  Quellen. 

Ausgefüllt  mit  fast  ununterbrochenen  Kämpfen  der  einzelnen 
Familien  und  Clane  untereinander  oder  gegen  die  Fremdherr- 
schaft, besonders  der  Genuesen,  kennt  die  Geschichte  von  Korsika 
an  Zügen  ungebändigter  Leidenschaft  und  Rachsucht,  an  der 
Fülle  furchtbarer  Bluttaten  kaum  ihresgleichen;  andererseits  kann 
sie  sich  aber  auch  an  Taten  aufopfernder  Vaterlandsliebe  vielleicht 
nur  mit  mittelalterlicher  Geschichte  des  rauhen  Norwegens  messen. 
Sampiero,  der  große  Patriot  des  16.  Jahrhunderts,  der  sich  in 
Frankreich  und  Italien  vom  einfachen  Söldner  zum  berühmten 
Condottiere  aufgeschwungen  und,  heimgekehrt,  die  Genuesen  fast 
von  der  Insel  vertrieben  hatte,  erwürgt  mit  eigener  Hand  sein 
junges,  schönes  Weib,  so  glühend  er  es  liebt,  als  der  Verdacht 
auf  sie  fällt,  daß  sie  Beziehungen  zu  den  Feinden  angeknüpft 
habe.  Bald  rächt  sie  der  Dolch  eines  Verwandten.  Als  1729 
ein  allgemeiner  Aufstand  gegen  die  Bedrücker  ausbrach,  schworen 
die  jungen  Mädchen  von  Corte,  keinem  Manne  ihre  Hand  zu 
schenken,  solange  noch  der  Fuß  eines  Genuesen  den  Boden  der 
Heimat  beschmutze.  In  der  Tat  gelang  es,  die  Zwingherren  bis 
auf  die  festen  Küstenstädte  von  der  Insel  zu  verdrängen  und  die 
ewige  Trennung  derselben  von  Genua  auszusprechen,  so  daß  ein 
Abenteurer,  ein  westfälischer  Edelmann,  Theodor  von  Neuhof, 
der  sich  rasch  die  Herzen  der  Korsen  zu  gewinnen  gewußt  hatte, 


—      235      — 

sich  1736  zum  Könige  von  Korsika  ausrufen  lassen  konnte.  Frei- 
lich war  die  Herrlichkeit  nicht  von  Dauer;  bis  1768  behaupteten 
sich  noch  die  Genuesen  auf  der  Insel  und  traten  sie  dann  an 
Frankreich  ab,  das  sich  jedoch  auch  nur  durch  Eroberung  in 
ihren  Besitz  setzen  konnte  und  erst  1796  sie  endgültig  mit  sich 
vereinte. 

So  versteht  man,  wie  sich  weder  die  Bevölkerung  vermehren 
noch  der  Wohlstand  und  die  Gesittung  heben  konnte,  und  Frank- 
reich hier  noch  eine  große  Aufgabe  zu  lösen  hat.  Aber  zu  den 
Naturreizen  kommt  auf  der  Insel  die  Fülle  der  geschichtlichen 
Erinnerungen,  um  jeder  Örtlichkeit  derselben  eine  besondere 
Anziehung  zu  verleihen. 


IV.  Die  Iberische  Halbinsel. 


I.  Geographische  Skizze  der  Iberischen  Halbinsel.  0 

Hinter  den  Pyrenäen  fängt  Afrika  an,  lautet  ein  französisches 
Sprichwort.  Wir  Deutschen  sagen:  das  kommt  mir  spanisch  vor; 
die  Spanier  selbst  sprechen  von  Cosas  d'  Espana.  Alle  diese 
sprichwörtlichen  Wendungen  sollen  andeuten,  daß  in  Spanien,  wie 
es  tatsächlich  der  Fall  ist,  manches  absonderlich  und  jedenfalls 
anders  ist  als  im  übrigen  Europa.  Die  Erklärung  dieser  Er- 
scheinung haben  wir  wohl  zunächst  in  der  Landesnatur  und  den 
von  diesen  beeinflußten  geschichtlichen  Verhältnissen  zu  suchen. 
Die  Iberische  Halbinsel  ist  ein  Länderindividuum  mit  so  scharf 
ausgeprägten,  eigenartigen  Zügen,  daß  sich  kein  zweites  ihm  in 
Europa  zur  Seite  stellen  läßt,  und  nur  etwa  Arabien  oder  Afrika 
Vergleichspunkte  bieten.  Sie  ist  eine  Welt  für  sich,  eine  Welt 
der  Gegensätze.  Einem  hohen,  weit  nach  SW  vorgestreckten  Vor- 
gebirge Europas  vergleichbar,  eine  zu  sieben  Achtel  meerumflossene 
Halbinsel,  trägt  sie  doch  im  wesentlichen  die  Züge  einer  ge- 
schlossenen Festlandsmasse,  mit  geringen  Beziehungen  zum  Meer, 
überwiegend  festländischem,  aber  an  Gegensätzen  überreichem 
Klima.  Sie  umfaßt  trotz  geringer  meridionaler  Erstreckung  über 
noch  nicht  acht  Breitengrade,  neben  den  regenreichsten  Gebieten 
von  ganz  Europa,  neben  Landschaften  mit  sommergrünen  Wäldern 
und  Wiesen  wie  in  Deutschland,  wo  die  Bewohner  Apfelwein 
trinken,  die  niederschlagsärmsten  Striche  unseres  Erdteils,  wo  nur 
künstliche  Bewässerung,  etwa  wie  am  Nordrand  der  Sahara,  dem 
dürren  Steppenboden  Ernten   entlockt   und    neben  den   feurigsten 


i)  Ein  Vortrag  gehalten  in  der  Ges.  für  Erdkunde  zu  Berlin  am  4.  März 
1893.     Verh.  G.  E.  Berlin   1893   S.  131  — 146. 


—     237     — 

Weinen  Südeuropas  das  Zuckerrohr  gedeiht  und  die  Dattelpalme 
in  ausgedehnten  Hainen  ihre  Früchte  reift!  Abgesondert  und  in 
sich  abgeschlossen,  auf  sich  angewiesen  und  auch  nach  der  Fülle 
und  der  Mannigfaltigkeit  ihrer  Erzeugnisse  befähigt  ein  Sonder- 
dasein zu  führen,  besitzt  die  Halbinsel  doch  vermöge  ihrer  Ober- 
flächengestalt so  grelle  landschafthche,  im  Zusammenhang  damit 
wirtschaftliche  und  ethnische  Gegensätze,  daß  sie  zur  Bildung 
einer  politischen  Einheit  dennoch  unfähig  erscheint. 

Abgeschlossenheit  und  Vereinsamung,  das  sind  die  auffällig- 
sten Charakterzüge  der  Iberischen  Halbinsel,  sie  haben  dort  in 
erster  Linie  Verhältnisse  geschaffen,  die  dem  Reisenden  in  Spanien 
so  vieles  spanisch  vorkommen  lassen.  Als  der  Gliederung  und 
der  Inselbegleitung  fast  ganz  entbehrendes,  geschlossenes  Fünfeck 
erhebt  sich  dieselbe  steil  aus  großen  Meerestiefen  zu  einer  mitt- 
leren Höhe  von  etwa  640  m;  nach  dieser  bedeutenden  Höhe, 
nach  der  Geschlossenheit  der  Oberflächengestalt  wie  der  Umrisse 
und  der  vorherrschenden  Trockenheit  des  Klimas  in  der  Tat  ein 
europäisches  Afrika.  Gegen  Frankreich  ist  der  hohe,  geschlossene 
Wall  der  Pyrenäen  aufgetürmt;  hinter  diesem  liegt  der  tiefe  Gra- 
ben des  Ebrobeckens,  welchem  wiederum  das  eigentliche  Iberische 
Tafelland  seinen  höchsten  Teil  als  Steilrand  zukehrt.  So  betritt 
man  zu  Land  die  Halbinsel  nur  auf  den  Wegen  um  die  Enden 
der  Pyrenäen,  von  denen  sich  der  eine  durch  das  baskische,  der 
andere  durch  das  katalonische  Bergland,  wie  über  Brücken  zum 
Tafelland  selbst  fortsetzt.  Im  Norden  schließt  das  hohe  kanta- 
brische  Gebirge  vom  Verkehr  über  das  stürmische  Biscayische 
Meer  mit  schon  ferneren  Gegengestaden,  etwa  mit  der  Bretagne, 
England  und  Irland  ab;  am  Südrand,  welchem  das  nahe,  aber 
auch  durch  hohe  Bergketten  abgeschlossene  Gegengestade  von 
Kleinafrika  gegenüberliegt,  erhebt  sich  das  noch  höhere,  aber 
doch  tiefere  Querfurchen  aufweisende  andalusische  Faltungssystem. 
So  kehrt  die  ganze  Halbinsel  sozusagen  Europa  und  den  Nach- 
barländern den  Rücken  und  vermag  nur  schwer  die  Vermittler- 
rolle zwischen  Europa  und  Nordwestafrika,  zu  der  sie  doch  auf 
den  ersten  Blick  berufen  erscheinen  möchte,  zu  spielen.  Nur 
einmal,  in  der  Blütezeit  der  mohammedanischen  Herrschaft,  hat 
sie  derselben  entsprochen.  Aber  um  so  innigere  Beziehungen 
unterhält  sie  vielleicht  zum  Ozean?  Zu  diesem  neigt  sie  sich  ja, 
diesem    sendet    sie    ihre    großen   Ströme    zu?     Auch    dies    nicht; 


—     238      - 

denn  letztere  sind  wasserarme,  echtafrikanische  Hochlandströme, 
die  das  Innere  nicht  erschließen.  Ohne  Inselbegleitung,  ohne 
Gegengestade,  ohne  eigentliches  Hinterland,  wenn  auch  nicht 
gerade  arm  an  Häfen,  vermochten  die  meist  steilen  und  schmalen 
Küstensäume  keine  seetüchtige  Bevölkerung  großzuziehen.  Nur 
in  Katalonien  mit  den  Balearen,  und  später  wohl  auch  im  Basken- 
lande, war  dies  geschehen;  an  den  Ozeanküsten  mußte  Seever- 
kehr von  außen  eingebürgert,  die  Bevölkerung  von  Fremden  zu 
Seefahrern  erzogen  werden.  Es  ist  urkundlich  bezeugt,  daß 
wiederholt  zu  Beginn  des  12.  Jahrhunderts  genuesische  SchifTs- 
bauer  und  Seeleute  nach  Galizien  berufen  wurden,  um  die  Be- 
wohner dieser  doch  so  fischreichen  Küsten  gegen  maurische  See- 
räuber zu  schützen.  Ähnlich  erscheinen  Genuesen  als  Admiräle 
und  Kapitäne  der  Flotten  von  Kastilien  im  Kampf  gegen  die 
Mauren  im  13.  und  14.  Jahrhundert;  noch  im  16.  Jahrhundert 
lag  in  Spanien  die  wissenschaftliche  Leitung  des  Seewesens,  die 
Prüfung  der  angehenden  Steuermänner,  die  Ausarbeitung  von 
Segelanweisungen  ganz  in  den  Händen  von  Italienern.  In  Por- 
tugal betrieben  umsichtige  Herrscher  die  nautische  Erziehung 
ihres  sich  sehr  langsam  aus  einem  durchaus  festländischen,  meer- 
scheuen in  ein  seefahrendes  verwandelnden  Volkes  ganz  syste- 
matisch. Noch  liegen  uns  die  Urkunden  vor,  durch  welche  ein 
genuesischer  Admiral,  Emmanuel  Pessagno,  13 17  in  die  Dienste 
Portugals  trat  und  sich  verpflichtete,  stets  zwanzig  des  Seewesens 
kundige  Genuesen  als  Kapitäne  und  Piloten  im  Dienst  des  Königs 
zu  halten.  Hundert  Jahre  lang  waren  Italiener  mit  der  Leitung 
des  portugiesischen  Seewesens  betraut,  wie  solche  ja  auch  später 
noch  trotz  der  nationalen  Eifersucht  als  Entdecker  in  portu- 
giesischen Diensten  auftreten;  denn  noch  im  15.  Jahrhundert 
waren,  nach  dem  Zeugnis  des  Barros,  des  zeitgenössischen  por- 
tugiesischen Geschichtschreibers  des  Entdeckungszeitalters,  die 
nautischen  Keimtnisse  der  Portugiesen  so  gering,  daß  sie  ihnen 
nicht  erlaubten,  die  Küsten  außer  Sicht  zu  verlieren.  So  sehen 
wir,  daß  sorgsame,  lange  andauernde  Schulung  der  Ozeananwohner 
durch  auf  dem  Mittelmeer  ausgebildete  Seeleute  die  Halbinsel 
erst  aus  ihrer  Vereinsamung  gerissen  hat.  Wie  Italiener  schon 
vorher,  wie  einst  im  Altertum  die  Phöniker  auf  ihren  Fahrten 
nach  Flandern  und  England  die  Häfen  der  Halbinsel,  besonders 
Lissabon,  mit  ihren  Flotten  belebt  hatten,  so  haben  Italiener  den 


—     239     — 

Grund  gelegt  zur  Entwicklung  Portugals  zur  Welthandels-  und 
Kolonialmacht,  so  hat  ein  Italiener  der  Halbinsel  erst  ihr  fernes 
Gegengestade  gegeben,  das  wir  mit  Recht  auch  nach  einem  Ita- 
liener benennen.  Durch  die  Entdeckungen  an  der  Westküste 
Afrikas,  durch  die  Entdeckung  Amerikas,  deren  Gedenkfeier  ja 
soeben  die  ganze  gesittete  Welt  begangen  hat,  ist  die  Halbinsel 
erst  in  eine  günstigere  Weltstellung  gerückt  worden.  Denn  unter 
allen  Ländern  Europas  liegt  sie  Zentral-  und  Südamerika  wie 
Westafrika  am  nächsten,  sie  streckt  sich  denselben  förmlich  ent- 
gegen, und  Cadiz,  Sevilla  und  Lissabon  erscheinen  wie  zu  Aus- 
gangspunkten des  Verkehrs  nach  jenen  Ländern  bestimmt.  Es 
haben  so  die  geographischen  Verhältnisse  mitgewirkt,  daß  Spanien 
und  Portugal  jene  ihre  fernen  Gegengestade  so  lange  beherrscht 
und  unter  Ausschluß  aller  andern  Völker  ausgebeutet,  auf  die- 
selben den  tiefgreifendsten  Einfluß  ausgeübt  haben.  Freilich 
dauerte  diese  Zeit  größter  Blüte  nicht  lange;  denn  sie  war  nicht, 
wie  etwa  bei  England,  in  der  gesamten  Landesnatur  begründet, 
sondern  bis  zu  einem  gewissen  Grade  künstlich  herbeigeführt. 
Die  in  Portugal  auch  ethnische,  die  Portugiesen  von  den  Spaniern 
differenzierende  Rückwirkung  jener  fernen,  übergroßen,  auf  einer 
tiefen  Gesittungsstufe  stehenden  Länder,  die  ihre  Schätze,  fast 
ohne  eigene,  erziehende  Arbeit  ihrer  Bewohner,  über  die  Halb- 
insel ergossen  hatten,  trug  zu  dem  schon  mit  dem  17.  Jahrhundert 
beginnenden  Verfall  bei;  die  Vereinsamung  trat  nun  um  so  mehr 
wieder  hervor,  als  die  Bewohner  der  Halbinsel,  die  all  ihr  Denken, 
alle  ihre  Spannkraft  auf  die  Behauptung  jener  großen  über- 
seeischen Staatsdomänen  zu  richten  hatten,  sich  Europa  mehr  und 
mehr  entfremdeten.  Die  Beziehungen  zu  jenen  Ländern  sind 
Spanien  und  Portugal  somit  geradezu  verhängnisvoll  geworden; 
zurückgeblieben,  verarmt,  entvölkert,  wiegt  die  Halbinsel,  obwohl 
sie  an  Größe  das  Deutsche  Reich  beträchtlich  überragt,  heute 
recht  leicht  in  der  Wagschale  der  europäischen  Politik,  und  ihre 
Bewohner  haben  auf  die  Entwicklung  der  menschlichen  Gesittung 
in  den  letzten  Jahrhunderten  fast  gar  keinen  Einfluß  auszuüben 
vermocht. 

Wenn  wir  die  Ursachen  dieser  Erscheinungen  bis  zu  ihren 
letzten  Wurzeln  verfolgen,  so  liegen  dieselben  sämthch  in  der 
Landesnatur,  vor  allem  in  der  Oberflächengestalt  der  Halbinsel, 
und  diese  wird   gekennzeichnet   durch    den    alles  beherrschenden 


—     240     — 

Gegensatz  eines  großen  zentralen  Gebiets  und  der  sich  rings- 
um anlagernden  schmalen  Randlandschaften.  Ein  Meister 
unserer  Wissenschaft  hat  uns  zuerst  ein  tieferes  Verständnis  des 
Erdteils  Asien  erschlossen,  indem  er  vor  allem  den  Gegensatz 
zentraler  und  peripherischer  Gebiete  klar  darlegte.  Einen  ähn- 
lichen Gegensatz,  wenn  auch  im  kleinen  und  gemildert,  auf  den 
sich  auch  die  Begriffe  zentral  und  peripherisch  nicht  in  voller 
Schärfe  anwenden  lassen,  haben  wir  auf  der  Iberischen  Halb- 
insel. Diesen  alles  beherrschenden  Gegensatz,  der  jeden  Reisen- 
den, wo  immer  er  aus  den  Randlandschaften  zu  den  zentralen 
emporsteigt,  in  seiner  Unvermitteltheit  in  Staunen  versetzen 
muß,  gestatten  Sie  mir  wohl  hier  etwas  eingehender  zu  beleuchten. 

Zu  diesem  Zweck  wäre  es  nötig,  ein  Bild  der  Oberflächen- 
gestalt der  Halbinsel  selbst  zu  entwerfen.  Das  wäre  aber  nur 
möglich  unter  Eingehen  auf  die  geologische  Geschichte  und  die 
Tektonik,  so  daß  ich  fürchten  müßte,  Ihre  Aufmerksamkeit  zu 
lange  in  Anspruch  zu  nehmen.  Ich  bescheide  mich  daher  mit 
einem  Entwurf  in  großen  Zügen,  etwa  als  legte  ich  Ihnen  eine 
Karte  aus  einem  kleinen  Schulatlas  vor. 

Der  Kern  derselben  und  reichlich  drei  Viertel  ihres  Flächen- 
inhalts wird  gebildet  von  der  alten  Iberischen  Scholle,  einem  der 
ältesten  Stücke  des  europäischen  Festlandes.  Aufgebaut  aus 
archäischen  und  paläozoischen  Felsarten,  war  dieser  Teil  der 
festen  Erdkruste  zu  Ende  der  Karbonzeit  zu  einem  gewaltigen 
Gebirge  von  alpinen  Verhältnissen  zusammengefaltet  worden. 
Heute  ist  von  demselben,  nachdem  fast  ringsum  Randstücke  auf 
sich  nahezu  rechtwinklig  schneidenden  Systemen  von  Bruchlinien 
in  die  Tiefe  gesunken  sind,  und  der  Rest  einer  lange  dauernden 
Abtragung,  teils  durch  die  Brandungswoge  des  Meeres,  teils  durch 
die  zerstörenden  Kräfte  des  Luftkreises  ausgesetzt  gewesen  ist, 
nur  noch  das  Grundgerüst  vorhanden.  Aber  selbst  dieses  tritt 
nur  am  Westrand  der  Halbinsel  unverhüllt  zutage,  sonst  trägt  es 
überall  eine  mächtige  Decke  wagerecht  liegender  Schichten, 
welche  aus  den  Trümmern  des  alten  Gebirges  im  mesozoischen 
Zeitalter  auf  dem  Grund  des  über  die  alte  Scholle  hinüber- 
greifenden Meeres,  in  der  Tertiärzeit  in  ungeheuren,  dieselbe 
zum  Teil  bedeckenden  Süßwasserseen  gebildet  wurden.  Die 
weiten  Ebenen  von  Alt-  und  Neukastilien  auf  der  einen,  von 
Aragonien  auf  der  andern  Seite  entsprechen  den  großen  tertiären 


—      241       — 

Seen,  zu  denen  noch  eine  Anzahl  kleinerer  hinzukommt;  das 
beide  voneinander  scheidende  Gebirge  besteht  aus  den  nur  durch 
Bruchlinien  zerstückten  und  durch  die  rinnenden  Wasser  ge- 
gliederten, wagerecht  liegenden  Schichten  jener  mesozoischen 
Transgression ,  die  durch  eine  wohl  zu  Ende  der  Tertiärzeit  er- 
folgte Hebung  zur  Hauptwasserscheide  der  Halbinsel  und  zur 
größten  INIassenanschwellung  derselben  wurde,  ein  Gebiet,  welches 
in  einer  Ausdehnung  von  mehr  als  55  000  qkm  eine  mittlere 
Höhe  von  mehr  als  1000  m  hat.  Auch  wo  das  Grundgerüst  der 
Iberischen  Scholle  der  jüngeren  Decke  entbehrt,  erscheint  es  glatt 
abgeschliffen  wie  im  südUchen  Portugal  in  großer  Ausdehnung  als 
Ebene;  in  andern  Gegenden  ist  die  Faltung  ähnlich  wie  in  un- 
serem Rheinischen  Schiefergebirge,  an  welches  man  vielfach  er- 
innert wird,  in  niederen,  dem  Taunus  zu  vergleichenden  Höhen- 
zügen erkennbar,  und  wiederum  anderwärts,  namentlich  in  Nord- 
westen, haben  Granitdurchbrüche  in  einer  Ausdehnung  von  etwa 
50  000  qkm  ein  unregelmäßiges  Berg-  und  Hügelland  hervor- 
gerufen. Überall  aber  sind  die  relativen  Höhen  gering,  außer  in 
dem  zentralen  Scheidegebirge,  über  dessen  genetische  Beziehungen 
wir  noch  nicht  hinreichend  aufgeklärt  sind,  das  aber  doch  wohl 
als  eine  Reihe  von  Horsten  aufzufassen  ist.  Da  somit  der  größte 
Teil  der  alten  Scholle  eine  jüngere  Decke  tafellagernder  Schichten 
trägt,  auch  die  unbedeckten  Teile  vielfach  zur  Form  der  Ebene 
abgeschUffen  sind,  so  glauben  wir  die  Oberflächengestalt  am  besten 
zu  kennzeichnen,  wenn  wir,  nach  A.  v.  Humboldts  Vorgang  die 
einheimische  Bezeichnung  Meseta  übertragend,  von  einem  Ibe- 
rischen Tafelland  sprechen. 

Diesem  gewaltigen  Hauptbau  der  Halbinsel  sind  nun  später 
zwei  Anbauten  hinzugefügt  worden,  so  grundverschieden  nach 
Plan  und  Stil,  wie  es  etwa  Baumeister  früherer  Jahrhunderte 
fertig  brachten,  fast  als  hätte  man  an  einen  alten  massigen  do- 
rischen Tempel,  die  Iberische  Scholle,  als  Seitenflügel  zwei  reich 
gegUederte,  himmelanstrebende  luftige  gotische  Dome  angebaut: 
das  andalusische  Faltensystem  im  Süden,  das  pyrenäisch-kanta- 
brische  im  Norden.  Beide  haben  ihre  Ausgestaltung  erst  in  der 
zweiten  Hälfte  der  Tertiärzeit  erfahren  und  sind  durch  seitlichen 
Druck  gegen  die  alte,  tief  verfestigte  Scholle  hingepreßt  und 
emporgefaltet  worden,  die  sie  nun  als  hohe  Wälle  vom  Meer  ab- 
schließen.    Hier  haben  wir   es  also  mit  parallelen,  durch  Längs- 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  l6 


—     242     — 

und  Quertäler  gegliederte  Gebirgsketten  zu  tun,  welche  ihrer 
Höhe  nach  in  Europa  nur  von  den  Alpen  übertroffen  werden 
und  somit  das  Tafelland  weit  überragen,  Gebirge  von  großer 
Mannigfaltigkeit  des  inneren  Baues  und  überaus  wechselvollen 
Oberflächenformen. 

Die  dem  zentralen  Tafelland  an-  und  vorgelagerten  Rand- 
landschaften besitzen  somit  als  Faltenlandschaften  eine  zum  Teil 
schon  in  ihrer  Entstehung  begründete,  von  diesem  völlig  ver- 
schiedene Oberflächengestalt;  zum  Teil  ist  dieselbe,  wo  es  sich 
nur  um  die  Abdachung  der  alten  Scholle  zum  Meere  handelt, 
durch  die  rinnenden  Wasser  geschaffen  bzw.  weiter  ausgebildet 
worden.  Das  hohe,  gegen  das  Meer  fast  ringsum  durch  noch 
weit  höhere  Gebirgswälle  abgeschlossene  zentrale  Gebiet  beeinflußt 
nämlich  zunächst  in  hohem  Grad  die  klimatischen  Verhältnisse 
und  gibt  auch  diesen  im  kleinen  einen  Anstrich,  welcher  an  Asien 
erinnert.  Namentlich  entwickelt  sich  während  des  Sommers  hier 
ein  Gebiet  bedeutender  Erhitzung  und  Auflockerung  der  Luft, 
welches  Luftströmungen  von  den  umgebenden  Meeren,  nament- 
lich aber  von  N  und  NW  und  damit  besonders  große  Nieder- 
schläge an  der  ganzen  hohen  Nordseite  hervorruft.  Die  Rand- 
landschaften zeichnen  sich  daher  ringsum,  da  sie  vom  Innern 
abgeschlossen  und  mit  steilem  Anstieg  dem  Meer  zugekehrt  sind, 
durch  maritimes  Klima  aus,  also  ziemUch  gleichmäßigen  Gang 
der  Wärme,  milde  Winter,  reichliche  Niederschläge  und  so  große 
Luftfeuchtigkeit,  daß  an  einzelnen  Punkten  alles  Eisen  sofort 
rostet  und  das  Kochsalz  zerfließt.  Vor  allem  zeigen  sich  die 
Niederschlagsverhältnisse,  die  ja  durch  G.  Hellmann  vor  wenigen 
Jahren  eine  mustergültige  Darstellung  erfahren  haben,  boden- 
plastisch beeinflußt.  Die  Niederschlagshöhe  sinkt  in  den  Rand- 
landschaften nirgends  unter  60  cm,  ja  von  der  Tejomündung  um 
den  West-  und  Nordrand  bis  zur  Bidassoa  nicht  unter  80  cm, 
und  steigt  in  größeren  Gebieten  auf  160  cm,  ja  an  der  portu- 
giesischen Serra  da  Estrella  auf  3,5  m,  eine  Niederschlagshöhe, 
die  in  Europa  selten  wiederkehrt.  Und  diese  Niederschlags- 
mengen verteilen  sich  überall  am  Nordrand  auf  drei  Jahreszeiten, 
ja  selbst  der  Sommer  ist  dort  nicht  niederschlagsarm  zu  nennen. 
Nur  die  südöstlichen  Randlandschaften  von  Südvalencia  und 
Murcia,  die  in  jeder  Hinsicht  in  den  engsten  Beziehungen  zum 
Tafelland  stehen,  sind  infolge  ihrer  Lage  und  Oberflächengestalt 


—     243     — 

unter  den  Randlandschaften  verhältnismäßig  niederschlagsarm,  in 
dem  Maße,  daß  dort  vielfach  das  Land,  wo  es  nicht  künstlich 
bev^rässert  werden  kann,  im  Angesicht  des  Mittelmeers  völligen 
Steppencharakter  annimmt.  Vom  Meer  abgeschlossen,  haben  die 
inneren  Landschaften  der  Halbinsel  wesentlich  festländisches 
Klima,  heiße  Sommer  und  kalte  Winter,  bei  großer  Veränderlich- 
keit der  Temperatur  und  großer  Trockenheit.  Hier  liegen  die 
niederschlagsärmsten  Landschaften  Europas. 

Diese  Gegensätze  des  Klimas  verschärfen  nun  noch  mehr 
die  Gegensätze  der  Oberflächengestaltung.  In  den  auch  petro- 
graphisch  und  tektonisch  mannigfaltigeren  Randgebieten  besitzen 
die  reichlich  genährten  Flüsse  und  Bäche  bei  der  Steilheit  des 
Abfalls  außerordenthche  Erosionskraft,  überall  ist  das  Land  von 
meist  engen  und  tiefen  Tälern  zerschnitten,  das  Relief  ein  wechsel- 
volles. In  Asturien  hatte  man  die  größte  Mühe,  eine  ebene 
Strecke  von  nur  i  km  Länge  zu  finden,  um  eine  Standlinie 
für  die  Landestriangulation  zu  messen!  Auf  dem  Tafelland  da- 
gegen ist  bei  den  geringen  Niederschlägen  und  den  geringen 
Höhenunterschieden  die  Erosionskraft  des  Wassers  gering,  ja  es 
dürften  dort  die  Bewegtheit  des  Reliefs  mildernde  Staubablage- 
rungen nicht  ganz  wirkungslos  sein.  Bei  der  weiten  Verbreitung 
der  losen  tertiären  und  quartären  Ablagerungen,  der  großen,  das 
ganze  Jahr  herrschenden  Trockenheit  und  der  Hitze  des  Sommers 
sind  Staubstürme  dort  keine  Seltenheit;  wochenlang  lagert  sich 
im  Sommer  eine  Art  Hitznebel  über  die  weiten  Ebenen,  gebildet 
durch  feinste  Staubteilchen,  welche  mit  der  überhitzten  Luft  auf- 
steigen. Die  Erscheinung  ist  so  gewöhnlich,  daß  man  einen 
eigenen  Namen,  Calina,  dafür  hat.  Sie  ist  oft  so  intensiv,  daß 
die  Sonne  als  blasse  Scheibe  erscheint,  in  die  man  ungeschützten 
Auges  sehen  kann.  Erst  wiederholte  heftige  Regengüsse  im 
Herbst  vermögen  diese  Staubmassen  niederzuschlagen  und  die 
Luft  zu  reinigen.  Während  so  an  der  Nordküste  auch  im  Som- 
mer alles  frisch  und  grün  ist,  erscheint  die  Landschaft  in  KastiUen 
grau  in  grau;  alle  Wege  verwandeln  sich  in  tiefe  Staubbetten, 
Staub  bedeckt  die  Reste  der  verdorrten  Vegetation,  die  Felder, 
die  Häuser,   die  Menschen. 

In  den  Randlandschaften  also  ein  reich  gegliedertes  Relief, 
hohe  Berge  mit  lange  ausdauernder  Schneebedeckung,  ja  selbst 
mit  Gletschern  noch  in  Andalusien,  tiefe,  gewundene,  nicht  selten 

i6* 


—     244     — 

kanonartige  Täler,  die  alle  zum  Meer  ausmünden,  oftmals  viel- 
verzweigte, ausgedehnte,  aber  in  sich  abgeschlossene  und  schw^er 
zugängliche  Talschaften  fast  mit  alpinen  Verhältnissen,  auf  dem 
Tafelland  überall  ebenflächige  Ausbreitungen,  wie  schon  die  immer 
wiederkehrenden  Bezeichnungen  Meseta,  Paramo  und  Muela  er- 
kennen lassen,  höchstens  zu  flachwelligem  Hügelland  gegliedert, 
ja  einförmige,  baumlose,  tischgleiche  Ebenen,  in  denen  man  sich, 
wie  in  der  Mancha,  auf  hunderte  von  Kilometern  vorwärts  be- 
wegen kann,  ohne  seine  Meereshöhe  auch  nur  um  50  m  zu  ändern. 
Dort  gefällreiche,  gewerbliche  Anlagen  treibende,  zum  Teil  vom 
Hochland  durchbrechende  Flüsse,  murmelnde  Bäche,  von  Forellen 
belebt,  grüne  Wiesen  auf  den  Talsohlen  wie  in  Deutschland, 
grüne,  frische  Wälder  aus  Buchen,  Eichen,  Eschen,  Kastanien 
und  dergleichen  an  den  Berghängen,  wo  der  Boden  von  Heidel- 
beergestrüpp oder  üppigem  Farnkraut  bedeckt  ist,  efeuumrankte 
Felsen  und  Ruinen;  hier  wasserarme,  träge  dahinschleichende 
Flüsse,  die  keine  Täler  zu  bilden  vermocht  haben  und  sich 
streckenweise  in  Sümpfen  verlieren;  Bäche,  die  nur  selten  Wasser 
führen,  aber  häufig  stehende  Gewässer,  die  zwar  flach,  aber  oft 
seeartig  ausgedehnt,  im  Sommer  nicht  selten  ganz  verdunsten 
oder  salzhaltig  werden;  selbst  Salzseen  in  kleinen  abflußlosen 
Becken  in  Einsenkungen  der  Ebenen  kommen  vor;  jede  flache 
Bodenschwelle  ist  als  Ersatz  der  fehlenden  Wasserkraft  von  den 
klassischen  Windmühlen  Don  Quixotes  besetzt;  bald  herrscht, 
namentlich  auf  dem  jungen  Deckgebirge  völlige  Baumlosigkeit, 
und  erscheinen  unabsehbare  Flächen  bei  dem  geringen  Anbau 
als  dürftige  Gips-  und  Salzsteppe,  bald  sind  die  flachen  Wellen 
des  alten  Gebirges  mit  niederen,  dürftig  belaubten,  aber  vielfach 
aromatischen  und  blütenprächtigen  Gestrüppdickichten  bedeckt. 
Meist  liegen  diese  Gegensätze  so  dicht  beieinander,  daß  sie  um 
so  drastischer  wirken,  mag  man  von  Katalonien  oder  Valencia 
oder  vom  Kantabrischen  Meer  dem  Hochland  zustreben.  Denn 
ringsum  steigt  man,  die  Eisenbahnen  benutzend,  durch  zahllose 
Tunnels  und  Überbrückungen  von  den  Küsten  zum  Tafelland 
empor.  Am  größten  und  unvermittelsten  sind  die  Gegensätze 
allerdings  am  Nordrand.  Die  Eisenbahn,  um  nur  ein  typisches 
Beispiel  zu  nennen,  welche  Asturien  und  Altkastilien  verbindet, 
hat  in  60  km  Luftlinie  vom  Meeresufer  fast  Brennerhöhe  zu  er- 
klimmen  und    vermag   zuletzt    einen   Steilanstieg   von    280  m   nur 


—     245     — 

zu  überwinden,  indem  sie  eine  gerade  Entferung  von  nur  1 1  km 
zu  43  km  in  60  Tunneln  auszieht.  Aus  dem  La  Perruca-Scheitel- 
tunnel,  welcher  unter  dem  Puerto  de  Pajares  in  1283  m  Höhe 
hindurchgeführt  ist,  hervortauchend,  sieht  der  Reisende  unabsehbar 
die  einförmige  Ebene  von  Altkastilien  zu  seinen  Füßen  liegen. 
Diese  Schwierigkeiten  des  Landverkehrs  bewirken,  daß  auch  heute 
noch  Schiffahrtslinien  rings  um  die  Halbinsel,  von  Bilbao  bis 
Barcelona,  in  Betrieb  sind  und  einen  beträchtlichen  Teil  des 
Güterverkehrs  vermitteln. 

Ebenso    groß     sind    auch    die    Gegensätze    in    der    Boden- 
verwertung und  im  Ertrag  des  Bodens.    Die  Randlandschaften 
sind   überall    der  Sitz   eines   blühenden,   auf  hoher  Entwicklungs- 
stufe,   nicht   bloß    nach    spanischem  Maßstab,    stehenden  Acker- 
baues,   der   mehr   mit   der  Hacke    oder   hackeähnlichen  Geräten 
betrieben,  bei  vorherrschendem  Kleinbesitz  oder  Kleinpacht  mehr 
den    Charakter    der    Gartenwirtschaft    trägt,     in    den    nördlichen 
Randlandschaften  mit  geringer  oder  ganz  fehlender,  in  den  medi- 
terranen   unter    ausgiebigster    Anwendung    eines    wunderbar    ent- 
wickelten Systems  künstlicher  Bewässerung.     Die  Mannigfaltigkeit 
der  angebauten  Gewächse,  die  Fülle  von  Fruchtbäumen  der  ver- 
schiedensten Art  geben  der  Landwirtschaft  der  Randlandschaften 
ein    eigenartiges    Gepräge    und    rufen    den    Eindruck    ungeheurer 
Gartenlandschaften    hervor,    so    daß    ich    das    ganze    mediterrane 
Randgebiet  von  Katalonien   bis  Andalusien    geradezu  den  Gürtel 
des  Huertas  (von  hortus,  Garten)  nennen  möchte.    Die  künstliche 
Bewässerung  erhöht  dort  den  Wert  des  Bodens  und  die  Erträge 
in  dem  Maße,  daß  überall  selbst  die  großartigsten,  kostspieligsten 
Anlagen,  Terrassierungen  der  Berghänge,  bis  hoch  hinauf,   Fels- 
sprengungen,  Kanäle,   welche  weit    hin    bald   an   den  Berghängen 
entlang,    bald    in   Tunneln    durch    die    Berge,   bald   in    staunens- 
werten  Überbrückungen    über    tiefe    Schluchten   dem    fruchtbaren 
Boden    das  Wasser   zuführen,    sich   noch   lohnen.     Ganze   Flüsse 
werden    durch    Stauwerke,    wie    sie    in   Europa    nirgends   wieder- 
kehren  und    sich   etwa   nur   noch   in  Indien  finden,  zu  Seen  an- 
gespannt, welche  die  Berieselungskanäle  das  ganze  Jahr  speisen. 
Das   berühmte  Berieselungssystem    der  Huerta  von  Valencia,  das 
als  Muster  für  den  ganzen  Gürtel    der   Huertas   gelten   kann,  ist 
ja    bekannt    genug.     Düngung,    abgesehen    von    der    schon    vom 
Rieselwasser    gegebenen,    mit    Guano    und    anderen    künstlichen 


—     246     — 

Mitteln,  ja  mit  allen  irgendwie  erreichbaren  Abfallstoffen,  wie  in 
China,  wird  dort  im  reichsten  Maße  angewendet,  der  Straßen- 
schmutz, der  Kehricht  selbst,  wird  teuer  bezahlt.  So  trägt  der 
Boden  in  den  Huertas  auch  mindestens  zwei  Ernten  im  Jahr, 
meist  mehr,  und  zieht  man  besonders  hohen  Ertrag  gebende  Ge- 
wächse, wie  Zuckerrohr,  Baumwolle,  Reis,  Apfelsinen  u.  dgl.  In 
den  Huerta  von  Valencia  kann  man  die  wichtigste  Futterpflanze, 
Luzerne,  sechs  Jahre  lang  10 — I2mal  im  Jahre  schneiden.  In 
Murcia  gibt  bewässertes  Land  den  3  7  fachen  Ertrag  des  un- 
bewässerten,  und  der  Wert  des  Bodens  steigt  dort  auf  10  000 
Pesetas  (Franken)  für  den  Hektar,  ja  für  Apfelsinenland  zahlt 
man  in  der  Huerta  von  Alcira,  in  der  südlichen  Küstenebene 
von  Valencia,  18 — 24000,  ausnahmsweise  bis  30000  Pesetas! 
Solche  Preise  lassen  auf  eine  sehr  hoch  gestiegene  Bodenkultur 
schließen  und  zeigen,  daß  in  den  Randlandschaften  von  Trägheit 
und  Zurückgebliebenheit  der  Bevölkerung  keine  Rede  sein  kann. 
Bewundernd  sieht  man,  wie  vielfach,  namentlich  im  südlichen 
Katalonien,  mit  Pulver  der  Felsboden,  meist  wohl  nur  eine  der 
nordafrikanischen  ähnliche  Kalkkruste,  gesprengt  und  mit  schweren 
Hämmern  zerkleinert  wird,  um  ihn  mit  guter  Erde  gemischt  trag- 
fähig zu  machen,  oder  wie  die  Felsbrocken  zu  breiten,  hohen 
Wällen  aufgetürmt  werden,  die  dann  zugleich  Windschutz  ge- 
währen. In  solcher  Weise  ist  ein  großer  Teil  des  Campo  de 
Tarragona  allmählich  in  reiches  Fruchtland  verwandelt  worden, 
und  zwar  schon  seit  römischer  Zeit,  wie  es  andererseits  auch 
irrig  ist,  die  Bewässerungsanlagen  ausnahmslos  auf  die  Araber 
zurückzuführen.  Auch  da  können  die  christlichen  Spanier  bis  in 
die  Gegenwart  sich  großer  Leistungen  rühmen.  Ein  großer  Teil 
des  Campo  de  Tarragona  war  gebildet  aus  einer  i  m  mächtigen 
Travertinschicht,  auf  welcher  nur  die  allerbescheidensten  Vertreter 
der  Mediterranflora  Nahrung  finden;  unter  derselben  liegt  aber 
sandiger  oder  kalkiger  Ton.  Durch  Sprengen  und  Zermalmen 
des  Travertins  und  Mischung  desselben  mit  dem  Ton,  durch  Be- 
rieselung der  so  gewonnenen  fruchtbaren  Erde,  namentlich  aus 
gebohrten  Brunnen,  dehnt  sich  so  vor  unsern  Augen  noch  heute 
dies  Fruchtgefilde  immer  weiter  aus.  Nur  in  Norwegen,  wo  aber 
dem  eisernen  Fleiß  kein  so  reicher  Lohn  winkt,  kann  man  ähn- 
liches beobachten.  Freilich  von  dem  Lohn  der  Arbeit  empfängt 
hier  der  Arbeiter,   der  das  Land  mit  seinem  Schweiß  düngt,  einen 


—     247     — 

gar  zu  bescheidenen  Teil.  Er  lebt  als  kleiner  Pächter  des  über- 
großen, geschichtlich  gewordenen,  namentlich  früher  in  der  Hand 
der  Kirche  angehäuften  Großgrundbesitzes  meist  in  kläglicher 
Annut  und  nährt  sich,  oft  mitten  in  der  üppigsten  Huerta,  recht 
dürftig.  Daher  ist  es  hier  in  rein  oder  überwiegend  landwirt- 
schaftlichen Provinzen  schon  häufig  zu  sozialistischen  und  kom- 
munistischen Aufständen  gekommen.  Die  Behandlung  mancher 
Erzeugnisse,  wie  Wein  und  Öl,  ist  freilich  auch  noch  eine  so 
schlechte,  daß  dieselben  minderwertig  bleiben.  Unter  den  Aus- 
fuhrgegenständen Spaniens  stehen  die  Erzeugnisse  der  Pflanzen- 
welt bei  weitem  obenan;  sie  allein  machen  etwa  66^: ^^  der  Ge- 
samtausfuhr aus:  die  Randlandschaften  sind  es,  welche  sie  fast 
allein  liefern! 

Aber  die  Randlandschaften,  und  fast  sie  allein,  bergen  auch 
innere  Schätze.  Wie  schon  die  Phönizier  hier  ihre  Schatz- 
kammern füllten  —  es  sei  nur  an  Tartessos  erinnert  — ,  nach 
ihnen  Karthager  und  Römer,  so  ist  die  Halbinsel  heute  wiederum 
eines  der  ersten  bergbauenden  Länder  der  Erde,  in  bezug  auf 
Mannigfaltigkeit  der  bergbaulichen  Erzeugnisse  vielleicht  von 
keinem  übertroffen.  Dieser  Reichtum  mag  wohl  vorzugsweise 
darauf  beruhen,  daß  in  den  Randlandschaften  Schichtenstörungen 
am  intensivsten  und  häufigsten  waren,  daß  dort  die  archäischen 
und  paläozoischen  Felsarten  vielfach  von  Verwerfungen  zerstückt 
und  von  den  verschiedenartigsten  Eruptivgesteinen  durchsetzt  sind. 
Die  Schätze  Amerikas  hatten  den  Erzreichtum  des  eigenen  Landes 
ganz  in  Vergessenheit  gebracht;  erst  nach  dem  Verlust  der 
amerikanischen  Kolonien  erinnerte  man  sich  derselben  wieder. 
Aber  fremder  Unternehmungsgeist,  fremdes  Geld,  fremdes  Können 
und  Wissen  hat  den  spanischen  Bergbau  wieder  zur  Blüte  ge- 
bracht. Engländer,  Franzosen,  Deutsche,  Belgier,  ziehen  daher 
bis  heute  den  größten  Vorteil  aus  demselben.  Wie  oft  findet 
der  deutsche  Reisende  in  den  öden  Gebirgslandschaften  des 
Südostens  gastliche  Aufnahme  bei  einem  deutschen  Bergmann, 
der  dort  als  Leiter  eines  großen  Betriebes  ein  einsames,  ent- 
behrungsreiches und  freudenarmes  Dasein  führt.  Den  Randland- 
schaften des  Nordens  gehören  jene  überreichen  Vorkommen  der 
vortrefflichsten  Eisenerze  im  Baskenlande,  besonders  in  der  Um- 
gebung von  Bilbao  an,  wo  dieselben  in  Tagebauen,  meist  dicht 
am  Meer,   gewonnen  werden.     Eigene  Dampfer   führen  von   dort 


—      248      — 

aus  eigenen  Bergwerken  den  Kruppschen  Werken  in  Essen  die 
Erze  zu.  Auch  Asturien  ist  reich  an  Eisen,  noch  reicher  aber 
an  Steinkohlen,  die  ebenfalls  dem  Meer  nahe  billig  gewonnen 
werden.  Die  Römer  betrieben  im  westlichen  Asturien  jahrhunderte- 
lang auch  einen  großartigen  Goldbergbau,  dessen  Spuren  noch 
allenthalben  zu  erkennen  sind,  der  aber  heute  nicht  mehr  lohnen 
würde.  Das  wichtigste  Bergbaugebiet  liegt  heute  am  Südwest- 
rand der  Iberischen  Scholle  in  der  Provinz  Huelva,  wo  22  — 24^0 
des  Kupfergewinnes  der  Erde,  ebenfalls  in  Tagebauen  und  billig, 
gefördert  wird.  Ich  nenne  nur  den  allbekannten  Namen  Rio 
Tinto.  Blei  und  Silber  werden  vornehmlich  in  dem  archäischen 
und  paläozoischen  inneren  Gürtel  des  andalusischen  Falten- 
systems, in  der  Umgebung  von  Almeria  und  Kartagena,  gewonnen. 
Sonnenverbrannte,  wild  zerrissene,  wasserarme,  völlig  menschen- 
leere Gebirge  sind  dort  seit  50  Jahren  erschlossen  worden,  die 
schmale  silurische  Sierra  Almagrera,  dicht  am  Meer,  in  der 
Mitte  zwischen  den  beiden  genannten  Seestädten,  eines  der 
erzreichsten  Gebirge  der  Erde,  hat  dem  kalifornischen  Gold- 
fieber ähnliche  Erscheinungen  hervorgerufen,  als  man  1838  ihren 
Silberreichtum  wieder  entdeckte.  Auch  in  Katalonien  wird  Berg- 
bau auf  Blei  und  Silber  getrieben.  Die  130 — 150  Mill.  Pes., 
welche  dem  Wert  der  jährlichen  Ausfuhr  Spaniens  an  Erzeug- 
nissen seines  Bergbaues  entsprechen,  kommen  so  ebenfalls  fast 
ausschließlich  auf  die  Randlandschaften.  Nur  etwa  die  Queck- 
silberbergwerke von  Almaden  verdienen  auf  dem  Hochland  Er- 
wähnung. 

Bergbau  und  Ackerbau  liefern  nun  aber  auch  die  RohstoiTe 
für  die  spanische  Gewerbtätigkeit,  die  somit  ebenfalls  ihre 
Sitze  lediglich  in  den  Randlandschaften  hat,  wo  sie  überdies 
durch  die  vorhandenen  Wasserkräfte,  die  vom  Innern  Hochland 
oder  aus  den  Faltengebirgen  herabstürzenden  Bäche  und  Flüsse 
wesentlich  gefördert  wird.  So  beleben  gewerbliche  Anlagen  die 
Täler  des  Baskenlandes  oder  Asturiens,  oder  in  Katalonien  be- 
fruchtet dasselbe  Wasser,  welches  eben  noch  Triebkraft  war,  als 
Rieselwasser  den  Boden.  Und  aus  dieser  bodenständigen  Ge- 
werbtätigkeit konnte  sich  in  den  über  das  völkerverbindende 
Meer  schauenden  Randlandschaften  leicht  eine  mit  überseeischen 
Rohstoffen  arbeitende  entwickeln.  Die  Randlandschaften  wurden 
somit  auch    die  Sitze    des  Handels.     Ihre  Bewohner   traten   mit 


—     249     — 

anderen  Völkern  in  häufigeren  Verkehr;  größere  geistige  Regsam- 
keit, rascheres  Fortschreiten  auf  allen  Gebieten  des  materiellen 
und  geistigen  Lebens,  größerer  Wohlstand  mußte  hier  Platz  greifen, 
alles  freilich,  um  das  Bild  nicht  zu  verlockend  erscheinen  zu 
lassen,  mit  spanischem  Maßstab  gemessen!  Am  meisten  mußte 
dies  der  Fall  sein  im  Baskenlande  und  in  Katalonien,  die  ge- 
wissermaßen als  Brücken  zugleich  auch  den  Landverkehr  mit 
Frankreich  und  dem  übrigen  Europa  vermitteln.  Das  wirtschaft- 
liche Schwergewicht  liegt  somit  heute  auf  den  Randlandschaften. 
So  mußte  sich  also  in  diesen  auch  die  Bevölkerung  in  einem 
für  die  menschenarme  Halbinsel  ungewöhnlichen  Maße  auf  das 
Doppelte  und  Dreifache  der  mittleren  Dichte  verdichten.  Dem- 
nach liegen  alle  Großstädte  der  Halbinsel,  bis  auf  die  Hauptstadt 
Madrid,  in  den  Randlandschaften.  Bei  etwa  45%  ^^^^  Flächen- 
inhalts kommen  (yd^/^  der  Bevölkerung  auf  diese. 

Den  Gegensatz  des  zentralen  Gebietes  in  allen  seinen 
Verhältnissen  den  Randlandschaften  gegenüber  kann  man  sich, 
trotzdem  die  größte  Meerferne  nur  etwa  300  km  beträgt,  kaum 
grell  genug  denken.  Größte  Einförmigkeit  der  Oberflächengestalt, 
der  Bodenarten,  die  gleichen  klimatischen  Verhältnisse  und  Be- 
dingungen des  Anbaus,  die  gleichen  Erzeugnisse,  die  gleiche 
Unterlage  des  wirtschaftlichen  und  des  geistigen  Lebens  überall. 
Die  Decke  mesozoischer  und  tertiärer  Gesteine  entbehrt  der 
inneren  Schätze  völlig,  und  da  zugleich  in  den  unabsehbaren 
Ebenen  und  bei  der  großen  Trockenheit  des  Klimas  die  Wasser- 
kräfte und  Brennstoffe,  wenigstens  bis  jetzt,  fehlen,  so  fehlen 
auch  alle  Bedingungen  zur  Entwicklung  der  Gewerbtätigkeit. 
Ackerbau  und  Viehzucht  beschäftigen  die  Bewohner  daher  aus- 
schließlich, sind  aber  so  einförmig  wie  das  Land  selbst;  jener 
erstreckt  sich  nur  auf  Weizen,  diese  auf  Schafe  (Merinos),  aber 
auch  die  Schafzucht  ist  in  Verfall,  im  Süden  auch  auf  Schweine. 
Die  Beziehungen  zu  den  Randlandschaften,  und  durch  deren 
Vermittelung  mit  der  übrigen  Welt,  sind  erschwert  durch  die 
hohen  Randgebirge,  durch  welche  erst  spät  und  unter  ungeheuren 
Kosten  Verkehrswege  gebahnt  werden  konnten.  Besitzt  doch  das 
arme  Spanien  nächst  den  Alpen  die  großartigsten,  freilich  in  den 
Händen  fremder,  besonders  französischer  Gesellschaften  befind- 
lichen Gebirgsbahnen  in  Europa.  Ungeheure  Strecken  des  Tafel- 
landes   entbehren    des    Anbaus    ganz;    abgeerntet    gleichen    die 


—       250      — 

Weizenfelder  auch  ihrerseits  im  Spätsommer  öden  Steppen. 
Kein  Wald,  kein  Fruchthain  belebt  das  einförmige  Land- 
schaftsbild, meist  ohne  einen  Kranz  von  Gärten,  freudlos  und 
reizlos  sind  die  Siedelungen  mitten  in  die  kahle  Ebene  hinein- 
gestellt, oft  20 — 30  km  voneinander;  denn  kleine  Ortschaften, 
Dörfer  in  deutschem  Sinn,  Weiler  und  Einzelhöfe  gibt  es  nur 
in  den  Randlandschaften,  wo  denselben  die  herrlichen  Frucht- 
haine, in  welchen  sie  fast  verschwinden,  noch  besondere  Reize 
verleihen. 

An  geschichtlichem  Wert,  an  anziehenden  Bauwerken  fehlt 
es  diesen  Städten  allerdings  fast  niemals;  aber  überall  sieht  man 
die  Spuren  des  Verfalls,  ganze  Straßen,  ganze  Viertel  sinken  in 
Trümmer,  fast  allein  in  der  rasch  emporgeblühten  Hauptstadt 
sieht  man  Neubauten.  Einzelne,  wie  Toledo,  Avila,  Teruel 
gleichen  Museen  mittelalterlicher  Kunst.  Der  fruchtbarste  Boden 
wird  aufs  lässigste  bebaut  und  bringt  geringen  Ertrag;  Düngung 
und  künstliche  Bewässerung,  die  in  weit  größerer  Ausdehnung 
möglich  wären,  als  sie  angewendet  werden,  sind  in  ganzen  Land- 
schaften unbekannte  Dinge.  Alle  Versuche,  sie  einzubürgern, 
scheitern  an  den  Vorurteilen  und,  nach  dem  Ausspruch  eines 
spanischen  Patrioten,  an  der  an  Stumpfsinn  grenzenden  Trägheit 
der  Bewohner.  Weite  Strecken,  oft  zusammenhängend  Tausende 
von  Quadratkilometern,  im  SW  von  Toledo  z.  B.  eine  ganze  Pro- 
vinz von  etwa  5000  qkm,  liegen  völlig  unbewohnt  da,  die  be- 
rüchtigten Despoblados.  Stillstand,  ja  Rückgang,  Verödung,  Ent- 
völkerung treten  uns  fast  überall  in  den  zentralen  Landschaften 
entgegen;  auch  hier  geben  die  ackerbauenden,  d.  h.  die  zentralen 
Gebiete  ihre  Bewohner  an  die  Bergbau  und  Gewerbe  treibenden, 
d.  h.  an  die  Randlandschaften,  ab  und  entvölkern  sich  noch 
mehr.  Selbst  die  Provinzhauptstädte  der  zentralen  Gebiete,  außer 
Madrid,  zeigen  eine  Abnahme  der  Bevölkerung,  deren  Dichte 
schon  heute  in  vielen  Provinzen  auf  14 — 15  Köpfe,  also  unter 
die  Hälfte  Spaniens,  etwa  auf  ein  Drittel  des  dünnstbevölkerten 
Regierungsbezirks  von  Preußen,  Köslin,  gesunken  ist.  Die  zentralen 
Landschaften  sind  es  vorzugsweise,  welche  trotz  sehr  geringer 
überseeischer  Auswanderung  die  Bevölkerung  Spaniens  überaus 
langsam  zunehmen  machen. 

Diese  Erscheinungen  erklären  sich  zunächst  aus  der  Ge- 
schichte des  Landes,  in  welcher  selbst  wir  aber  überall  die  Wir- 


—       251       — 

kungen  der  geographischen  Verhältnisse  erkennen.  Die  zentralen 
Landschaften,  namentlich  die  durch  die  Sierra  de  Guadarrama 
nicht  wirksam  voneinander  geschiedenen  beiden  Kastilien,  bilden 
das  größte  einheitUche  Gebiet  der  Halbinsel,  das,  wenn  auch  fast 
ausschließlich  auf  Ackerbau  angewiesen,  doch  nach  Boden  und 
Klima  einer  sehr  bedeutenden  Verdichtung  der  Bevölkerung  fähig 
wäre  und  jedenfalls  so  ausgedehnt  ist,  daß  es  auch  heute  noch 
wirklich  die  ihm  nach  seiner  Stellung  zukommende  Rolle  zu 
spielen  vermag.  In  diesen  Ebenen  wogte  Jahrhunderte  hindurch 
der  Kampf  zwischen  Christentum  und  Islam  hin  und  her,  er  ent- 
völkerte das  schutzlos  offene  Land,  nur  Städte  und  feste  Burgen, 
die  ihm  den  Namen  gegeben,  gewährten  Schutz.  Hinter  den 
zurückweichenden  Mauren  stiegen  auch  die  im  Kampf  empor- 
gekommenen Adelsfamilien  mit  ihren  Hintersassen  in  die  Rand- 
landschaften, namentlich  nach  dem  reichen  Andalusien  hinab,  wo 
sie,  mit  großen  Gütern  ausgestattet,  sich  dauernd  als  Grenzhüter 
niederließen.  Ihre  alten  Feudalsitze  und  die  Grenzfesten  auf 
dem  Hochland  begannen  zu  veröden.  In  den  langen  Kämpfen 
war  der  kriegerische  Sinn  so  erstarkt,  daß  die  bürgerlichen  Be- 
rufe in  Mißachtung  gerieten.  Kastilien  lieferte  so  vorzugsweise 
die  Heere,  mit  welchen  Spanien  seine  Kriege  in  zwei  Welten 
führte,  jene  Scharen  von  Abenteurern,  welche  die  Neue  Welt 
hispanisiert  haben.  Nach  Kastilien  vorzugsweise  flössen  aber 
auch  die  Schätze  der  Neuen  Welt,  hier  wurden  damit  auch  die 
zahlreichsten  und  größten  Klosterpaläste  gebaut  und  ausgestattet. 
Das  zeitweilig  riesig  angewachsene  Mönchswesen  und  der  religiöse 
Fanatismus,  dem  es  hier  in  den  offenen  Landschaften  gelang, 
die  jüdische  und  maurische  Bevölkerung  völlig  auszutilgen  oder 
zu  vertreiben,  vollendeten  die  Verödung.  Hier  feierte  der  Jesui- 
tismus seine  allergrößten  Triumphe,  und  verzehrten  die  Scheiter- 
haufen der  Inquisition,  was  an  unabhängigem  Bürgersinn  und 
Tatkraft  noch  übrig  geblieben  war.  In  den  zentralen  Land- 
schaften tritt  uns  daher  der  Verfall  ganz  Spaniens  am  grellsten 
entgegen;  sie  und  ihre  Bewohner  sind  es  somit,  welche  uns  vor- 
zugsweise spanisch  vorkommen.  Hier  zweifelt  man  zuweilen,  ob 
die  Behauptung  eines  spanischen  Patrioten  heute  noch  richtig  ist, 
daß  Spanien  das  reichste  Land  der  Erde  sei,  da  die  Spanier 
seit  3000  Jahren  bemüht  seien,  dasselbe  zu  ruinieren,  ohne  bis- 
her ihr  Ziel  erreicht  zu  haben. 


—        252        — 

Die  großen  Gegensätze  der  Landesnatur,  die  namentlich 
orographisch  begründete  Gliederung  der  Halbinsel  in  zahlreiche 
Sonderlandschaften,  mußte  notwendig  von  jeher  auch  in  der 
politischen  Geographie  zum  Ausdruck  kommen.  Wohl  niemals, 
außer  als  Glied  des  Römerreiches,  ist  die  Halbinsel  völlig  pohtisch 
geeint  gewesen.  Dem  wirkte  vor  allem  entgegen  das  Vorhanden- 
sein vieler  abgeschlossener  Gebirgslandschaften,  in  welchen  sich 
auch  besiegte  und  schwache  Völker  gegen  einen  übermächtigen 
Gegner  zu  behaupten  vermochten.  Die  Faltengebirge,  die  im  N 
und  im  S  dem  Tafelland  angelagert  sind,  bieten  solche  Herde 
des  Widerstandes,  solche  Ausgangspunkte  neuer  Staatenbildungen: 
das  Baskenland,  Asturien,  die  Wiege  des  Staates  Leon  und 
Kastilien,  Sobrarbe  in  den  Pyrenäen,  diejenige  von  Aragon. 
Ihnen  läßt  sich  in  gewissem  Sinn  auch  das  Bergland  von  Nord- 
portugal anschließen.  In  der  Vielheit  der  Ausgangspunkte  war 
auch  die  Vielheit  der  Staaten  begründet.  Andrerseits  vermochten 
im  Süden  im  andalusischen  Faltenland,  namentlich  in  der  tief  ins 
Gebirge  eingebetteten,  nur  durch  Engpässe  wie  bei  Loja  und  Jatin 
zugänglichen  Hochebene  von  Granada  die  besiegten  Mauren  ein 
volles  Vierteljahrtausend  dem  Ansturm  der  Christen  zu  wider- 
stehen! Nur  ein  einziger  jener  Staaten  hat  sich  bis  heute  der 
beherrschenden  Stellung  Kastiliens  gegenüber  zu  behaupten,  bzw. 
seine  schon  auf  60  Jahre  verloren  gegangene  Selbständigkeit 
wieder  zu  erlangen  vermocht:  Portugal.  Auch  in  dieser  Tatsache 
wird,  so  wenig  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  will,  die  Wirkung 
geographischer  Faktoren  greifbar. 

Portugal  ist  die  selbständigste  aller  Randlandschaften,  die- 
jenige, welche  am  meisten  individualisiert  ist.  Es  verhält  sich 
zur  übrigen  Halbinsel,  also  zu  Spanien,  wie  Holland  zum  übrigen 
Deutschland.  Holland  ist  innerhalb  des  norddeutschen  Flach- 
landes der  einzige  völlig  maritime  Teil  desselben,  vom  Meer 
durchsetzt,  zum  Teil  dem  Meer  abgerungen  —  seine  Bewohner 
sind  ja  im  Kampf  mit  dem  Meer  groß  geworden  —  und  durch 
Wasserstraßen  bis  an  seine  innere  Grenze  mit  dem  Meer  ver- 
bunden. Und  diese  innere  Grenze,  der  fast  ungangbare  Gürtel 
von  Mooren,  nordwärts  und  südwärts  vom  Rhein,  schied  das 
völlig  maritime  Land  derartig  von  dem  festländischen,  in  sich 
zerrissenen  Deutschland,  daß  die  völlige  politische  Loslösung 
geographisch  begründet  erscheint.     Ähnlich  ist  Portugal,  wie  die 


—      253     — 

größte,  so  auch  die  einzige  bis  an  ihre  innere  Grenze  dem  Meer 
erschlossene,  hafenreiche  und  völHg  maritime  Randlandschaft, 
also  im  grellsten  Gegensatz  zu  den  landeinwärts  angrenzenden 
spanischen  Landschaften.  Und  während  der  Rhein  als  große 
Straße  noch  Holland  an  Deutschland  knüpft,  sind  die  großen 
aus  dem  Innern  der  Halbinsel  kommenden  Flüsse  nur  in  ihren 
untersten  Laufstrecken,  bis  an  die  innere  Grenze  Portugals,  schiff- 
bar; weder  sie  noch  ihre  Täler  bilden  Straßen  aus  dem  Innern 
ans  Meer.  Im  Gegenteil,  sie  sind  tiefe  Grenzgräben,  welche  die 
zentralen  Landschaften  auch  von  dieser  Randlandschaft  wirksamer 
scheiden,  als  sonst  die  Randgebirge.  Der  portugiesische  Tejo 
und  Douro  sind  anthropogeographisch  fast  in  dem  Maße  als  vom 
spanischen  Tajo  und  Duero  verschiedene  Flüsse  aufzufassen,  wie 
die  Alten  lange  Zeit  Danubius  und  Ister  als  verschiedene  Flüsse 
ansahen.  Die  Landgrenze  von  Portugal  von  der  Mündung  des 
Guadiana  bis  zu  der  des  Mino  wird  auf  der  Hälfte  ihrer  Länge 
von  engen,  aber  steilen  und  tiefen  Tälern  gebildet,  welche  die 
Flüsse  kanonartig  in  die  festen,  namentlich  granitischen  Gesteine 
der  Iberischen  Scholle  eingenagt  haben.  Den  großartigsten  dieser 
Kanons  hat  der  Duero  dort,  wo  er  die  Grenze  auf  iio  km  unter- 
halb Zamora  bildet,  in  das  Granitmassiv  des  Sayago  eingeschnitten; 
200 — 400,  streckenweise  500  m  tief  braust  er  stromschnellenreich 
durch  eine  Schlucht  dahin.  Das  Zuckerrohr  und  die  Dattelpalme 
gedeihen  an  seinem  Ufer,  wo  Raum  zum  Anbau  ist,  während  oben 
auf  der  Hochfläche  nur  der  Weizen,  kaum  noch  die  Rebe  fort- 
kommt. Die  andere  Hälfte  der  Grenze  liegt  in  menschenleeren 
Gebirgen.  Einzig  das  Tal  des  Guadiana  bildet  eine  Straße  von 
Kastilien  nach  Portugal,  die  vom  Knie  des  Stromes  bei  Badajoz 
gerade  auf  die  Hauptstadt  Lissabon  und  die  Tejomündung  zielt. 
Auf  dieser  Linie  haben  sich  die  fast  ausschließlich  kriegerischen 
Beziehungen  beider  Staaten  vorzugsweise  bewegt,  hier  liegen 
daher  Portugals  wichtigste  Festungen.  Portugal  besitzt  auch  neben 
Lissabon  und  Porto  gute  Häfen,  nur  haben  diese  beiden  den 
Vorzug  großer  Hinterländer,  die  ihnen  auf  von  der  Natur  vor- 
gezeichneten Wegen  ihre  Erzeugnisse  zuführen.  Dadurch  werden 
sie  zu  wichtigen  Sitzen  des  Handels  und  des  Weltverkehrs,  nament- 
lich ist  Lissabon  zugleich  die  europäische  Kopfstation  für  den 
Schnellverkehr  mit  Südamerika.  Aber,  wiederum  einer  jener 
wunderlichen  Gegensätze,    selbst  der  Eigenhandel  Portugals  wird 


—     254     - 

heute  noch  überwiegend  von  fremden,  besonders  englischen 
Schiffen  vermittelt.  Es  ist  heute,  wie  im  Mittelalter,  ein  vorwiegend 
ackerbauendes  Land.  Portugal  bringt  alle  Erzeugnisse  der  ganzen 
übrigen  Halbinsel  hervor,  namentlich  auch,  und  diese  allein  unter 
allen  Randlandschaften,  Brotstoffe  für  den  eigenen  Bedarf;  es  ist 
also  auch  in  dieser  Hinsicht  von  Kastilien  unabhängig.  Es  fehlen 
somit  die  Bedingungen  eines  Handelsverkehrs  zwischen  beiden 
Ländern  so  gut  wie  ganz,  und  tatsächlich  besteht  auch,  abgesehen 
von  etwas  Schmuggel,  fast  gar  kein  Verkehr  zwischen  denselben. 
Portugal  schaut  über  die  Meere,  am  Meer  hegen  alle  seine  wich- 
tigsten Siedelungen  und  verdichtet  sich  seine  Bevölkerung  am 
meisten,  es  kehrt  Spanien  den  Rücken.  Die  politische  Grenze 
beider  Länder  bildet  auch  eine  so  scharfe  Grenze  in  der  Sprache, 
den  Sitten,  dem  Charakter,  der  Lebensführung,  der  Zu-  und  Ab- 
neigung der  Bewohner,  daß  sich  jedem  Reisenden  diese  wunder- 
baren Gegensätze  aufdrängen.  Haß  ist  das  Gefühl,  welches  die 
beiderseitigen  Grenzanwohner  vorzugsweise  einander  entgegen- 
bringen. 

Wohl  noch  niemals  sind  selbst  im  Land  der  Gegensätze  die 
Gegensätze  der  zentralen  und  der  Randlandschaften  so  groß  ge- 
wesen wie  heute,  im  wesentlichen  weil  auch  die  Iberische  Halb- 
insel spät  und  langsam  und  zunächst  in  den  Randlandschaften, 
während  die  zentralen  noch  in  rückläufiger  Bewegung  sind,  der 
rascheren  Entwicklung  Europas  in  unseren  Tagen  gefolgt  ist. 
Doch  scheint  uns  darin,  wenigstens  solange  die  monarchische 
Staatsform  aufrecht  erhalten  und  nicht  etwa  durch  die  RepubUk 
ersetzt  wird  —  das  Schlagwort  Förderativrepublik  hört  man  ja 
oft  genug,  —  keine  Gefahr  zu  liegen,  daß  sich  nach  dem  Bei- 
spiel Portugals  die  Sonderlandschaften  auch  wieder  politisch  selb- 
ständig machen  könnten,  so  groß  und  allgemein  die  Abneigung, 
ja  der  Haß  ihrer  Bewohner  gegen  die  Kastilianer  auch  ist,  und 
so  sehr  z.  B.  der  Karhsmus  darin  seine  Wurzeln  hat.  Die  Rand- 
landschaften sind  jede  für  sich  kleiner  und  schwächer  als  Kasti- 
lien, sie  vermögen,  zum  Teil  weit  voneinander  entlegen,  alle  nur 
durch  Kastilien  Beziehungen  zueinander  zu  unterhalten;  Kastilien 
ist  der  große  Saal,  —  um  das  Bild  zu  gebrauchen,  durch  welches 
uns  die  Bedeutung  der  großen  chinesischen  Ebene  für  China  durch 
Ferd.  von  Richthofen  veranschaulicht  worden  ist,  —  um  welchen 
alle  anderen  Landschaften  wie  Kammern  ringsum  liegen;  sie  bilden 


—     255     — 

auch  ihrerseits  Gegensätze  und  haben  nur  wenig  gemeinsame  wirt- 
schaftliche Interessen,  während  Kastilien  ihnen  allen  Brotstoflfe 
liefert  und  der  nächste  Abnehmer  ihrer  Erzeugnisse  ist.  Mehr  als 
jemals  liegt  aber  heute  auch  Kopf  und  Herz  Spaniens  in  Kastilien. 
Wenn  wir  Philipp  II.  nicht  schon  aus  anderen  Gründen  für  einen 
scharfsichtigen  Staatsmann  halten  müßten,  so  unbedingt  darum, 
daß  er  Madrid  zur  Hauptstadt  Gesamtspaniens  gemacht  hat.  Fast 
im  geometrischen  Mittelpunkt  der  Halbinsel  gelegen,  in  der  Mitte 
Kastiliens,  aber  ohne  provinzielle  Erinnerungen,  ohne  geschicht- 
liche Zu-  und  Abneigungen,  hat  Madrid  erst  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten, wo  nachgeholt  worden  ist,  was  die  Nachfolger  Philipps 
versäumt  hatten,  als  Knotenpunkt  des  ganzen  spanischen  Straßen- 
und  Eisenbahnnetzes ,  durch  Herbeileitung  herrlichen  Wassers 
weither  aus  den  innersten  Tälern  der  Sierra  de  Guadarrama, 
trotz  der  armen,  wenig  verlockenden  Umgebung,  einen  erstaun- 
lichen Aufschwung  genommen.  Alle  Provinzen  liefern  ihm,  trotz 
des  ungünstigen  Klimas,  Bewohner;  es  ist  heute  unbestritten  der 
Hauptsitz  und  der  Brennpunkt  aller  geistigen  und  wirtschaftlichen 
Bestrebungen,  der  Kunst,  der  Wissenschaft,  der  Geldmächte, 
Madrid  vermag  heute  die  Verödung  Kastiliens,  alle  provinziellen 
Gegensätze  mehr  und  mehr  auszugleichen.  Und  schließlich  hat 
doch  der  lange,  gemeinsam  durchgekämpfte  Kampf  gegen  die 
Ungläubigen,  die  gemeinsam  durchlebte  große  Zeit  des  i6.  Jahr- 
hunderts ein  so  festes  Band  um  alle  Spanier  geschlungen,  daß 
gegen  einen  äußeren  Feind  jeder  Spanier  nur  Spanier  ist. 


2.  Skizzen  aus  Südspanien.0 

Wer  Spanien  in  erster  Linie  ästhetischer  Genüsse  halber 
besucht  und  nachdem  er  vorher  schon  Italien  kennen  gelernt  hat, 
was  beides  wohl  von  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Reisenden 
gilt,  wird  immer  eine  gewisse  Enttäuschung  erfahren.  So  reich 
das  Land  an  Kunstdenkmälern  jeder  Art  ist,  so  viel  es  auch  land- 
schaftlich hier  und  da  bietet,  es  steht  doch  in  beiden  Hinsichten 


l)  Als  Schilderung  einer  im  Jahre  1888  durchgeführten  Reise  in  Wester- 
manns  Monatsheften  erschienen. 


—    256    — 

Italien  nach.  Spanien  hat  nur  zwei  Blütezeiten  gehabt,  die  ara- 
bische und  die  zu  Beginn  der  Neuzeit,  während  in  Italien  aus 
griechischer,  aus  römischer,  byzantinischer,  normannischer  und 
vor  allem  aus  der  großen  Zeit  um  den  Übergang  des  Mittelalters 
zur  Neuzeit,  wie  namentlich  aus  der  Zeit  der  Wiedergeburt  der 
Künste  und  Wissenschaften  eine  Fülle  von  Kunstschätzen  auf- 
gestapelt ist,  die  sich  mit  der  Erleichterung  des  Verkehrs,  mit 
der  immer  innigeren  Verwachsung  auch  der  abgelegeneren  Gegen- 
den des  Landes  mit  dem  Kreise  europäischer  Gesittung  immer 
mehr  als  Schätze,  als  eine  der  reichsten  Einnahmequellen  des 
Landes  erweisen.  Es  war  wohl  unserer  Zeit  vorbehalten,  die 
griechischen  Tempel,  die  römischen  Amphitheater,  die  herrlichen 
Dome  usw.  vom  volkswirtschaftlichen  Standpunkte  nach  ihrem 
Werte  als  zinstragende  Kapitalanlagen  anzusehen.  Wenn  man 
schätzungsweise  annehmen  kann,  daß  jährlich  eine  halbe  Million 
Fremder  Italien  besucht,  die  etwa  250  Millionen  Mark  ins  Land 
bringen,  so  bilden  doch  in  erster  Linie  die  Kunstschätze,  nur 
nebenbei  die  Reize  der  Landschaft  und  des  Klimas  die  Lock- 
mittel, welche  diesen  Goldstrom  herbeilenken.  Das  wären  also 
die  Zinsen  eines  auf  die  Schaffung  und  Erhaltung  jener  Schätze 
verwendeten  Kapitals  von  fünf  Milliarden  Mark,  die  Zinsen  von 
ungefähr  der  Hälfte  der  italienischen  Staatsschuld.  Wie  trefflich 
haben  die  alten  Römer,  als  sie  mit  den  Steuern  unterworfener 
Völker  das  Kolosseum,  wie  trefflich  die  Päpste,  als  sie  mit  den 
„Pfennigen"  der  ganzen  Christenheit  St.  Peter  erbauten,  für  die 
Nachkommen  gesorgt!  Verfolgen  wir  diese  Reichtümer  Italiens 
aber  weiter,  so  erkennen  wir  den  Einfluß,  welchen  auch  in  dieser 
Hinsicht  geographische  Gesetze  ausgeübt  haben.  Die  Vielseitig- 
keit der  Beziehungen,  welche  Italien  nach  seiner  Weltstellung 
innerhalb  des  Mittelmeergebiets  kennzeichnet,  prägt  sich  eben  in 
diesen  Denkmälern  aus  griechischer,  römischer,  byzantinischer, 
arabisch -normannischer  Zeit  usw.  aus.  Diese  Vielseitigkeit  der 
Beziehungen  fehlt  Spanien.  Als  eine  gewaltige,  hohe,  von  den 
Küsten,  die  auch  ihrerseits  nur  an  wenigen  Punkten  bequem  zu- 
gänglich sind,  meist  schwer  zu  ersteigende  Felstafel  ist  es  dem 
äußersten  Südwesten  Europas  angeschweißt,  lag  es  an  der  west- 
lichen Peripherie  der  gesitteten  Welt  des  Altertums  und  des 
Mittelalters,  nur  schwach  brandeten  an  seinen  Gestaden  die  von 
den    Gesittungsherden   Phönikiens,    Griechenlands    und   von   Rom 


—     257     — 

ausgehenden  Wogen.  Von  Frankreich  trennt  es  der  Wall  der 
Pyrenäen  so  scharf,  daß  man  sich  dort  in  dem  Satze  gefällt: 
„Hinter  den  Pyrenäen  beginnt  Afrika",  was  aber  ebensowenig  wie 
vieles  andere  den  Spanier  hindern  würde,  in  den  Franzosen  die 
,, sympathische"  Nation  zu  sehen  —  wenn  es  für  ihn  nämlich  außer 
dem  Spanier  oder  richtiger  außer  dem  Kastilianer,  Aragonesen, 
Katalanen  usw.  überhaupt  sympathische  Nationen  gäbe. 

Nur  in  zwei  Richtungen  unterhält  die  Iberische  Halbinsel, 
geographisch  bedingt,  innigere  Beziehungen:  zu  Nordafrika  und 
zu  Amerika.  Und  diese  Beziehungen  prägen  sich  in  der  Ge- 
schichte des  Landes,  in  der  Gesittung  und  dem  Charakter  seiner 
Bewohner  aufs  schärfste  aus.  Die  Beziehungen  zu  Afrika,  dessen 
nächster  Punkt  der  Südspitze  Europas  an  der  Meerenge  fast  auf 
Kanonenschußweite  (14  Kilometer)  gegenüber  liegt,  kennzeichnet 
die  arabisch-berberische  Überflutung  am  besten,  welche  zahlreiche 
herrliche  Denkmäler  und  tiefe  Spuren  in  den  körperlichen  Eigen- 
schaften und  im  Charakter  der  Bewohner,  wie  im  Anbau  des  Landes 
hinterlassen  hat.  Der  während  sieben  Jahrhunderten,  ja  fast  wäh- 
rend eines  Jahrtausends  —  denn  er  fand  mit  der  Eroberung  von 
Granada  keineswegs  seinen  Abschluß  —  im  Vordergrunde  stehende 
Kampf  gegen  die  Ungläubigen  verlieh  hier  dem  christlichen  Be- 
wußtsein, der  katholischen  Kirche  besondere  Macht,  und  es  ent- 
standen im  Gegensatz  zu  den  Moscheen  des  Islam  prächtige 
Kirchen  und  Klöster,  zu  denen  dann  die  Beziehungen  zur  Neuen 
Welt  immer  reichere  Mittel  Ueferten.  Auch  dort  galt  es  ja  Kampf 
gegen  Heiden  und  Bekehrung  derselben.  Durch  die  Entdeckung 
Amerikas,  die  bezeichnenderweise  zwar  von  Spanien  aus  erfolgte, 
aber  durch  einen  Italiener,  die  im  ganzen  Mittelalter  die  Träger 
und  Vervollkommner  aller  seemännischen  Erfahrungen  waren, 
rückte  die  Halbinsel,  wie  ähnlich  die  britischen  Inseln,  vom  Rande 
der  gesitteten  Welt  sozusagen  in  die  Mitte  derselben.  Zum  Ozean 
dacht  sich  dieselbe  ja  vorzugsweise  ab,  zum  Ozean  leiten  seine 
Ströme;  wer  aus  dem  Mittelmeer  kommend  nach  Nordwesteuropa 
oder  in  die  Neue  Welt  hinüber  wollte,  mußte  spanische  Häfen 
anlaufen,  und  ebenso  wer  von  Norwesteuropa  dorthin  strebte; 
denn  bis  zum  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  lagen  die  Länder  der 
Sehnsucht  der  Europäer  südlich  vom  Wendekreis  des  Krebses, 
von  Spanien  aus  kreuzte  man  den  Ozean. 

Die  Weltstellung  der  Iberischen  Halbinsel  ist  somit  im  ganzen 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  I7 


—     258     — 

unbedingt  weit  ungünstiger  als  die  des  viel  kleineren  Italien. 
Aber  auch  die  Oberflächengestaltung  ist  eine  ungünstigere,  der 
Bildung  einer  politischen  Einheit  im  höchsten  Grade  hinderliche. 
Auf  ihr  beruht  es,  daß  die  Halbinsel,  wenn  wir  von  der  römischen 
Eroberung  absehen,  niemals  ein  einziges  Staatswesen  für  sich  ge- 
bildet hat  und  eine  Vereinigung  der  beiden  Reiche  Spanien  und 
Portugal  wohl  nie  zu  erwarten  ist.  Wenn  auch  durch  das  Meer 
und  den  Wall  der  Pyrenäen  zusammengehalten,  ist  doch  die 
Halbinsel  ihrer  Oberflächengestaltung  nach  überaus  reich  gegliedert 
und  zerfällt  in  eine  ganze  Anzahl  von  Sonderlandschaften,  welche 
wesentlich  verschiedene  Züge  der  Landesnatur  und  abweichende 
Wechselbeziehungen  zwischen  Land  und  Bewohnern  aufweisen. 
Das  ist  der  Hauptgrund  der  jahrhundertelangen  politischen  Zer- 
splitterung und  der  erst  mit  Beginn  der  Neuzeit  erreichten  Ver- 
einigung all  der  ehemaligen  einzelnen  Reiche  zu  einem  Reiche 
Spanien.  Diese  frühere  politische  Autonomie  und  die  verschiedene 
ethnische  Mischung  der  Bewohner  der  einzelnen  Sonderland- 
schaften, die  geringen  Beziehungen  derselben  untereinander  noch 
heute,  trotz  der  Eisenbahnen,  erklären  die  allenthalben  vorhan- 
denen höchst  auffälligen  Unterschiede  im  Volkscharakter,  in  den 
Mundarten,  ja  das  Vorhandensein  verschiedener  Sprachen,  die 
gegenseitige  Abneigung  der  einzelnen  Landschaften  untereinander, 
aller  aber  gegenüber  den  Kastilianern.  Die  landschaftlichen,  in 
letzter  Ursache  auf  die  Oberflächengestaltung  zurückzuführenden 
Gegensätze  sind  in  Spanien  weit,  weit  größer  als  in  Deutschland, 
die  innere  nationale  Verwachsung  der  Bewohner  des  Reiches  ist 
noch  weit  entfernt  von  der  bei  uns  gottlob!  längst  erreichten. 
Das  sind  Dinge,  die  man  außerhalb  Spaniens,  eben  weil  das 
Land  wenig  besucht  wird,  kaum  kennt.  Den  spanischen  National- 
charakter zu  schildern,  ist  unmöglich,  einen  solchen  gibt  es  eben 
nicht;  was  man  gewöhnlich  darunter  versteht,  bezieht  sich  wesent- 
lich auf  die  Kastilianer,  von  denen  aber  die  Andalusier,  die 
Katalanen,  die  Gallegos  z,  B.  sehr  verschieden  sind.  Erst  vor 
kurzem,  viel  zu  spät,  hat  man  einen  entscheidenden  Schritt  getan^ 
die  nahezu  im  geometrischen  Mittelpunkt  des  Landes  gelegene 
Hauptstadt  zum  wirklichen  politischen  und  geistigen  Mittelpunkt 
zu  machen  und  ihr  als  Hauptknoten  aller  Verkehrswege  auch 
wirtschaftlich  Gewicht  zu  verleihen. 

Es  ist  ein  Irrtum,  Madrid  als  eine  Gründung  Philipps  IL  zu 


—     259     — 

bezeichnen.     Während  des  ganzen  Mittelalters  bestand  dort  eine 
namhafte,  schon  vor  dem  Jahre    looo  wichtige  Stadt,  die  wieder- 
holt Sitz  der  Cortes  und  Krönungssfadt  war.    Zur  Hauptstadt  hat 
Philipp   sie   allerdings   gemacht,    und  wir   möchten  das  als  einen 
der   wichtigsten   Belege    seiner    hohen    staatsmännischen    Einsicht 
bezeichnen.      Wie  er  eigentlich  der  erste  König  von  Spanien  ist, 
so  schuf  er  auch   eine   neue  Gesamthauptstadt   im  Gegensatz  zu 
Toledo,   Sevilla  usw.,  den  Hauptstädten  der  alten  Teilreiche.    Er 
hoffte    aus    Aragonesen,    Andalusiem    usw.    Spanier    zu    machen. 
Noch  heute  ist  dies  Ziel  nicht  ganz  erreicht.    Es  fehlte  der  Stadt 
zu  einem  größeren  Aufschwünge  an  Hilfsquellen  in  der  unmittel- 
baren  Umgebung.     Diese   ist   zwar    durchaus    nicht   so    arm   und 
dürr,    wie   man    es   zu    schildern   liebt,   im   Gegenteil,    man   sieht 
jetzt  überall  wohl   angebautes  Land    und    freundliche  Ortschaften 
mit  baumreichen  Gärten   an  den  Eisenbahnen   in  der  Umgebung 
von   Madrid,    aber    immerhin    steht   die    reizlose   Hochebene   mit 
ihrem    wechselvollen   Klima    an    Lockmitteln    und    inneren    Hilfs- 
quellen, stehen  ihre  Bewohner  an  Rührigkeit  und  Wohlstand  allen 
Landschaften   Spaniens    nach.     Madrid   hat   bis    auf    die   neueste 
Zeit  keinen  Einfluß  auf  die  Provinzen  ausgeübt,  im  Gegenteil,  es 
unterlag  dem  Einfluß  der  Provinzen.     Es  wurde  nicht  zum  Sitze 
des   geistigen  Lebens   erhoben,    man  versäumte  durch   gute  Ver- 
waltung,   durch  Herbeiführung  von  Wasser   die    spröde  Natur  zu 
bekämpfen.     Das   hat    sich    in   den   letzten   Jahrzehnten   erst   ge- 
ändert,   wo    Madrid    einen    bedeutenden    Aufschwung    genommen 
hat:   Madrid  ist  heute  Sitz  einer  blühenden  Universität  und  zahl- 
reicher sonstiger  Lehranstalten,  es  besitzt  im  Königlichen  Museum 
eine    der    herrlichsten    Kunstsammlungen    Europas,     ausgedehnte 
Gärten  und  Spaziergänge  und  verfügt  durch  einen  70  km  langen, 
1859  vollendeten  Kanal,  welcher   das  Wasser   des  Lozoyaflusses 
durch    großartige    Überbrückungen    aus   der   wasserreichen    Sierra 
de  Guadarrama   herbeiführt,    über   eine   Fülle  von  Wasser  bis  in 
die  höchsten  Stockwerke  der  Häuser.    Eine  selbständige  Gewerb- 
tätigkeit und  der  Handel  erlangen  immer  größere  Bedeutung,  alle 
großen    Eisenbahnlinien    der    Halbinsel,    nicht    weniger    als    fünf, 
laufen    hier    radienförmig   zusammen   und   verbinden   Madrid   auf 
möglichst   kurzem  Wege   mit    allen   namhaften   an    der  Peripherie 
gelegenen  Orten,  mit  der  französischen  Grenze  östlich  und  west- 
lich der  Pyrenäen,  mit  Barcelona,   Valencia,  Alicante,  Cartagena, 

17* 


—      26o      

Malaga,  Cadix,  Huelva,  Lissabon,  Oporto,  Coruiia,  Santander  und 
und  San  Sebastian.  Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß 
Madrid  eine  größere  Entwicklung  und  einen  die  provinziellen 
Gegensätze  im  Laufe  der  Zeit  mildernden  Einfluß  erlangen  wird. 
Diese,  wie  wir  sahen,  vor  allem  in  der  Oberflächengestaltung 
begründeten  Gegensätze  sind  so  groß  wie  in  keinem  anderen 
Lande  Europas.  Sie  äußern  sich  zunächst  im  Klima.  Afrika- 
nischer Trockenheit  und  Hitze,  wie  sie  im  Südosten,  in  Murcia, 
herrscht,  wo  fast  aller  Anbau  auf  künstliche  Bewässerung  an- 
gewiesen ist,  steht  der  mitteleuropäisch  feuchte  Nordrand  mit 
zwar  milden  Wintern,  aber  nicht  sehr  heißen  Sommern;  dem 
inneren  Tafellande,  das  durch  hohe  Gebirgswälle  ringsum  und 
hohe  Lage  dem  Einfluß  des  Meeres  etwas  entrückt  ist  und  daher 
ziemlich  trockenes,  kontinentales  Klima  hat,  steht  die  Südküste 
Andalusiens  gegenüber,  welche  bei  reicher  winterlicher  Benetzung 
die  mildesten  Winter  in  Europa  hat  und  Erzeugnisse  der  Tropen 
im  großen  hervorbringt.  Das  ganze  Gestadeland  am  Mittelmeer 
ist  der  in  jeder  Hinsicht  begünstigste  Teil  Spaniens,  der  am  besten 
angebaute,  der  am  dichtesten  und  von  rührigen,  in  Ackerbau, 
Gewerbtätigkeit,  Handel,  wie  im  geistigen  Leben  vorangehenden 
Menschen  bewohnte.  Während  es  sonst  in  Spanien  noch  weite 
Striche  gibt,  die  wohl  anbaufähig,  aber  mit  Gestrüpp  bedeckt 
kaum  als  Weideland  brauchbar  und  weithin  menschenleere  Ein- 
öden sind,  gehören  die  kleinen  Ebenen  und  die  unteren  Hänge 
der  Gebirge  am  Mittelmeer  zu  den  dichtest  bevölkerten  Gegen- 
den Europas.  Was  dort  im  Laufe  der  Jahrtausende  seit  kartha- 
gischer und  römischer,  aber  namentlich  in  arabischer  Zeit  geleistet 
worden  ist  in  Urbarmachung  des  Felsbodens  und  Wasserzuführung, 
das  ist  staunenswert.  Und  noch  immer  wächst  dort  die  angebaute 
Fläche,  immer  weiter  wird  die  nach  Vernichtung  der  Wälder  den 
Boden  bedeckende  Vegetationsformation  der  Macchien,  der  aus 
Zwergpalmen  und  aromatischen  immergrünen  Sträuchern,  Myrten, 
Lavendel,  Cistusrosen,  Lentiscus  usw.  bestehenden  Gestrüppe 
zurückgedrängt.  Im  südlichen  Katalonien  zwischen  Taragona  und 
Tortosa  besteht  die  bald  ganz  schmale,  bald  auf  mehrere  Kilo- 
meter verbreiterte  Küstenebene  meist  aus  festen  tertiären  Konglo- 
meraten, auf  denen  selbst  dies  Gestrüpp  nur  dürftig  gedeiht. 
Unter  unsäglicher  Mühe  werden  die  Felsen  gesprengt  und  teils 
weggeführt,  teils  zu  hohen  Wällen  aufgetürmt  oder  zu  Terrassen- 


—       201       — 

mauern  venvendet,  teils  auch  zerkleinert  und  herbeigeführte  gute 
Erde  darunter  gemischt,  ähnlich  wie  ich  es  hier  und  da,  aber 
in  weit  kleinerem  Maßstabe,  in  Norwegen  sah.  Ganze  Hügel- 
gehänge fand  ich  so  ganz  neuerdings  auf  weite  Strecken  in  sauber 
und  geschickt  angelegte  Terrassen  verwandelt;  anderwärts  grenzten 
breite  und  hohe  Steinwälle  die  so  dem  Felsboden  abgewonnenen 
Felder  ab,  welche  nun  mit  Ölbäumen,  Reben  oder  Johannisbrot- 
bäumen bepflanzt  sind.  In  ähnhcher  Weise  hat  man  an  der 
Südküste  von  Andalusien  die  kleine,  ebenfalls  aus  festen  tertiären 
Konglomeraten  bestehende  Küstenterrasse  von  Nerja  dem  Anbau 
zu  gewinnen  begonnen.  Dieses  mehr  als  7000  Einwohner  zäh- 
lende Städtchen  liegt  mitten  in  einer  Steinwüste  auf  dem  etwa 
15  m  hohen  Steilrande  der  Küstenterrasse,  aus  welcher  hier  die 
Brandung  eine  kleine,  durch  ein  Vorgebirge  geschützte  Bucht 
ausgewaschen  hat.  An  dieser  siedelten  sich  wohl  zuerst  Fischer 
an,  da  die  ganze  Küste  an  natürlichen  Zufluchtsstätten  selbst 
für  kleine  Fahrzeuge  sehr  arm  ist.  Vor  kurzem  fand  auch  noch 
aller  Verkehr  zur  See  statt,  jetzt  ist  wenigstens  eine  fahrbare 
Straße  nach  Westen  hin,  nach  Velez  Malaga  und  Malaga  vor- 
handen, nach  Osten  aber  führt  heute  noch  nach  dem  noch  etwas 
größeren,  25  km  entfernten  Nachbarstädtchen  Almunecar  nur  ein 
Saumpfad  beständig  auf  und  ab  über  die  steil  zum  Meere  ab- 
brechenden Bergspome  und  in  so  schlechtem  Zustande,  daß  man 
mir,  sehr  mit  Recht,  in  Nerja  allgemein  riet,  lieber  zu  Fuß  zu 
gehen  und  meine  Habe  einem  Eselchen  anzuvertrauen.  Diese 
Weltabgeschiedenheit,  die  im  Winter,  wenn  es  draußen  auf  dem 
Meere  stürmt,  eine  vollständige  sein  mußte,  mag  die  Bewohner 
von  Nerja  zuerst  dazu  gedrängt  haben,  den  Felsboden  um  die 
Stadt  urbar  zu  machen  und  das  Wasser  der  am  inneren  Rande 
der  Ebene  am  Fuße  der  Kalkberge  hervorbrechenden  Quellen 
herbeizuleiten.  Heute  ist  bereits  ein  großer  Teil  des  trostlosen 
Karstfeldes  aufgearbeitet  und  bringt  reiche  Zuckerrohremten  her- 
vor, nur  im  Norden  reicht  dasselbe  noch  unmittelbar  an  die 
Stadt.  Auch  die  Hänge  der  Berge,  die  von  fem  kahl  und  tot 
erscheinen,  sind  bis  hoch  hinauf,  bis  zu  Höhen  von  1200  bis 
1500  m  terrassiert  und  angebaut,  zahllose  kleine  weiße  Häuschen, 
sogenannte  Cortijos,  meist  Wohnungen  ärmerer  Pächter,  sind  über 
die  Berghänge  und  durch  die  Täler  verstreut.  Besonders  zahl- 
reich  sind    diese  Cortijos   an    dem  hohen  Bergwalle,  welcher  die 


—     idz     — 

kleine  Küstenebene  von  Velez  Malaga  im  Halbkreise  umschließt, 
so  daß  sie  der  Landschaft  einen  höchst  eigentümlichen  Charakter 
verleihen.  Von  dem  Fleiß,  dem  von  Geschlecht  zu  Geschlecht 
vererbten  Geschick  in  Bearbeitung  der  steinigen,  steilen  Gehänge, 
der  Befestigung  des  Bodens  durch  Steinmauern,  der  Herbeileitung 
von  Wasser,  wie  andererseits  von  der  Anspruchslosigkeit,  Genüg- 
samkeit und  Armut  der  Bewohner  kann  man  sich  erst  eine  Vor- 
stellung machen,  wenn  man  mit  ihnen  gelebt  hat. 

Am  häufigsten  ist  die  Fruchtbarkeit,  der  treffliche  Anbau 
und  die  sorgsame  Bewässerung  der  Huerta  von  Valencia  ge- 
schildert worden.  Es  handelt  sich  dort  in  der  Tat  um  eine 
große  herrliche  Gartenlandschaft,  die  aber  doch  meinen  vielleicht 
zu  hoch  gespannten  Erwartungen,  möglicherweise  auch  infolge 
des  selbst  hier  strengen  Winters  von  1887/88  nicht  ganz  ent- 
sprochen hat.  Die  freilich  weit  kleinere,  von  wunderbaren  Berg- 
formen umrahmte  Conca  d'Oro  von  Palermo  entspricht  in  weit 
höherem  Maße  mit  ihren  dichten,  fast  die  ganze  Ebene  füllenden 
Fruchthainen  den  Vorstellungen  südlicher  Üppigkeit.  Die  Huerta 
von  Valencia  ist  im  Grunde  nur  ein  Teil  der  langen  schmalen 
Küstenebene,  welche  den  flachen  Golf  von  Valencia  auf  170  km 
vom  Kap  St.  Antonio  im  Süden  bis  Kap  Oropesa  im  Norden 
umsäumt.  Die  Ebene  besteht  keineswegs,  wie  man  auf  den 
ersten  Blick  annehmen  möchte,  aus  jungem,  von  den  zahlreich 
hier  mündenden  Flüssen  angeschwemmtem  Lande,  solche  Bil- 
dungen spielen  eine  ganz  untergeordnete  Rolle;  es  sind  vielmehr 
tertiäre  marine  Ablagerungen,  die  durch  eine  neuere  Hebung  des 
Landes  in  eine  sich  sehr  sanft  zum  Meere  neigende  Küstenebene 
verwandelt  worden  sind.  Der  Boden  ist  demnach  an  und  für 
sich  auch  nicht  besonders  fruchtbar,  die  Bearbeitung  und  Be- 
wässerung bei  sorgsamer  Düngung  und  günstigem  Klima  macht 
ihn  erst  dazu.  Durch  diese  Hebung  ist  selbst  eine  ehemalige 
Küsteninsel  verlandet  worden,  sie  bildet  heute  das  ganz  insel- 
artig aus  der  Ebene  gegen  das  Meer  vorgeschobene  Kap  Cullera. 
Andererseits  ist  das  Haff  (die  Albufera)  von  Valencia  ein  noch 
nicht  ausgefüllter  Meeresrest.  Die  Breite  dieser  Küstenebene  ist 
sehr  verschieden,  am  größten  ist  sie  etwas  südlich  von  Valencia, 
wo  sie  sich  am  Jucar  und  seinem  rechten  Zufluß  Albaida  tiefer 
ins  Innere  erstreckt.  Die  mittlere  Breite  mag  etwa  8  km  be- 
tragen,   ihr   Flächeninhalt    etwa    1200 — 1400  qkm.     Diese   ganze 


—       203      — 

Fläche  ist  gartenartig  angebaut,  eine  Huerta  grenzt  an  die  andere, 
sie  ist  meist  künstlich  bewässert  und  bringt  vielfach  mehrere 
Ernten  im  Jahr.  Doch  würde  man  irren,  wenn  man  das  Ganze 
für  einen  großen  Fruchthain  hielte,  nur  im  Norden  und  im  Süden 
herrschen  Baumpflanzungen  vor,  bei  Valencia  schon  überwiegt 
offenes,  wenn  auch  sehr  baumreiches  Land,  um  den  Strandsee 
und  am  Jucar  liegen  die  berühmten  Reisfelder,  die  überaus  reichen 
Ertrag  geben.  Um  Valencia  herrscht  der  Anbau  von  Weizen, 
Mais,  Hülsenfrüchten,  Melonen  und  einer  Fülle  von  Gemüsen 
wie  Futterkräutern  vor,  Fruchtbäume,  namentlich  Orangen,  Feigen, 
Granaten,  Pfirsiche  und  Maulbeerbäume  sind  in  großer  Zahl  da- 
zwischen gepflanzt,  auf  unbewässertem  Lande  pflanzt  man  01- 
und  Johannisbrotbäume,  an  den  Hängen  Reben.  Die  Bewässe- 
rungsanlagen, deren  Schöpfer  wohl  die  Araber  waren,  sind 
wunderbar  entwickelt,  die  die  Küstenebene  durchströmenden 
Flüsse,  die  eigentlichen  Schöpfer  dieses  Reichtums,  der  Mijares, 
der  Palancia,  Turia,  Jucar,  Serpis,  werden  durch  zahlreiche  Ka- 
näle, zum  Teil  schon  innerhalb  der  Berge,  angezapft  und  liegen 
den  größten  Teil  des  Jahres  in  ihrem  untersten  Laufstück  trocken. 
Kunstvoll  wird  das  Wasser  über  die  ganze  Ebene  verbreitet,  die 
sich  kaum  merkbar  in  völlig  wagerechten,  ganz  unter  Wasser  zu 
setzenden  Terrassen  ausgelegt  zum  Meere  hinabsenkt.  Am  größten 
ist  der  Wasserbedarf  für  den  Reis-  und  Orangenbau.  Letztere 
zieht  man  nicht  wie  in  Sizilien  in  meist  ummauerten  Gärten  auf 
hochstämmigen,  fünf  bis  sechs  Meter  Höhe  erreichenden  Bäumen, 
sondern  mehr  auf  niederen  Bäumchen  von  kaum  drei  Meter  Höhe 
auf  offenen  Feldern,  die  aber  immerhin  gegen  Beginn  des  Früh- 
lings mit  ihrer  unglaublichen  Fülle  goldener  Früchte,  die  fast  aus 
dem  Eisenbahnwagen  greifbar  sind,  einen  herrlichen  Anblick  ge- 
währen. Der  nördliche  Teil  der  Ebene  bei  Castellon  de  la 
Plana,  Burriana  und  Villareal  ist  eine  wenig  unterbrochene  un- 
geheure Apfelsinenpflanzung.  Noch  reicher  ist  aber  der  südliche 
Teil  der  Ebene,  am  Jucar  und  im  unteren  Albaidatale,  um 
Alcira,  Carcagente  und  das  wasserreiche  Jativa.  Dort  ist  auch 
die  Mannigfaltigkeit  der  Fruchtbäume  viel  größer,  der  Granat- 
baum wird  im  großen  gezogen,  und  die  Dattelpalme,  die  weiter 
nach  Süden  in  der  Provkiz  Murcia  ganze  Oasen  büdet,  tritt  hier 
schon  in  so  großer  Zahl  auf,  daß  sie  den  Landschaftscharakter 
bestimmt.     Da  die  Berge  hier  ziemlich  kahl  sind,  die  Bauart  der 


—      264     — 

Häuser,  die  Gesichtszüge  und  die  Kleidung  der  Bewohner  noch 
vielfach  an  die  Araber  erinnern,  so  fand  ich  die  Ähnlichkeit 
dieser  Gegend  mit  den  schon  hochgelegenen  Oasenlandschaften 
am  Nordrande  der  Sahara,  die  ich  zwei  Jahre  früher  bereist 
hatte,  sehr  groß.  In  der  echten  Palmenoase  von  Elche  in  der 
Provinz  Murcia  gibt  es  Punkte,  wo  man,  nach  der  Umgebung 
urteilend,  glauben  müßte,  man  befinde  sich  in  einer  Oase  der 
nördUchen  Sahara.  Leider  zeigte  im  Frühjahr  1888  diese  para- 
diesische Landschaft  ein  recht  trauriges  Ge.sicht,  die  Apfelsinen- 
haine waren  von  Alcira  bis  Jativa  bis  in  die  Wurzeln  erfroren, 
mit  verbrannten  Blättern,  zum  Teil  ganz  laublos  standen  sie  da, 
Massen  verfaulter  Früchte  bedeckten  den  Boden,  auch  die  Jo- 
hannisbrotbäume, hier  und  da  selbst  die  Ölbäume  waren  erfroren, 
die  Dattelpalmen  dagegen  nicht  überall.  Es  war  im  Februar 
Schnee  gefallen  und  ein  paar  Tage  liegen  geblieben,  er  hatte 
die  üppiggrünen  Bäume  bedeckt,  die  so  am  meisten  gelitten 
hatten,  während  er  an  den  hängenden  Fiedem  der  Dattelpalmen 
weniger  haftete.  Bei  Castellon  hatten  zur  Zeit  meines  Aufent- 
haltes die  Apfelsinen,  die  zum  großen  Teil  auch  schon  abgeerntet 
waren,  noch  nicht  gelitten,  ich  erfuhr  aber,  daß  wenige  Tage 
nachher  ein  Nachtfrost,  Mitte  März,  durch  einen  mehrere  Taü;e 
wehenden  Mistral  verursacht,  auch  dort  großen  Schaden  getan 
hat.  Im  Süden  der  Provinz  Valencia  ist  der  Wohlstand  einer 
ganzen  Landschaft  auf  vielleicht  ein  Jahrzehnt  vernichtet,  bis  neue 
Pflanzungen  wieder  herangewachsen  sind.  Überhaupt  ist  der 
Winter  1887/88  auch  in  Spanien  sehr  heftig  aufgetreten,  der 
Verlust  an  Eigentum  durch  Frost  und  Schnee,  die  Not  der  meist 
armen  Bewohner,  die  wochenlang  nicht  in  den  Feldern  arbeiten 
und  ihren  dürftigen  Tagelohn  (i  bis  1,25  Franken)  verdienen 
konnten,  war  dort  weit  größer  als  bei  uns.  Noch  an  der  warmen 
Südküste  Andalusiens  fand  ich  das  Zuckerrohr  an  vielen  Punkten 
völlig  erfroren  und  auch  damit  die  einzige  Ernte  vieler  Grund- 
besitzer verloren.  Schon  ein  Besuch  des  berühmten  botanischen 
Gartens  in  Valencia  zeigte  trotz  schützender  Matten  und  Zypressen- 
hecken furchtbare  Verheerungen  des  Frostes.  Doch  kehren  kalte 
Winter  zum  Glück  hier  nur  in  langen  Zeitabschnitten  wieder. 

Der  Gegensatz  zwischen  diesem  Gebiete  intensivster  Boden- 
verwertung und  den  angrenzenden  nicht  bewässerbaren  Land- 
schaften   im  Gebirge    und    auf    dem    Hochlande    ist   ein   überaus 


—       205      — 

scharfer:  hier  ein  Gebiet  höchsten  Boden  wertes,  bedeckt  von 
zahlreichen  Städten,  Dörfern,  Weilern  und  einzelnen  Häusern, 
dort  fast  wertlose  Einöde  mit  weit  verstreuten,  dann  aber  immer 
ihre  Bewohner  nach  Tausenden  zählenden  Ortschaften.  Von  der 
Provinz  Valencia  ist  eigentlich  nur  die  Küstenebene  bebaut,  reich- 
lich die  Hälfte  ihrer  Bodenfläche  ist  unangebaut,  womit  aber 
durchaus  nicht  gesagt  sein  soll,  daß  sie  nicht  anbaufähig  sei. 
So  drängen  sich  die  Bewohner  in  den  Huertas  zusammen. 

Man  kann  im  Gestadelande  Spaniens  am  Mittelmeere  nach 
den  vorwiegend  gebauten  Gewächsen  vier  verschiedene  Gebiete 
unterscheiden:  in  Katalonien  herrscht  die  Rebe  und  der  Ölbaum 
vor,  in  Valencia  die  Apfelsinen,  in  Murcia  in  noch  schärfer  aus- 
geprägten Berieselungsoasen  die  Dattelpalme,  daneben  Apfelsinen, 
schließlich  in  Andalusien  das  Zuckerrohr.  Der  Zuckerrohrbau  in 
Andalusien  ist  in  den  letzten  Jahrzehnten  wieder  zu  großer  Be- 
deutung gelangt,  steht  aber  jetzt  im  ganzen  Mittelmeergebiet 
einzig  da.  Im  Mittelalter  und  noch  im  i6.  Jahrhundert  versorgten 
die  Mittelmeerländer  allein  Europa  mit  Zucker,  der  steigende 
Anbau  in  der  Neuen  Welt  ließ  denselben  aber  bald  nicht  mehr 
lohnend  erscheinen,  zuletzt,  in  der  Zeit,  als  er  in  Andalusien 
wieder  auflebte,  erlosch  er  auch  in  Sizilien.  Daß  die  Araber 
erst  den  Anbau  des  Zuckerrohrs,  das  von  Indien  nach  Oman 
und  dem  unteren  Mesopotamien  verpflanzt  worden  war,  über  die 
Mittelmeerländer  verbreitet  haben,  unterliegt  keinem  Zweifel.  In 
Ägypten,  wo  es  ja  heute  wieder  im  großen  gebaut  wird,  in  Syrien, 
auf  Cypern,  Rhodus,  vor  allem  auf  Sizilien  fand  im  Mittelalter 
Zuckerrohrbau  im  großen  statt.  Von  da  kam  es  nach  Andalusien, 
Madeira,  den  Azoren  und  den  Kanarischen  Inseln  und  dann  in 
die  Neue  Welt,  wo  es  erst  seine  große  Bedeutung  erlangte. 
Handel  mit  Zucker  spielte  im  Mittelalter  in  den  Mittelmeerländern 
eine  wichtige  Rolle,  von  Damaskus  und  Alexandria,  von  Anda- 
lusien kamen  im  15.  Jahrhundert  besonders  große  Mengen  in  den 
Handel,  im  südlichen  Marokko  wird  schon  im  10.  Jahrhundert 
bedeutender  Zuckerrohrbau  erwähnt.  Ebenso  alt  und  jedenfalls 
durch  die  Araber  eingeführt  dürfte  er  in  Sizilien  sein,  sicher 
nachgewiesen  ist  er  dort  seit  dem  1 1 .  Jahrhundert.  Namentlich 
bei  Palermo  und  anderwärts  an  der  wohlbewässerten  Nordküste 
wurde  viel  Zuckerrohr  gebaut;  bis  gegen  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts blüht  dieser  Anbau,  dann  aber  beginnt  er  dem  amerika- 


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nischen  Wettbewerb  zu  erliegen.  Bis  in  den  Beginn  dieses  Jahr- 
hunderts hatten  sich  noch  einige  Reste,  die  letzten  bei  Avola, 
südlich  von  Syrakus,  erhalten.  Jedenfalls  ist  das  Zuckerrohr  so- 
fort bei  der  ersten  Besiedelung  (1435)  auch  nach  den  Azoren 
verpflanzt  worden,  Prinz  Heinrich  belehnte  dort  den  Christus- 
orden mit  der  Hälfte  des  Ertrags  der  Zuckerrohrpflanzungen. 
Auch  Behaim  gedenkt  derselben  dort  auf  seiner  Weltkarte.  Es 
kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  der  Zuckerohrbau  Anda- 
lusiens im  15.  und  1 6.  Jahrhundert  vorzugsweise  dieselben  Gegen- 
den umfaßte  wie  heute.  Ob  derselbe  ganz  zum  Erliegen  gekommen 
war,  ist  nicht  sicher  festzustellen,  aber  wahrscheinlich.  Als  Moritz 
Willkomm  1844  und  1845  diese  Küstengebiete  bereiste,  fand  er 
die  heute  ein  großes  Zuckerrohrfeld  bildende,  von  einer  schönen 
Straße  durchschnittene  Ebene  der  Mündung  des  Guadalhorce  bei 
INIalaga  noch  als  wüsten  Sumpf,  den  man  landeinwärts  umging. 
In  der  Ebene  von  Motril  und  bei  Almunecar  erwähnt  er  saftig 
grüne  Zuckerrohrfelder,  aber  nur  nebenbei,  sie  waren  off'enbar 
ohne  größere  Bedeutung,  während  wir  heute  hier  einen  geradezu 
großartigen  Zuckerrohrbau  haben.  Nur  bei  Velez  Malaga  wurde 
derselbe  damals  wieder  im  großen  betrieben  und  war  ein  Spanier, 
Ramon  de  la  Sagra,  der  ehemals  Direktor  des  botanischen 
Gartens  in  Havana  gewesen  war,  im  Begriff,  eine  große  Zucker- 
fabrik und  Raffinerie  zu  bauen.  Seine  Versuche  hatten  ergeben, 
daß  der  spanische  Zucker  dem  westindischen  nicht  nachstehe. 
Er  scheint  Erfolg  gehabt  zu  haben,  und  seitdem  hat  sich  der 
Zuckerrohrbau,  nur  noch  einmal  während  des  amerikanischen 
Bürgerkriegs,  der  auch  hier  wie  im  ganzen  Mittelmeergebiet  einen 
wahren  Baumwollenschwindel  -hervorgerufen  hatte,  unterbrochen, 
gewaltig  ausgedehnt.  Alles  in  den  kleinen  Küstenebenen  von 
Tarifa  im  Westen  bis  Adra  im  Osten,  ja  selbst  an  den  Berg- 
hängen, nur  irgendwie  bewässerbare  Land,  eine  sehr  bedeutende 
Fläche,  ist  mit  Zuckerrohr  bestellt,  alle  Grundbesitzer,  große  wie 
kleine,  bauen  dieses  am  reichsten,  selbst  noch  vor  den  Apfelsinen 
lohnende  Gewächs,  viele  setzen  alles  auf  diese  eine  Karte.  Zu 
Dutzenden  sind  Zuckerfabriken  entstanden,  ihre  hohen  Schlote 
bilden  im  Landschaftsbilde  eine  ebenso  ungewohnte  wie  häufige 
Erscheinung  wie  im  Niltale  am  Fuße  der  Pyramiden.  Viel  Land 
ist  für  diese  gewinnreiche  Pflanze  urbar  gemacht  worden,  das 
ohne    sie    wohl   noch   lange    des   Bearbeiters   geharrt  hätte,    groß- 


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artige,  kostspielige  Wasserleitungen  sind  angelegt  worden,  welche 
tiefe  Täler  auf  hohen  Brücken  überschreiten  und  weitab  von 
jedem  Flusse  oder  jeder  Quelle  gelegene  Flächen,  die  vorher 
mit  Gestrüpp  bedeckt  waren  oder  höchstens  Weizen  hervor- 
brachten, überaus  ertragreich  gemacht  haben.  Bei  Nerja  fand 
ich  die  Hügel  bis  zu  bedeutender  Höhe  mit  Zuckerrohr  bestellt, 
teils  terrassiert,  teils  derartig  in  Furchen  angelegt,  daß  das  hinein- 
geleitete Wasser  den  Boden  gründlich  durchfeuchten  muß.  Also 
ähnlich  wie  man  auf  Madagaskar  und  in  Südostasien  vielfach 
Reis  an  Berghängen  baut.  Es  ist  dort  eine  mächtige  Quelle,  ein 
sogenannter  Nacimiento,  der  bei  dem  Dorfe  Maro  am  Fuße  der 
Sierra  de  Almijara  aus  dem  Kalkgebirge  in  wunderbarer  Fülle 
und  Klarheit,  einen  kleinen  Fluß  bildend,  hervorbricht,  in  eine 
Leitung  gefaßt  und  6  km  weit  bis  Nerja  geführt,  wo  sich  das 
zum  Zuckerrohrbau  geeignete  Land  in  größerer  Ausdehnung  fand. 
Eine  50  m  tiefe  Schlucht  mußte  in  vierfacher  Bogenstellung  über- 
einander dabei  überbrückt  werden.  Hier,  wo  das  hohe  Küsten- 
gebirge sich  steil  über  dem  Meere  erhebt  und  Schutz  gewährt, 
war  das  Zuckerrohr  nicht  erfroren;  aber  weiter  westwärts,  wo  dieser 
Schutz  geringer  ist,  bei  Velez  Malaga  und  in  der  Ebene  von  Ma- 
laga selbst,  war  auf  weite  Strecken  die  ganze  Ernte  verloren. 

Ich  habe  im  März  und  April  1888^)  fast  das  ganze  anda- 
lusische  Zuckerrohrgebiet  bereist,  es  gehört  zu  den  malerisch- 
sten Gegenden  Spaniens,  wie  es  das  klimatisch  begünstigste  ist. 
Nur  gegen  Gibraltar  zu  Lande  an  der  Küste  entlang  von  Malaga 
aus  vorzudringen,  war  unmöglich.  Ich  hatte  den  Versuch  gemacht, 
die  zweitägige  Strecke,  die  zur  Hälfte  nur  zu  Pferde  gemacht 
werden  kann,  zurückzulegen  und  war  eines  Morgens  mit  dem 
Poststellwagen  von  Malaga  aufgebrochen.  Es  regnete  heftig;  wie 
auch  in  Andalusien  und  Nordmarokko,  wohin  ich  später  über- 
setzte, diese  Monate  überaus  regnerisch  und  verhältnismäßig  kühl 
waren;  die  sogenannte  Straße,  die  man  in  Deutschland  kaum  als 
Feldweg  bezeichnen  würde,  geht  steil  bergauf  und  bergab  und 
besteht  bald  aus  vom  Wasser  zerrissenem  Felsboden,  bald  aus 
unergründlichem  Schlamm.  Die  aus  dem  Gebirge  kommenden 
Gießbäche,    die    meist    trocken    liegen,    entbehren    natürUch    der 

l)  Ich  betone,  daß  diese  Schilderung  des  spanischen  Zuckerrohrbaus 
sich  auf  1888  bezieht.  Die  Einführung  des  Zuckerrübenbaus  in  den  letzten 
Jahren  ist  nicht  ohne  Einfluß  geblieben. 


—     268     — 

Brücken,  im  günstigsten  Falle  hat  man  ihr  Bett  verbreitert,  flach 
ausgetieft  und  gepflastert,  so  daß  das  Wasser  rasch  darüber- 
schießt, Geröll,  Gestrüpp  usw.  mitreißt  und  man  ohne  Gefahr 
hindurchfahren  oder  reiten  kann.  Wir  waren  in  dieser  Weise 
bereits  glücklich  über  mehrere  dieser  Ramblas  hinüber,  über  die 
letzte,  die  einen  solchen  Übergang  bereits  zum  Teil  zerstört  hatte, 
nur  mit  Mühe  und  nicht  ohne  Gefahr,  als  uns  nach  sieben- 
stündiger  Fahrt  der  Fluß  von  Fuengirola  Halt  gebot.  Er  war  so 
stark  geschwollen  und  so  reißend,  daß  selbst  ein  Reiter,  der  die 
beste  Furt  erkunden  sollte,  sich  nicht  hineinwagte.  Es  war 
übrigens  an  demselben  Tage  in  der  Nähe  von  Gibraltar  ein  des 
Landes  im  hohen  Grade  kundiger  Engländer  bei  dem  Versuche, 
auf  der  Heimkehr  von  der  Jagd  einen  geschwollenen  Gießbach 
zu  durchreiten,  umgekommen.  Ich  hatte  nun  die  Wahl,  zu  warten 
bis  der  Regen  aufhörte  und  das  Wasser  sich  verlief,  was  zuweilen 
in  wenigen  Stunden  der  Fall  ist,  oder  nach  Malaga  umzukehren. 
Ich  entschloß  mich  rasch  zu  letzterem  und  langte  nachts  nach 
mühseliger  Fahrt  wieder  in  Malaga  an.  Der  Guadalhorce,  der 
westlich  von  Malaga  mündet  und  von  einer  schönen  Eisenbrücke 
überspannt  wird,  war  inzwischen  gewaltig  gestiegen  und  reichte 
fast  bis  an  die  Brücke:  wenige  Stunden  später  riß  er  sie  weg. 
Wäre  ich  nicht  sofort  umgekehrt,  so  wäre  ich  für  vier  Tage  zwi- 
schen den  beiden  Flüssen  in  dem  armseligen  Fuengirola  gefangen 
gewesen,  denn  auch  das  Meer  war  so  stürmisch,  daß  sich  keine 
Barke  hinauswagen  konnte. 

Geringer  waren  die  Schwierigkeiten  des  Küstenwegs  in  öst- 
licher Richtung,  obwohl  auch  dort,  wie  schon  erwähnt,  die  Strecke 
von  Nerja  nach  Almuüecar  zu  Fuß  zurückgelegt  werden  mußte. 
Es  war  ein  zwar  anstrengender  sechsstündiger  Marsch  in  glühen- 
der Sonne,  aber  landschaftlich  überaus  lohnend.  Durch  die 
riimenden  Wasser  in  zahlreiche  senkrecht  zur  Küste  streichende 
Bergrücken  zerschnitten,  bricht  hier  die  Sierra  de  Almijara  steil 
am  Meere  ab,  eine  tiefe  Schlucht  bildet  die  Grenze  zwischen 
den  Provinzen  Malaga  und  Granada.  Von  hier  führt  der  Pfad 
auf  eine  kurze  Strecke  durch  einen  lichten  Wald  von  Aleppo- 
kiefern,  länger  durch  immergrünes,  duf'Jges,  hochgewachsenes 
Gestrüpp  von  Rosmarin,  Salvien,  Lavendel,  Lentiscus,  Ginster, 
Immergrüneichen,  Zwergpalmen  und  dergleichen.  Sonst  sind 
auch  hier,  wo  es  nur  irgend  möglich  war,   die  steilen  Hänge  an- 


—      26g      — 

gebaut,  namentlich  mit  Tomaten,  die  in  dieser  sonnigen  Lage 
(am  31.  März  nach  kaltem  Winter!)  schon  ziemlich  reif  waren. 
Die  vereinzelten  Cortijos  liegen  meist  an  höchst  malerischen 
Punkten,  aber  nur  ein  einziges  Dorf  findet  sich,  Herradura,  am 
Rande  einer  mit  Zuckerrohr  bebauten  Ebene  an  einer  kleinen 
hufeisenförmigen  Bucht,  daher  der  Name  des  Ortes,  die  durch 
eine  kleine  Küstenfeste  verteidigt  wird.  Solche  Festen,  meist 
noch  in  brauchbarem  Zustande  erhalten,  finden  sich  an  der 
ganzen  Küste  an  jedem  Punkte,  der  nur  einigermaßen  eine  Lan- 
dung möglich  erscheinen  läßt.  Sie  galten  vorzugsweise  den  See- 
räubern der  Berberei.  Almunecar  liegt  sehr  hübsch  auf  und  an 
einem  vereinzelt  aus  einer  kleinen  Bucht  mitten  aus  einer  kleinen 
Ebene  sich  erhebenden  Kalkfelsen,  dessen  höchster  Gipfel  dicht 
über  dem  Strande  eine  alte  Feste  trägt. 

Die  Entstehung  dieser  kleinen  buchtenartigen  Küstenebenen 
wie  bei  Herradura,  Almunecar,  Motril,  Malaga  usw.  ist  eine  be- 
sonders anziehende  Frage,  deren  Lösung  einer  der  Hauptzwecke 
meiner  Reise  war,  wie  ich  mit  ähnlichen  Zielen  zwei  Jahre  früher 
die  ganze  Küste  Nordafrikas  von  Cherchel  in  Algerien  bis  zur 
Syrte  und  1888  von  Andalusien  aus  die  marokkanische  Küste, 
stückweise  wenigstens,  von  der  Meerenge  bis  Oran  in  Algerien 
bereist  habe.  Ich  habe  mir  die  Ansicht  gebildet,  daß  an  Stelle 
dieser  kleinen  Ebenen  sich  in  naheliegender  geologischer  Ver- 
gangenheit, bis  zum  Begiim  der  Quatärzeit,  Meeresbuchten  be- 
fanden, die  wohl  vorzugsweise  durch  die  Tätigkeit  der  Brandungs- 
welle, welcher  große,  das  ,  ganze  Gebirge  durchsetzende  Quer- 
brüche, wie  bei  Malaga  und  Motril,  bequeme  Angriffspunkte 
gewährten,  ausgespült  worden  waren.  Seitdem  trat  eine  an  der 
ganzen  Mittelmeerküste  Spaniens  nachweisbare  aufsteigende  Be- 
wegung des  Landes  (nicht  Zurücksinken  des  Meeresspiegels)  ein, 
und  infolgedessen  begannen  die  in  diese  Buchten  mündenden 
Flüsse,  unterstützt  von  Brandungswelle  und  Küstenströmung,  welche 
die  an  den  Vorgebirgen  abgenagten  Massen  in  den  Buchten  ab- 
lagerten, dieselben  auszufüllen.  Dieser  Vorgang  ist  schon  so  weit 
gediehen,  daß  nur  noch  sehr  flache  iVusbuchtungen  übrig  sind. 
Die  Hauptarbeit  fällt  dabei  den  Flüssen  zu.  Diese  sind  zwar  die 
meiste  Zeit  wasserlos,  namentlich  da  sie  auch  für  künstliche  Be- 
wässerung verbraucht  werden,  aber  sie  haben  breite  geröllreiche 
Betten,   die  sogenannten  Ramblas,   für  gewöhnlich  die  bequemsten 


—     270     — 

Wege  ins  Innere,  und  führen  nach  heftigen  Regengüssen,  wie  sie 
hier  die  Regel  sind,  unglaubUche  Massen  Geröll  dem  Meere  zu. 
Diese  Geröllführung  ist  teils  auf  das  Klima  zurückzuführen,  indem 
in  der  langen  trockenen  Zeit  der  Boden  ausdörrt,  in  Spalten  auf- 
reißt, gelockert  wird,  so  daß  die  dann  plötzlich  eintretenden 
Regengüsse  ihn  um  so  leichter  angreifen  und  die  Massen  in  Be- 
wegung setzen  können,  teils  auf  die  petrographischen  Verhältnisse 
des  Gebirges,  das  zum  großen  Teil  aus  leicht  verwitternden  Kalk- 
und  Tonglimmerschiefern  besteht.  Der  Zugang  zu  diesen  heutigen 
Zuckerrohrgefilden  aus  dem  Inneren  erfolgt  meist  über  ziemlich 
hohe  und  schwierige  Pässe,  da  die  Flüsse  in  ungangbaren  tiefen 
Schluchten,  ähnlich  den  Klammen  unserer  Kalkalpen,  das  Küsten- 
gebirge durchbrechen.  Die  kürzeste  Straße  von  Granada  ans 
Meer  bei  Motril  folgt  zwar  nach  Überschreitung  der  unter  dem 
Namen  Sospiro  del  Moro  bekannten  Paßhöhe  dem  Tale  des 
Guadalfeo  abwärts,  wird  aber  schließlich  gezwungen,  den  west- 
lichen Rücken  der  Sierra  de  Lujar  zu  übersteigen,  um  Motril  zu 
erreichen.  Das  Tal  des  bei  Malaga  mündenden  Guadalhorce 
ist  erst  durch  die  Eisenbahn  dem  Verkehr  dienstbar  gemacht 
worden,  die  bei  dem  Knotenpunkt  Bobadilla  in  ca.  450  m  Meeres- 
höhe den  dort  auf  dem  Hochlande  in  breitem,  flachem  Tale 
dahinfließenden  Fluß  erreicht.  Die  Straßen  übersteigen  weiter 
östlich  von  Antequera  und  Loja  aus  in  Pässen  bis  zu  1285  m 
Höhe,  an  denen  in  arabischer  Zeit  wiederholt  blutig  gekämpft 
worden  ist,  das  Küstengebirge.  Von  Bobadilla  aus  hat  sich  der 
Fluß,  dem  off"enbar  ein  großer  Querbruch  und  starke  Schichten- 
störungen die  Arbeit  erleichterten  —  an  der  engsten  Stelle  der 
Klamm  stehen  die  Kalkbänke  ziemlich  senkrecht  — ,  ein  immer 
tieferes  Bett  gegraben  und  eine  der  großartigsten  Schluchten,  den 
sogenannten  Hoyo  von  Chorro  gebildet,  der,  da  der  Fluß  stets 
Wasser  führt,  auf  eine  Strecke  ganz  unzugänglich  ist.  Ich  selbst 
mußte  mich  von  der  Unmöglichkeit  überzeugen,  wie  schon  früher 
unternehmungslustige  junge  Deutsche  von  Malaga,  daß  die  Strecke 
zwischen  den  Eisenbahnstationen  Chorro  und  Gobantes  durchaus 
ungangbar  ist,  wenn  man  nicht  einen  Weg  in  die  Felsen  hauen 
läßt.  Der  Fluß  stürzt  in  einem  Wasserfall  drei  Kilometer  ober- 
halb Chorro  wie  aus  einem  Tore  aus  einer  150  m  hohen  senk- 
rechten Felswand  hervor.  Der  Eisenbahnbau  hat  hier  ein  volles 
Dutzend    Tunnel    erfordert,    zwischen    denen    zum    Teil    eiserne 


—       271       — 

Brücken  über  Querschluchten  geschlagen  werden  mußten.  Hier 
findet  einer  der  raschesten  und  darum  überraschendsten  Über- 
gänge zwischen  dem  Hochlande  und  der  Südküste  statt.  Bei 
Bobadilla  trägt  die  Landschaft  einen  rauhen,  fast  nordischen 
Charakter,  Weizenfelder  und  Weideland  dehnt  sich  weithin  aus, 
nur  der  Ölbaum  und  Zwergpalmengestrüpp  erinnert  an  den  Süden. 
Ist  man  aber  durch  die  Tunnel  von  Chorro  hindurch,  so  er- 
weitert sich  das  Tal  sehr  rasch,  die  Hänge  werden  sanfter,  kleine 
Dörfer,  Städtchen  mit  den  Trümmern  maurischer  Burgen  und  den 
Villen  reicher  Kaufleute  von  Malaga  treten  auf,  umringt  von 
Pflanzen  der  Tropen.  Das  ganze  Tal  ist  ein  herrlicher  Frucht- 
garten voll  größter  Mannigfaltigkeit:  die  Apfelsinen,  hier  in  mäch- 
tigen alten  Bäumen,  herrschen  vor,  die  Dattelpalme  breitet 
schützend  ihre  Krone  über  sie  aus,  hier  und  da  dunkle  Zypressen, 
unten  am  Fluß  Silberpappeln  und  Dickichte  hohen  Rohres,  an 
der  Eisenbahn  hoch  aufgeschossene  bläuliche  Eukalypten,  die 
schon  ganze  Haine  bilden,  an  den  Berghängen  dunkle  Johannis- 
brotbäume und  graue  Oliven,  auch  rötUch  schimmernde  Granat- 
bäume sind  häufig,  selbst  Birn-  und  Pflaumenbäume  fehlen  nicht, 
auffällige  Erscheinungen  neben  den  saftstrotzenden  Opuntien  und 
Agaven  der  Neuen  Welt.  Alles  prangt  in  frischem  Grün  des 
Frühlings,  der  Feigenbaum  und  der  Weinstock  haben  schon  voll 
entwickelte  Triebe  am  24.  März!  Weiterhin  mündet  das  Tal  in 
die  Vega  von  Malaga  aus,  die  Fruchtbäume  werden  seltener, 
das  Zuckerrohr  herrscht  vor. 

Wie  schon  der  Name  erkennen  läßt,  ist  Almunecar  ein  Ort 
mit  noch  ganz  arabischem  Gepräge,  rings  von  Zuckerrohrfeldern 
umgeben,  die  sozusagen  in  die  Stadt  selbst  eindringen.  Der 
Burgfelsen  war  gewiß  einmal  eine  Insel,  die  ihr  Dasein  der 
großen  Festigkeit  des  marmorartigen  blauen  Kalksteins  verdankte, 
den  die  Brandungswelle  nur  langsam  abzutragen  vermochte.  Daß 
er  zum  Teil  dennoch  abgetragen  wurde,  zeigt  eine  Klippenreihe, 
die  ihm  ins  Meer  hinaus  vorgelagert  ist  und  so  den  Schiß"en 
etwas  Schutz  bietet.  Dieser  Umstand,  wie  die  natürUche  Festig- 
keit des  Burghügels  und  die  wohlbewässerte  fruchtbare  kleine 
Ebene  sind  die  drei  Ursachen,  welche  hier  wohl  sehr  früh  eine 
Siedelung  haben  entstehen  lassen.  In  arabischer  Zeit  hat  Almu- 
necar  eine    gewisse   Rolle    gespielt;    hier    landete   im   Jahre    755 


—     272     — 

Abderrahman,  der  Sohn  Moawias,  einer  der  wenigen  der  Ver- 
tilgung ihrer  Familie  durch  die  Abbasiden  zu  Damaskus  ent- 
ronnenen Ommijaden,  der  Begründer  des  Kalifats  von  Cordova. 
Daß  der  Ackerbau  auf  so  beschränktem  Gebiet,  neben  welchem 
Fischerei  wenig  ins  Gewicht  fällt,  die  8000  Bewohner  des  Städt- 
chens zu  nähren  vermag,  läßt  auch  hier  erkennen,  welche  Volks- 
dichte in  diesem  glücklichen  KUma  möglich  ist.  Übrigens  konnte 
ich  hier  noch  eine  neue  Art,  Schweine  zu  verwenden  und  zu 
mästen,  kennen  lernen:  man  führt  sie  am  Seil  durch  die  Straßen 
und  läßt  diese  so  reinigen,  gewiß  gründlicher,  wie  es  die  Ziegen 
tun,  die  ich  anderwärts  in  Spanien  dies  Geschäft  besorgen  sah. 
Wie  viel  praktischer  sind  doch  die  wackeren  Bürger  von  Almu- 
necar  als  die  vorurteilsvollen  Mohammedaner,  welche  aus  religiösen 
Gründen  Hunde  und  Geier  mit  dem  Auffressen  des  Unrates  be- 
trauen, die  doch  ihrerseits  nicht  zu  essen  sind. 

Da  ich  am  Ostersonnabend  in  Almuhecar  anlangte,  so  genoß 
ich  auch  da  noch  in  der  Nacht  einen  der  großen  Umzüge,  in 
welchen  man  in  der  Osterzeit  stundenlang  mit  Musik  und  Wind- 
beziehungsweise Wachslichtern  meist  lebensgroße  Wachsfiguren, 
■welche  sich  auf  die  Leidensgeschichte  Chrisii  beziehen,  durch  die 
Stadt  trägt,  imd  ganz  wie  am  Mittwoch  vor  Ostern  und  Grün- 
donnerstag in  Velez  Malaga,  am  Karfreitag  in  Nerja  solche  statt- 
fanden. Selbstverständlich  war  von  wirkUcher  Andacht  bei  den 
Tausenden  von  Menschen,  welche  an  dem  Umzug  teilnahmen 
oder  von  Baikonen  und  Fenstern  zuschauten,  wenig  zu  merken, 
man  sagte  mechanisch  Gebete  her  und  vergnügte  sich  so  viel 
wie  möglich;  es  war  mehr  ein  nächtliches  Volksfest.  Am  groß- 
artigsten, aber  völlig  zu  öffentlichen  Schaustellungen  ausgeartet 
sind  bekanntlich  diese  Umzüge  in  Sevilla,  wohin  jetzt,  wie  einst 
zum  Osterfeste  in  Rom,  alle  Fremden  in  Spanien  zusammen- 
zuströmen pflegen,  zur  großen  Freude  der  Gastwirte,  die  ihre 
Schafe  dann  gründüch  scheren.  Es  gelang  mir,  Sevilla  noch 
rechtzeitig  zu  verlassen,  ohne  darum  diesen  Umzügen  ganz  ent- 
rinnen zu  können.  Diese  Tage  vor  Ostern,  besonders  Grün- 
donnerstag und  Charfreitag,  sind  die  höchsten  Feiertage  in  Spa- 
nien, für  die  so  strenge  Vorschriften  bestehen,  daß  der  Kutscher, 
der  mich  am  Karfreitag  in  einer  Diabola  (kleiner  zweiräderiger 
Einspänner,  anderwärts  Tartane  genannt)  von  Velez  Malaga  nach 
Nerja   gefahren   hatte,    dort   von    der  Polizei   deswegen   in  Strafe 


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genommen  werden  sollte.  Das  hinderte  nicht,  daß  ich  unterwegs  allent- 
halben Landleute  in  den  Feldern  beschäftigt  fand.  Ja,  am  Ostersonn- 
tage herrschte  in  der  Ebene  von  Motril  die  allerlebhafteste  Arbeits- 
tätigkeit, wie  sie  in  Deutschland  an  diesem  Tage  ganz  undenkbar  wäre. 
Von  Almuhecar  führt  eine  neue  gut  gebaute  Straße  nach 
Motril;  da  aber  das  einzige,  wie  mir  von  verschiedenen  Seiten 
bestimmt  versichert  wurde,  in  der  ganzen  Stadt  vorhandene  Fuhr- 
werk, eine  Diabola,  tags  vorher  nach  Motril  gefahren  war,  so 
mußte  ich  die  vier  Stunden  lange  Strecke  zu  Pferde  zurücklegen, 
wobei  wir  die  Windungen  der  Straße,  die  durch  zahlreiche  Quer- 
täler bedingt  sind,  auf  steilen  Reitwegen  abschnitten,  fast  ununter- 
brochen in  sünd flutartigem  Regen.  Nur  für  eine  kurze  Weile 
hörte  der  Regen  auf  und  brach  die  Sonne  durch,  just  am  schön- 
sten Punkte,  als  beim  Umbiegen  um  den  letzten  Bergsporn  das 
alte  Felsennest  Salobrena,  dahinter  die  herrliche  Ebene  von  Mo- 
tril vor  mir  lag,  Salobrena  war  in  maurischer  Zeit  eine  starke 
Feste,  die  am  Rande  der  reichen  Vega  von  Motril  am  Meere 
auf  einem  hohen  vereinzelten  Kalkfelsen  thronte,  heute  liegt  sie, 
zuletzt  von  den  Franzosen  zerstört,  in  malerischen  Trümmern  da. 
Um  den  Burgberg  hat  sich  das  gleichnamige  Städtchen  angesiedelt, 
dessen  zwei  große  Zuckerfabriken  wenig  in  das  Landschaftsbild 
passen.  Hier  begann  nun  ein  Treiben,  wie  es  überraschender 
am  Ostersonntage  nicht  gedacht  werden  konnte.  Die  Zuckerrohr- 
ernte war  in  vollem  Gange,  Tausende  von  Arbeitern  waren  da- 
mit beschäftigt.  Die  ganze  Ebene  von  Motril,  die  ehemals 
mannigfachen  Wechsel  von  Zuckerrohr-,  Baumwoll-,  Mais-  und 
Batatenfeldern,  untermischt  mit  Hainen  von  Oliven  und  Apfelsinen, 
wie  Gruppen  von  anderen  südlichen  Fruchtbäumen  und  Dattel- 
palmen darbot,  ist  jetzt  ein  einziges  großes  Zuckerrohrfeld,  das 
mitten  in  der  Ernte  mit  den  Tausenden  geschäftiger  Menschen 
einem  wimmelnden  Ameisenhaufen  glich.  Schon  durch  die  engen 
Gassen  von  Salobrena  war  schwer  durchzukommen,  denn  in  langen 
Zügen,  zu  zwanzig  bis  dreißig  auf  einmal,  kamen  mir  Maultiere, 
Pferde  und  Esel  entgegen,  zu  beiden  Seiten  mit  schweren  Bürden 
von  Zuckerrohr  beladen,  das  sie  der  Fabrik  zuführten.  Da  andere 
Züge  in  gleicher  Richtung  mit  mir  leer  zu  den  Feldern  zurück- 
eilten, fehlte  es  nicht  an  Drängen  und  Stoßen,  Zurufen  und 
Schreien  der  Treiber.  Doch  ging  es  stets  friedlich  ab,  nichts 
von   jenen   rohen   Schimpfereien,    wie    sie   bei   uns   unvermeidlich 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  l8 


—     274     — 

gewesen  wären.  So  ging  es  fort,  reichlich  auf  anderthalb  Stunden 
durch  die  ganze  Vega,  auf  meist  engen,  grundlosen  Wegen,  ja 
eine  volle  Stunde  geradezu  im  Wasser  reitend,  Wasser  von  oben, 
Wasser  von  unten.  Der  Guadalfeo  nämlich,  der  größte  der  von 
der  Sierra  Nevada  nach  Süden  gehenden  Flüsse,  der  in  zwei 
Hauptarmen,  von  denen  zahlreiche  Kanäle  abgeleitet  sind,  die 
von  seinen  Anschwemmungen  gebildete  Ebene  durchströmt,  war 
stark  angeschwollen  und  hatte  die  Ebene  zum  Teil  überschwemmt, 
namentlich  aber  hatten  die  Kanäle  besonders  die  ausgetretenen 
Wege  überflutet  und  in  Bäche  verwandelt.  Der  Hauptarm  des 
Flusses  war  350  m  breit  und  bot,  wenn  auch  nur  0,5 — 0,75  m 
tief,  durch  die  starke  Kiesel  rollende  Strömung  (eine  Brücke  war 
selbstverständlich  nicht  vorhanden)  den  schwerbeladenen  Tieren 
viel  Schwierigkeiten,  was  natürlich  die  eigentümliche  malerische 
Landschaft  noch  mehr  belebte.  Hier  gewann  man  den  Eindruck 
eines  tropischen  Deltalandes,  wie  ja  in  der  Tat  die  Vega  von 
Motril  das  mildeste  Klima  in  Europa  besitzt  und  die  größte  Zahl 
tropischer  Gewächse  hervorbringt.  Bei  seiner  Breite  und  Wasserfülle 
machte  der  Fluß,  der  an  jener  Stelle,  wo  ich  ihn  durchritt,  auf  zwei 
bis  drei  Kilometer  durch  Dämme  und  Flechtwerk  notdürftig  gerade 
gelegt  ist,  mit  seinem  breiten  Saume  von  hohem  Rohr  und  im  ersten 
frischen  Grün  prangenden  Silberpappeln  einen  bedeutenden  Eindruck. 
Im  Sommer  dürfte  er  wohl  nur  ein  trockenes  Kiesbett  aufweisen. 
Die  Ernte  hatte  auch  hier  diesmal  später  begonnen  und 
viele  Felder  waren  zu  gleicher  Zeit  in  Angriff  genommen  worden. 
Scharen  von  fünfzig  und  mehr  Arbeitern  sah  man  auf  den  ein- 
zelnen Feldern,  die  Männer  hieben  die  dicken  Rohre,  die  hier 
drei  Meter  Höhe  erreichen,  ab;  die  Frauen  und  größere  Kinder 
befreiten  sie  von  den  Blättern.  Diese  werden  dann  aufgehäuft 
und  dienen  zur  Düngung.  Aufseher,  hier  und  da  auch  die  Be- 
sitzer zu  Pferde,  eilen  von  Trupp  zu  Trupp;  alles  kaut  Zucker- 
rohr, die  Treiber  der  Lasttiere  wie  die  Kinder  in  den  Dörfern, 
Zuckerrohrstengel  werden  in  dieser  Zeit  in  ganz  Andalusien  von 
den  Obstverkäuferinnen  verkauft.  Um  das  Zuckerrohr  dreht  sich 
heute  geradezu  alles  in  diesem  fruchtbarsten  Teile  Andalusiens. 
Man  zieht  durch  die  zur  Bewässerung  eingerichteten  Felder,  nach- 
dem sie  tüchtig  gedüngt  sind,  tiefe  Furchen,  in  welche  man 
lange  Rohrstengel  legt  und  leicht  mit  Erde  bedeckt.  Diese 
schlagen   dann    aus,    im    ersten    und    zweiten  Jahre    bleiben   aber 


die  Stengel  klein  und  haben  wenig  Zuckergehalt,  vom  dritten 
Jahre  an  beginnt  erst  der  volle  Ertrag,  nach  weiteren  acht  bis 
zwölf  Jahren  muß  aber  das  ganze  Feld  gründlich  umgearbeitet 
und  neu  angelegt  werden.  Die  Ernte  beginnt  meist  Mitte  Februar, 
dies  Jahr  fast  vier  Wochen  später,  von  da  an  arbeiten  die  Fakriken 
etwa  drei  Monate.  Dieselben  gehören  teils  reichen  Großgrund- 
besitzern, eine  große  Zahl  dem  ,, Könige  von  Andalusien"  Larios, 
einem  der  reichsten  INIänner  Spaniens,  wohl  wesentlich  durch 
eigene  Tüchtigkeit  emporgekommen,  teils  Gesellschaften.  Auch 
die  Zuckerrohrfelder  gehören  vielfach  reichen  Grundbesitzern, 
doch  haben  die  hohen  Erträge,  ähnlich  wie  in  unseren  Zucker- 
rübengebieten, auch  die  kleinen  Besitzer  fast  ausnahmslos  zum 
Anbau  des  Zuckerrohrs  gebracht.  Motril,  drei  Kilometer  vom 
Meere  nahe  dem  oberen  Ende  der  Ebene  gelegen,  ist  durch 
Zuckerrohrbau  eine  der  wohlhabendsten  Städte  Spaniens  gewor- 
den; die  stattlichen  Häuser,  Villen  und  Gärten,  einzelne  schöne 
schnurgerade,  gut  gepflasterte  Straßen  zeugen  von  dem  dort 
herrschenden  Wohlstande,  trotzdem  die  Stadt  nur  1 7  000  Ein- 
wohner zählt.  Natürlich  hatte  sich  auch  hier  die  Spekulation 
breit  gemacht,  der  Wert  des  Bodens  war  vor  drei  Jahren  bis 
auf  200^ Iq  gestiegen.  Seitdem  ist  aber  auch  hier  ein  gewaltiger 
Rückschlag  eingetreten;  der  deutsche  Rübenzucker,  der  billiger 
ist  als  der  andalusische  Rohrzucker,  überflutet  auch  den  spa- 
nischen Markt,  die  Fabriken,  außer  den  besonders  gut  geleiteten 
des  Larios,  erzielen  keinen  Gewinn  mehr  und  haben  die  Preise 
für  das  Rohr  so  herabgesetzt,  daß  die  Bauern  behaupten,  dabei 
nicht  bestehen  zu  können.  Selbst\'erständlich  sehen  sie  die  Preis- 
herabsetzung als  einen  Ausfluß  der  niederträchtigen  Gewiimsucht 
der  Fabrikbesitzer  an,  es  war  kurz  vor  meiner  Ankunft  zu  einem 
förmlichen  Aufstand  in  Motril  gekommen,  in  blinder  Wut  waren 
die  Zuckerrohrfelder  in  Brand  gi^steckt,  ja  der  Sohn  eines  reichen 
Grundbesitzers  erschossen  worden,  die  bewaffnete  Macht  mußte 
einschreiten  und  eine  Gerichtskommission  hatte  die  Untersuchung 
in  die  Hand  genommen.  Einzelne  Besitzer  haben  infolge  des 
Preisrückganges  schon  angefangen,  ihre  Felder  mit  Baumwolle  zu 
bestellen,  da  diese  heute  besser  zu  lohnen  scheint  wie  Zuckerrohr. 
Die  Verluste  durch  Frost  werden  diese  Neigung  noch  bestärken. 
Statistische  Angaben  über  die  andalusische  Zuckergewinnung 
zu  geben  ist  unmöglich,   es  gibt  keine,    und  gäbe  es  welche,  so 

i8* 


—     276     — 

wären  sie,  wie  mir  ein  gründlicher  Kenner  Spaniens  und  Anda- 
lusiens unter  Belegen  versicherte,  falsch.  Alles,  was  in  Spanien 
an  amtlicher  Statistik  geliefert  wird,  selbst  die  Bevölkerungszahlen, 
sind  falsch,  alle  Aufnahmen  werden  von  den  Beamten  liederlich 
ausgeführt,  und  die  gegen  alles,  was  von  dem  Beamtentum  aus- 
geht, mit  Recht  mißtrauische  Bevölkerung  macht  mit  Absicht 
falsche  Angaben.  Die  Verderbtheit  des  spanischen  Beamtentums 
ist,  wie  ja  verschiedene  in  der  letzten  Zeit  durch  die  Tages- 
presse bekannt  gewordene  Vorgänge  gezeigt  haben,  eine  so  trost- 
lose, daß  selbst  das  magyarische  Ungarn  und  Rußland  noch 
besser  daran  sind  und  ich  nur  in  der  Türkei  ähnliche  Zustände 
gefunden  habe.  Es  hängt  das  mit  dem  Treiben  der  Parteien 
und  dem  beständigen  Wechsel  der  Beamten  zusammen.  Jeder 
sucht  sich  so  rasch  wie  möglich  zu  bereichern.  Auch  ist  die 
Mißachtung,  in  welcher  die  Beamten  stehen,  eine  große,  aber 
wohlverdiente.  Von  den  Summen  z.  B.,  welche  für  die  Über- 
schwemmten in  Murcia  und  für  die  durch  das  furchtbare  anda- 
lusische  Erdbeben,  dessen  Spuren  heute  noch  frisch  sind,  Heim- 
gesuchten auch  bei  uns  aufgebracht  worden  sind,  ist  tatsächlich 
nur  ein  kleiner  Teil  in  die  Hände  der  Bedürftigen  gekommen, 
das  meiste  ist  in  den  zahlreichen  Beamtenhänden,  durch  die  es 
ging,  kleben  geblieben.  Der  verstorbene  tüchtige  König  Alphonso, 
der  diese  Zustände  wohl  kannte  und  sie  mit  der  Zeit  wohl  auch 
gebessert  haben  würde,  verteilte  eigenhändig  Geld  in  dem  Erd- 
bebengebiet, aber  da  auch  er  sich  nur  ausnahmsweise  an  die 
Geschädigten  unmittelbar  wenden  konnte  und  sonst  nur  an  die 
Gemeindevertretungen,  so  ist  selbst  von  diesen  Gaben  des  Königs 
ein  großer  Teil  unterschlagen  worden.  Der  Steuerdruck  ist  für 
die  Masse  der  Bevölkerung,  namentlich  weil  sich  gerade  die 
steuerkräftigsten  Kreise  der  Besteuerung  zu  entziehen  wissen,  ein 
ungeheurer,  fast  unerträglicher,  selbst  für  ein  so  genügsames 
Volk  wie  das  spanische,  die  Mißverwaltung  in  allen  Zweigen  eine 
sehr  große,  und  man  begreift  so,  daß  in  einem  Lande  fast  von 
der  Größe  des  Deutschen  Reiches,  aber  nur  ein  Drittel  der  Be- 
völkerung, wo  fruchtbares  Land  in  Fülle  für  die  dreifache  Volks- 
menge vorhanden  ist,  fortdauernd  eine  beträchtliche  Auswande- 
rung nach  Südamerika  und  Algerien  stattfindet.  Die  Masse  der 
Bevölkerung  ist  blutarm  und  tief  verschuldet,  sie  lebt  von  der 
Hand   in    den   Mund;    kann    sie,    wie   in  diesem  kalten  und  reg- 


—     277     — 

nerischen  Winter,  nur  einige  Zeit  nichts  verdienen,  so  entsteht 
große  Not,  und  die  Großgrundbesitzer  sind  dann  genötigt,  Vor- 
schüsse zu  machen  oder  geradezu  den  Hungernden  Brot  zu 
geben.  Viele  Tausende  hungernder  Landleute  waren  Ende  März 
in  Granada  zusammengeströmt,  um  ihr  Leben  von  Almosen  zu 
fristen,  in  Scharen  standen  sie,  wenn  einmal  die  Sonne  schien, 
an  der  Sonnenseite  der  Straßen  und  wärmten  sich.  Durch  die 
Verwüstungen  der  Reblaus  sind  auch  in  Andalusien  viele  Besitzer 
verarmt.  Das  Verkehrswesen  liegt  sehr  im  argen;  man  hat  ja 
in  der  letzten  Zeit  viel  Eisenbahnen  gebaut  und  es  ist  den 
dringendsten  Bedürfnissen  in  dieser  Hinsicht  wohl  genügt,  aber 
die  Linien  sind  bis  auf  eine  kleine  Ausnahme  —  und  dies  ist 
die  einzige  anständige  Eisenbahn  in  Spanien  —  in  den  Händen 
französischer  Kapitalisten,  die  den  Verkehr  in  noch  schamloserer 
Weise  wie  in  Frankreich  ausbeuten.  Es  gehen  wenige  Züge, 
mit  wenigen  Beamten,  geringer  Fahrgeschwindigkeit,  ohne  Ein- 
halten der  Fahrzeit  mit  einem  geradezu  ekelhaften  Wagenmaterial. 
Letzteres  ist  allerdings  zum  Teil  Schuld  der  Bevölkerung.  Jeden- 
falls sind  die  spanischen  Eisenbahnen  die  schlechtesten  Europas. 
Der  Bau  ist  allerdings  teilweise,  der  Aufstieg  von  den  Küsten 
aufs  Hochland  überall  schwierig  und  kostspielig  gewesen.  Es 
ist  nicht  zu  verkennen,  und  gute  Kenner  des  Landes  geben  das 
auch  zu,  daß  auch  in  Spanien  Fortschritte  zum  Besseren  gemacht 
sind,  aber  es  geht  damit  unendlich  langsam.  Es  fehlt  an  Unter- 
nehmungsgeist, Arbeitslust,  Zuverlässigkeit,  auch  die  beste  Regie- 
rung kann  nicht  viel  tun,  wenn  ihr,  wie  heute,  die  Unterstützung 
durch  ein  tüchtiges  Beamtenheer  fehlt.  Heute  ist  Spanien  ein 
zwar  an  unentwickelten  Hilfsquellen  reiches,  aber  im  übrigen 
armes,  schwaches  Land,  das  noch  für  lange  Zeit  in  der  euro- 
päischen Politik,  da  es  ganz  außer  stände  ist,  namhafte  Kräfte 
außer  Landes  zu  verwenden,  ohne  Einfluß  bleiben  wird.  Be- 
lustigend mußte  es  daher  wirken,  daß  wiederholt  selbst  gebildete 
Spanier  auf  die  Karolinenfrage  zu  sprechen  kamen  und  der 
festen  Überzeugung  waren,  Spanien  hätte  es  auch  allein  recht 
wohl  mit  dem  Deutschen  Reiche  aufnehmen  können.  Das  Schul- 
wesen und  die  Volksbildung  liegt  eben  in  Spanien  tief  danieder, 
der  Spanier  reist  möglichst  wenig,  er  kennt  sein  eigenes  Land 
nicht,  die  ganze  übrige  Welt  liegt  ihm  unendlich  fem,  nur  selten 
fällt  sein  Blick  durch  eine  französische  Brille  auf  sie. 


V.  Die  Atlasländer. 


I.  Die  Küstenländer  Nordafrikas  in  ihren 
Beziehungen  und  in  ihrer  Bedeutung  für  Europa.  0 

Zu  den  wertvollsten  und  charakteristischen  Seiten  der  von 
Karl  Ritter  zuerst  so  erfolgreich  angewendeten  Methode,  erdkund- 
liche Tatsachen  aufzufassen,  gehören  Untersuchungen  über  die 
Küstenbeschafifenheit,  sowie  das  Vorhandensein  und  den  Cha- 
rakter der  Gegengestade  irgend  eines  Landes  mit  Rücksicht  auf 
das  Maß  seiner  Entwickelungsfähigkeit.  So  klar  wie  es  auf  der 
Hand  liegt,  daß  eine  ungünstig  gebildete  Küste  die  Entwickelung 
der  materiellen  und  geistigen  Kultur  eines  Landes  hindern  muß, 
ebenso  muß  der  Mangel  eines  Gegengestades  in  gleichem  Sinne 
einwirken.  Die  dem  Ozean  zugekehrten  Landschaften  der  Ibe- 
rischen Halbinsel  und  Großbritanniens  lagen  am  Rande  der  be- 
wohnten Erde,  außerordentlich  ungünstig,  trotz  ihrer  trefflichen 
Häfen,  bis  zu  dem  Augenblick,  wo  Europa  durch  Entdeckung 
der  Neuen  Welt,  damit  im  ursächlichen  Zusammenhange  der  di- 
rekten Verbindung  mit  Indien,  sein  Gegengestade  erhielt.  Das 
Vorhandensein  eines  Gegengestades  ist  mindestens  von  gleich 
hoher  Bedeutung  wie  eine  günstige  Küstenbeschaffenheit,  Gestade 
und  Gegengestade  müssen  notwendig  in  den  innigsten  Bezie- 
hungen zueinander  stehen,  die  größere  oder  geringere  Ausstattung 
des  einen  muß  auf  das  andere  den  tiefgreifendsten  Einfluß  aus- 
üben, historische  Vorgänge  auf  dem  einen  ihre  Schatten  auf  das 
andere  werfen.     All  das  in  um  so  höherem  Maße,  je  näher  beide 


l)  Erschienen  in  der  Deutschen  Revue   1882. 


—      279     — 

einander  gegenüberliegen ;  im  allgemeinen  aber  wird  das  we- 
niger reich  ausgestattete  dem  Einflüsse  des  reicheren  unterliegen, 
nur  in  kurz  vorübereilenden  Perioden  besonderer,  von  einer  neuen 
Idee  getriebener  oder  von  außen  dorthin  verpflanzter  Kraft- 
entfaltung der  Bewohner  kann  das  Umgekehrte  eintreten.  Die 
hier  allgemein  ausgesprochenen  Sätze  finden  ihre  vollste  Anwen- 
dung auf  die  südlichen  Gestadeländer  des  Mittelmeeres,  die  ja 
in  der  letzten  Zeit  so  auffallend  in  den  Vordergrund  der  Er- 
eignisse getreten  sind  und  voraussichtlich  noch  für  lange  Zeit 
immer  und  immer  wieder  treten  werden.  Es  dürfte  daher  von 
allgemeinem  Interesse  sein  und  das  Verständnis  nicht  nur  der 
letzten  politischen  und  militärischen  Vorgänge  in  Nordafrika 
wesentlich  fördern,  sondern  auch  einen  Blick  in  die  Zukunft  ge- 
statten, wenn  wir  die  Vergangenheit  der  Beziehungen  Nordafrikas 
zu  Südeuropa  vor  unserm  Geiste  vorübergehen  lassen,  insofern 
dieselben  sich  aus  geographischen  Tatsachen  und  somit  gewisser- 
maßen aus  Naturgesetzen  herleiten  lassen.  Ägypten,  ohne  näheres 
Gegengestade  am  äußersten  Südostende  des  Mittelmeeres  gelegen, 
noch  mehr  als  Durchgangsland  als  um  seiner  selbst  willen  von 
Wichtigkeit,  durch  einen  ungeheueren  wüsten  Küstenstrich  von 
den  übrigen  Gestadeländern  Nordafrikas  abgesondert,  spielt  eine 
von  diesen  völlig  abweichende  Rolle  und  fällt  deshalb  außerhalb 
des  Rahmens  unserer  Betrachtung,  Diese  wird  vorzugsweise  auf 
die  Küstengestaltung,  sowie  auf  die  sonstigen  wichtigeren  geo- 
graphischen Faktoren  der  nordafrikanischen  Gestadeländer  von 
Barka  westwärts,  wie  sich  dieselben  in  der  Geschichte  spiegeln, 
einzugehen  haben. 

Die  Küsten  Nordafrikas,  namentlich  soweit  sie  den  Atlas- 
ländern, die  Karl  Ritter  nicht  unpassend  als  Kleinafrika  bezeichnet 
hat,  angehören,  erscheinen  auf  den  ersten  Blick  als  für  Afrika 
ungewöhnlich  günstig  entwickelt.  Wir  sehen  hier  halbinselartig 
Barka  in  das  Mittelmeer  vorspringen,  wir  sehen  das  Syrtenmeer 
in  den  Rumpf  eindringen,  in  der  kleinen  Syrte  sogar  reich  an 
stattlichen  Inseln,  wir  erkennen  den  Golf  von  Tunis,  der  eine 
kleine  Halbinsel  ausschneidet,  und  von  da  westwärts  eine  an 
kleinen  Buchten  so  reiche  echt  mediterrane  Küste,  wie  sie  in 
Afrika  nur  im  Kaplande  wiederkehrt,  kurz,  das  Mittelmeer,  das 
Meer  der  Halbinseln,  Meerbusen  und  Meerengen,  scheint  auch 
das  ungefüge  Afrika  aufschließen  zu  wollen.     Indes,  bei  näherer 


—      28o     — 

Prüfung  erweist  sich  auch  hier  der  Grad  der  Begünstigung  in 
bezug  auf  reichere  Küstengliederung  als  geringer,  als  man  aus 
einem  Blick  auf  die  Karte  schließen  darf.  Jene  größeren  Ein- 
buchtungen weisen  meist  geschlossene  Küsten  auf,  die  Natur 
des  Binnenlandes,  die  Verbindung  desselben  mit  der  Küste  ist 
eine  ungünstige,  diese  selbst  steht  allenthalben  unter  den  un- 
günstigsten Windverhältnissen. 

Die  jetzige  politische  Gliederung  der  Gestadeländer  Nord- 
afrikas ist  eine  so  tief  in  den  geographischen  Verhältnissen  be- 
gründete, daß  sie  zu  allen  Zeiten  bestanden  und  nur  vorüber- 
gehend einer  Einheit  Platz  gemacht  hat.  Selbst  von  der  Drei- 
teilung des  Atlasgebiets  gilt  dies,  nur  die  Grenzen  haben  sich 
zuweilen  etwas  verschoben.  Bei  den  drei  östlichen,  Barka,  Tri- 
politanien  und  Tunesien,  hat  die  Natur  einen  einzigen  Punkt  so 
außerordentlich  bevorzugt,  daß  derselbe  mit  dem  ganzen  Land 
mehr  oder  weniger  identisch  ist,  während  in  Algerien  und  Ma- 
rokko dagegen  eine  solche  Vielzahl  der  Schwerpunkte  von  der 
Natur  geschaffen  ist,  daß  es  selbst  der  zentralisiertesten  Verwal- 
tung gar  nicht  oder  nur  vorübergehend  gelingen  kann  dem  einen 
oder  dem  anderen  das  entschiedene  Übergewicht  zu  geben. 

Die  Bedeutung  der  Gestadeländer  Nordafrikas  für  Europa 
ist  eine  doppelte,  einmal  insofern  dieselben  reich  an  inneren 
Hilfsquellen  jeder  Art  sind,  vermöge  deren  sich  hier  im  Alter- 
tum, teilweise  auch  noch  im  Mittelalter,  große  Bevölkerungsver- 
dichtung und  hohe  Kultur  zu  entwickeln  vermochte,  dann  aber 
namentlich  weil  sie  die  Eingangstore  zu  dem  an  Erzeugnissen 
der  verschiedensten  Arten  überreichen  transsaharischen  Afrika 
bilden.  Allerdings  trennt  sie  von  jenem  die  ungeheuere  Wüste 
in  einer  mittleren  Breite  von  1700  km  (Entfernung  Berlin-Kon- 
stantinopel) und  es  läßt  sich  gegenüber  einer  Fülle  von  Tat- 
sachen nicht  mehr  verkennen,  daß  die  Wüstenbildung  in  der 
Sahara,  seit  der  Pluvialzeit,  ja  vielleicht  bis  in  die  geschichtliche 
Zeit  fortgeschritten  ist,  aber  dennoch  ist  die  Wegsamkeit  der 
Wüste  größer  als  man  gewöhnlich  annimmt,  auch  ist  sie  durch 
artesische  Brunnen,  mit  deren  Hilfe  die  Franzosen  im  südlichen 
Algerien  ganze  Oasen  geschaffen  haben,  in  hohem  Grade  zu  ver- 
bessern. Selbst  die  Möglichkeit,  eine  Eisenbahn  durch  die 
Wüste  zu  bauen,  kann  durchaus  nicht  bezweifelt  werden,  der 
günstigste  Ausgangspunkt  derselben  wäre  aber  unbedingt  Tripolis, 


der  denkbar  ungünstigste,  wegen  der  größeren  Oasenarmut  und 
des  eigentümlichen  Charakters  der  Bewohner  der  westlichen  Sa- 
hara, dagegen  irgend  ein  Punkt  der  Küste  von  Algerien,  und  die 
Franzosen  haben  sich  auch  bei  den  Stämmen  der  Wüste  so  un- 
erbittlichen Haß  zugezogen,  daß  noch  für  sehr  lange  Zeit  dafür 
gesorgt  ist,  daß  auch  hier  die  Bäume  der  so  ausdehnungslustigen 
Französischen  Republik  Aicht  in  den  Himmel  wachsen  werden. 
Seit  einem  halben  Jahrhundert  mühen  sich  sowohl  einzelne  fran- 
zösische Forscher  wie  ganze  Expeditionen  ab,  die  Wüste  von 
Algerien  zum  Niger  oder  umgekehrt  zu  durchqueren:  erst  nach 
fast  zwanzigjährigem  Bemühen  ist  dies  dem  vortrefflichen  F.  Fourreau 
1899  gelungen.  Wie  gangbar  aber  schon  jetzt  die  Wüstenstraßen 
sind,  wie  wichtig  sie  selbst  wenig  fortgeschrittenen  Völkern 
waren,  das  erkennen  wir  deutlich  daraus,  daß  ganze  Völker- 
stämme aus  Nordafrika  nach  dem  Sudan  eingewandert  sind, 
Sudankönige  ihr  Gebiet  bis  Fezzan,  Herrscher  von  Marokko  das- 
selbe bis  Timbuktu  ausgedehnt  haben.  Noch  in  den  40er  Jahren 
ist  der  Stamm  der  Auläd  Soliman  mit  Weib  und  Kind  und  aller 
Habe  aus  der  Umgebung  der  Großen  Syrte  vor  den  Türken  aus- 
gewandert und  treibt  jetzt  sein  räuberisches  Wesen  in  Kanem 
östlich  des  Tsadsees.  Wie  Nachtigal  nachgewiesen  hat,  gehörte  im 
13.  und  14.  Jahrhundert  Fezzan  bis  Wadan  zum  sudanischen  Reiche 
Kanem,  damals  also  mögen  die  Italiener  in  direkten  Handels- 
beziehungen zu  Zentralafrika  gestanden  haben.  Umgekehrt  herrsch- 
ten die  Sultane  von  Marokko  lange  Zeit  zu  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts über  Timbuktu,  den  Schlüssel  und  Knotenpunkt  aller 
Wüstenstraßen  vom  Nigergebiet  zu  den  Atlasländern  und  den 
Mittelmeerküsten.  Nicht  nur  für  Karawanen,  sondern  für  ganze 
Völkerstämme  und  Heere  sind  die  Wüstenstraßen  also  gangbar. 
Die  natürlichen  Endpunkte  derselben  am  Mittelmeere  müssen 
daher  immer  und  immer  wieder,  mag  der  Handel  auch  durch 
politische  Verhältnisse,  durch  Verödung  der  Sudanländer  oder 
der  Gestadeländer  Nordafrikas  eine  Zeitlang  oder  selbst  lange 
Zeit  auf  ein  Minimum  herabsinken,  zu  der  Bedeutung  gelangen, 
welche  ihnen  durch  den  Zug  der  Oasen,  durch  ihr  näheres 
Hinterland,  durch  die  Küstenbeschaffenheit,  durch  die  Gegen- 
gestade vorgezeichnet  ist.  ')     Diese  Punkte   sind  Tripolis,    Tunis, 


i)  Wenn   heute    die  Wüstenstraßen  verödet   sind   und   der  Sudan,    der 


irgend  ein  Punkt  an  der  Küste  von  Algerien  (Bona,  Bougie, 
Algier,  Oran,  wie  wir  diese  Verschiebung  weiter  unten  aus  der 
Küstenbeschaffenheit  erklären  werden),  Ceuta  oder  Tanger  und 
Mogador.  Von  vorübergehender  Bedeutung  wird  dagegen  für 
den  innerafrikanischen  Handel  ein  Punkt  an  der  Kleinen  Syrte 
und  Bengasi  sein.  Ersterer  wird  nur  unter  ganz  besonderen  po- 
litischen Verhältnissen  mit  Tripolis  und  Tunis,  letzteres  mit 
Alexandria  in  den  Wettbewerb  eintreten  können.  An  der  inner- 
sten Kleinen  Syrte  mußte  sich  zeitweilig  ein  Ort  zu  einiger  Be- 
deutung erheben,  da  dort  die  Küste  eine  so  entschiedene  Wen- 
dung macht  und  sich  sowohl  die  von  Osten,  wie  die  von  Norden 
kommenden  Straßen  in  gleicher  Richtung  ins  Innere  des  Konti- 
nents festsetzen,  südwärts  über  Rhadames  in  transsaharische 
Räume.  So  hat  Gabes,  das  jetzt  fast  nur  von  dem  Ertrage 
seiner  Oase  lebt,  im  Altertum  und  wieder  im  Mittelalter  eine 
große  Rolle  gespielt.  Nach  Strabons  Zeugnis  erreichten  hier  die 
Waren  aus  dem  inneren  Afrika  die  Küste,  ja  die  Griechen  be- 
nannten die  ganze  Umgebung  der  Kleinen  Syrte  eben  der  Wich- 
tigkeit für  den  Handel  wegen  Emporia.  So  hat  femer  seit  den 
40er  Jahren  der  Handel  von  Bengasi  etwas  Leben  erhalten  da- 
durch, daß  durch  die  Ägyptischen  Eroberungen  im  oberen  Nil- 
gebiet der  Handel  sich  von  der  bequemen  Nilstraße  ab  und  di- 
rekt nordwärts  zum  Mittelmeere  gewendet  hatte  und  er  auch 
neuerdings  wiederum  seit  der  Eroberung  von  Darfor  von  Wadai 
aus  diese  Wüstenstraße  nach  Bengasi  aufgesucht  hat.  Doch  wird 
dies  immer  nur  vorübergehend  der  Fall  sein,  da  Bengasi  eines 
Hafens  ermangelt  und  diese  Wüstenstraße  zu  den  wasserarmsten 
gehört.  Dennoch  aber  wird  es  immer  eine  gewisse  Wichtigkeit 
behaupten,  da  es  der  bei  weitem  am  günstigsten  gelegene  Ort 
von  Barka,  ja  geradezu  mit  Barka  identisch  ist.  Sein  Besitz 
schließt  stets  denjenigen  dieses  Landes  ein,  das,  im  Rücken,  im 
Osten  und  im  Westen  die  Wüste,  von  den  zunächst  liegenden 
Tripolitanien  und  Ägypten  scharf  getrennt  als  eine  Mittelmeer- 
insel anzusehen  ist,  von  der  man  in  wenigen  Stunden  das  natür- 
liche Gegengestade  Morea  oder  Kreta  erreicht.     Von  dort  empfing 


vom  Beginn  geschichtlicher  Überlieferung  an  nach  Norden,  nach  dem  medi- 
terranen Kulturkreise  geblickt  hat,  heute  sein  Gesicht  nach  dem  Golf  von 
Guinea  gewendet  hat,  so  kann  auch  das  sich  wieder  ändern. 


-     283     - 

das  Land  seine  griechischen  Bewohner  und  Kultur,  mit  Griechen- 
land fand  im  ganzen  Altertum  der  engste  Verkehr  statt,  mit 
Kreta  verbanden  auch  die  Römer,  die  Meister  einer  wohlgeord- 
neten Verwaltung,  die  Kyrenaike  zu  einer  Provinz.  An  Stelle 
der  Griechen  sind  die  Italiener  getreten,  ihre  Sprache  ist  die 
des  Verkehrs,  der  seit  dem  Mittelalter  fast  nur  mit  Italien  und 
Malta  stattfindet.  Erschwert  wird  derselbe  aber  ungeheuer  da- 
durch, daß  an  der  ganzen  steil  zu  großen  Meerestiefen  hinab- 
sinkenden, heftigen  Nord-  und  Nordweststürmen  ausgesetzten 
Felsenküste  weder  ein  Hafen  existiert,  noch,  wenigstens  nicht 
ohne  große  Kosten,  herzustellen  ist.  Wochen-,  ja  monatelang 
darf  zuweilen  im  Winter  kein  Schiff  diesen  Gestaden  nahen  und 
dadurch  wird  die  überaus  günstige  Lage  dieser  mächtigen  in 
das  Mittelmeer  an  die  große  Straße  von  Gibraltar  nach  Alexan- 
dria und  Port  Said  vorgeschobenen  Bastion  sehr  benachteiligt. 
Dies  bestimmte  wohl  auch  die  Amerikaner  in  erster  Linie  die 
herrliche  Küstenoase  von  Derna,  welche  sie  1815  besetzt  und 
sich  bereits  durch  in  den  Ruinen  noch  heute  erhaltene  Be- 
festigungen zu  sichern  begonnen  hatten,  wieder  aufzugeben.  Auch 
die  Franzosen  hatten  schon  früher,  1799,  bei  Gelegenheit  der 
ägyptischen  Expedition  sich  hier  festzusetzen  versucht.  Anders 
freilich  war  es  in  griechischer  Zeit,  da  lagen  hier  blühende  See- 
städte, deren  Ruinen  noch  wohlerhalten  sind,  da  besaßen  die 
Kyrenäer  große  Flotten,  mit  denen  sie  den  Karthagern  die  Spitze 
boten,  ja  man  schrieb  ihnen  die  Erfindung  der  Lembi,  einer 
Art  leichter,  schneller  Barke  zu.  Die  gewaltige  Erosion  der 
Meereswellen  bei  den  Nordstürmen  und  eine  säkulare  Senkung, 
welche  die  ganze  Küste  erleidet,  hat  die  Klippen  und  Felsen- 
inseln, welche  den  kleineren  Schifi^en  jener  Zeit  hinreichenden 
Schutz  gewährten,  ganz  oder  teilweise  unter  den  ^Meeresspiegel 
verschwinden  gemacht.  Immerhin  aber  bleibt  die  Gunst  der  Lage 
und  die  natürliche  Begabung  des,  nur  das  anbaufähige  Land  in 
Betracht  gezogen,  dem  Königreich  Würtemberg  gleichenden,  aber 
nur  von  y^  Millionen  Menschen  bewohnten  Landes  noch  groß 
genug.  Ist  das  Land  auch  jetzt  Nomaden  anheimgefallen  und 
verödet  es  unter  türkischem  Drucke  immer  mehr  —  man  zählt 
jetzt  nur  vier  dauernd  bewohnte  Orte,  —  so  ist  es  doch  noch 
immer  wohlbewässert  und  fruchtbar,  imstande  reiche  Ernten  an 
Weizen,    Öl,    Wein    usw.    hervorzubringen,    treffliche    Rosse    und 


—    284    — 

Rinder  und  wohl  mindestens  l  Million  Bewohner  zu  nähren,  als 
eine  wertvolle  Provinz  eines  zivilisierten  Staates.  Und  derjenige 
Staat,  dem  naturgemäß  das  Land  zufallen  müßte,  Italien,  scheint 
denn  auch  sein  Auge  darauf  gerichtet  zu  haben.  Im  vergange- 
nen Frühjahr  hat  eine  italienische  Expedition  —  wir  wollen  gern 
glauben,  nur  mit  kommerziellen  Hintergedanken  —  in  Mai- 
land organisiert,  das  Land  durchzogen  und  es  sehr  schön  ge- 
funden.') 

Weit  größer  sowohl  an  sich  wie  hinsichtlich  des  inner- 
afrikanischen Handels  ist  aber  die  Bedeutung  von  Tripolitanien. 
Für  letzteren,  der  jeden  denkbaren  Aufschwungs  fähig  ist,  ist  zu 
allen  Zeiten  die  Küste  von  Tripolitanien  die  günstigste  gewesen. 
Sie  liegt  Sizilien  und  Malta  in  geringer  Entfernung  gegenüber  am 
Syrtenmeere,  das  hier  tief  in  den  Rumpf  Afrikas  eindringt,  so 
daß  die  Entfernung  von  dem  Tsadsee  geringer  ist  als  von  irgend 
einem  anderen  Punkte  der  Küste,  und  zwei  verhältnismäßig  kurze 
Wüstenstraßen,  die  von  einer  Reihe  von  Oasen  vorgezeichnet 
sind,  endigen  hier.  Die  eine  führt  über  Rhadames,  Rhat  und 
Air  in  das  Haussagebiet,  die  andere  über  Murzuk  und  Kawar 
nach  Kuka  und  an  den  Tsadsee.  Ja  selbst  der  Handel  mit 
Wadai  hat  sich  seit  1873  vorzugsweise  hierher  gezogen.  Der  Ver- 
kehr mußte  sich  an  demjenigen  Küstenpunkte  festsetzen,  welcher 
sich  am  frühesten  entwickelt  hatte,  aber  schließlich  mußte  der 
Punkt  die  Oberherrschaft  erlangen  und  behaupten,  der  den  besten 
Hafen  hatte.  Verhältnismäßig  wasserreich  und  fruchtbar  ist  der 
ganze  Küstensaum  von  Masrata  am  westlichen  Eingange  in  die 
Große  Syrte  bis  an  die  jetzige  tunesische  Grenze,  Oase  reiht 
sich  dort  an  Oase,  der  Steilrand  der  großen  Wüstentafel  des 
Binnenlandes  verdichtet  den  dazu  nötigen  Wasserreichtum,  aber 
doch  waren  es  drei  Örtlichkeiten,  —  daher  der  Name  Tripolis, 
der  schließlich  an  der  mittelsten  haften  blieb  und  auch  mit 
Recht  auf  die  ganze  Landschaft  übergegangen  ist  —  drei 
Punkte,  an  welchen  sich  durch  besonderen  Wasserreichtum  und 
Fruchtbarkeit  die  größten  Oasen  zu  entwickeln  vermochten  und 
deren  Wichtigkeit  daher  schon  die  Phöniker  erkannten.    Es  waren 


I)  Barka  hat  seitdem  eine  gründliche  Bearbeitung  durch  einen  meiner 
Schüler  erfahren :  Dr.  G.  Hildebrandt :  Cyrenaika  als  Gebiet  künftiger  Besiede- 
lung.     Bonn  1904. 


-     285     - 

von  West  nach  Ost  Sabratha,  Oea   und  Leptis  magna.     Letztere 
war    am   reichsten    durch    den   Kinyps    bewässert,    der   eine    Oase 
schuf,   in  welcher  angebUch   der  Weizen    dreihundertfältige  Frucht 
gab.      Daher   entwickelte    sich    Leptis    früh    zu    einer  bedeutenden 
Stadt,     die     sich     auch     das     Meer    durch    einen    entweder    ganz 
künstlich  gegrabenen  oder  wenigstens  verbesserten  Hafen  erschloß. 
In    den    ersten    Jahrhunderten    unserer    Zeitrechnung    war   es    eine 
der  größten  und  prächtigsten  Städte  des  Römerreichs,   die  Haupt- 
stadt   Tripolitaniens,    der  Ausgangspunkt   für  alle  Handels-,    For- 
schungs-   und    kriegerischen    Unternehmungen    in    das    Innere    des 
Kontinents.    Die  Blüte  von  Leptis  sank  mit  derjenigen  des  Römer- 
reichs,  sein  künstlicher  Hafen  versandete  und    an  seine   Stelle  ist 
seitdem   und   für   alle  Zeiten  Tripolis    (Oea)    getreten,    das   eben- 
falls eine  wasserreiche  Ebene  hinter  sich  und   die  gleich  günstige 
Verbindung    mit     dem    Hinterlande    und     dem     Sudan,     überdies 
aber    eine     von     der    Natur     selbst     geschaffene     auch     größeren 
Schiffen  schuzbietende  und  leicht  zu  verbessernde  Rhede  hat,   die 
einzige  zwischen  Alexandria  und  dem  Tunesischen  Golfe!  Darauf 
beruht     auch     seine     Bedeutung    in    der    Zukunft,     nicht    nur    als 
Hauptstadt  Tripolitaniens,  sondern  als  wichtigstes  Tor  des  Sudan! 
Eine  Klippenreihe   löst   sich  dort  von   der  ziemlich    steilen  Küste 
ab    und    setzt    sich    in  nordöstlicher  Richtung  mehr  als  eine  See- 
meile,   durch   Riffe   sogar   drei   Seemeilen    weit    ins   Meer   hinaus 
fort,   und  schafft  dadurch  einen  ziemlich  sichern  und  tiefen  leicht 
zu  verteidigenden  Hafen,  der,  wenn  man,  wie  es  zum  Teil  schon 
der   Fall    ist,    die   Klippen    noch   weiter   durch   Steindämme    ver- 
bände,  ein  geräumiges  fast  gegen   alle  Winde  geschütztes  Becken 
bilden  würde.     Hier  in  dem  nächsten,   sichersten  Hafen  wird  sich 
der  Verkehr   immer   wieder   konzentrieren    und   je   mehr    derselbe 
wachsen  wird,  je  mehr  Innerafrika  erschlossen,   die  Wüstenstraßen 
gesichert  werden,   um  so  größer  wird  die  Wichtigkeit  von  Tripolis 
werden.      Trotz    ungünstiger    Verhältnisse    im    Sudan,     trotz     der 
trostlosen     Zustände     des    Türkenreiches    macht    sich    im    letzten 
Jahrzehnt  in  Tripolis  fortschreitende  Entwickelung,   Aufblühen  der 
Stadt,  mehr  als  Verdoppelung  des  Hafenverkehrs  bemerkbar.    Zum 
Teil  beruht  dieser  Aufschwung  mit  auf  der  Gewinnung  von   Alfa 
im  Hinterlande,   das  ausgedehnter  und  gewiß  nicht  weniger  frucht- 
bar ist   als   das  von  Bengasi  und  noch  heute   vielleicht    des    glei- 
chen Kulturzustandes  fähig  ist  wie  in  römischer  Zeit.    Eine  dichte 


—     286     — 

hoch  zivilisierte  Bevölkerung  saß  damals  in  den  reich  bewässer- 
ten Küstenebenen,  wo  sich  noch  heute  eine  Dattelpalmen-Oase 
an  die  andere  reiht,  wie  auf  dem  noch  heute  olivenreichen 
Hochlande,  bzw.  an  dem  niederschlagsreichen  von  Tälern  ge- 
furchten Steilabsturze  der  großen  Kreidetafel  der  Wüste.  Rö- 
mische reich  verzierte  Monumentalbauten  finden  sich  noch  heute 
wohlerhalten  in  dem  meist  Nomaden  anheim  gefallenen  Innern 
des  Landes,  als  Denkmäler  dessen,  was  das  Land  einst  war  und 
was  es  wieder  werden  wird.  Bei  einer  Ausdehnung,  die  der- 
jenigen des  Deutschen  Reiches  ungefähr  gleich  gesetzt  werden 
kann,  hat  das  Land  jetzt  doch  nur  etwa  ^3  Million  Bewohner, 
vermöchte  aber  unter  geordneter  Verwaltung  mehrere  Millionen 
zu  nähren.  Noch  in  den  letzten  Jahrzehnten  ist  die  Bevölkerung 
beständig  zurückgegangen,  die  türkische  Besitzergreifung  im  Jahre 
1835  hat  auch  hier  ihre  unheilvolle  Wirkung  nicht  verfehlt,  aber 
in  den  Händen  einer  zivilisierten  Nation,  unter  geordneter  Ver- 
waltung würde  das  Land  sich  rasch  wieder  heben,  es  würde  die 
kürzeste  Straße  nach  dem  Sudan  gesichert  und  Tripolitanien  da- 
durch, obwohl  es  an  sich  von  der  Natur  weniger  reich  ausge- 
stattet ist  als  die  Atlasländer,  die  wertvollste  Landschaft  Nord- 
afrikas werden.  Jene  werden  niemals,  selbst  Marokko  nicht,  den 
Wettbewerb  um  den  innerafrikanischen  Handel  mit  Tripolis  aus- 
zuhalten vennögen.  Tripolitanien  wird  an  Bedeutung  im  inter- 
nationalen Handel  gleich  nach  Ägypten  kommen.  Noch  mehr 
wie  Barka  ist  Tripolitanien  auf  Italien  hingewiesen,  da  es  eben- 
falls durch  Wüsten  auf  allen  Seiten  isoliert,  mit  seinem  Gegen- 
gestade von  jeher  in  lebhaftesten  Beziehungen  gestanden  hat. 
Die  Beziehungen  zu  den  Phönikern  scheinen  nicht  tief  gedrungen 
zu  sein,  römische  Kultur  um  so  tiefer,  und  seitdem  sind  die  Be- 
ziehungen zu  Italien  nicht  mehr  unterbrochen  worden.  Die  euro- 
päische Kolonie  in  Tripolis  besteht  heute  fast  ganz  aus  Italienern 
und  Maltesern.  Schon  1 2 1 6  schlössen  die  Genuesen  einen 
Handelsvertrag,  der  ihnen  die  ganze  Küste  bis  Barka  öffnete  und 
das  ganze  Mittelalter  hindurch  hatten  sie  am  ganzen  Syrtenmeere 
das  Monopol  des  Handels.  Schon  auf  den  ältesten  uns  erhalte- 
nen italienischen  Seekarten,  aus  dem  Anfange  des  14.,  wahr- 
scheinhch  aber  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  erscheinen  die 
Umrisse  des  Syrtenmeeres ,  mit  den  Namen  zahlreicher  Küsten- 
plätze bedeckt,    sehr   genau    dargestellt,    genauer   als  auf  unseren 


-     287     - 

modernen    Karten     bis     zu     den     englischen    Aufnahmen    in    den 
zwanziger  Jahren. 

Anderer  Art  ist  die  Wichtigkeit  von  Tunis  und  Tunesien; 
sie  beruht  weniger  auf  dem  Handel  mit  Innerafrika  als  auf  den 
eigenen  Hilfsquellen  und  der  Lage  an  der  großen  das  östliche 
Mittelmeer  mit  dem  westlichen  verbindenden  Straße,  die  sehr 
viel  enger  ist  als  jene  zwischen  Barka  und  Kreta  und  an  welche 
Afrika  nicht  wie  dort  in  der  Gestalt  einer  hafenlosen  Hochlands- 
bastion, sondern  mit  einem  tiefen  Meerbusen  heranreicht.  Die 
Breite  dieser  Straße,  die  wir  am  besten  nach  dem  mitten  darin 
in  der  tiefsten  Rinne  aufgebauten  Inselvulkan  von  Pantelleria 
benennen,  beträgt  150  km,  aber  die  Strömung  geht  die  afrika- 
nische Küste  entlang  und  die  nördlich  vom  Golf  von  Tunis 
liegende  Skerki  Bank  wie  die  Adventure  und  andere  Bänke  zwi- 
schen Pantelleria  und  Sizilien  drängen  den  Verkehr  nach  Afrika 
hinüber.  Die  Beherrschung  der  Meerenge  wäre  weit  leichter  von 
Pantelleria  aus,  wenn  diese  Insel  nicht  gegen  Malta  dadurch 
zurückstände,  daß  sie  an  ihren  steil  aus  großen  Tiefen  aufstei- 
genden Küsten  auch  der  kleinsten  Bucht  entbehrt  und  selbst 
künstliche  Hafenanlagen  schwierig  sind.  Um  so  größere  Wichtig- 
keit hat  aber  dadurch  der  Golf  von  Tunis,  an  dem  naturnot- 
wendig stets  ein  wichtiger  Handels-  und  Kulturmittelpunkt  liegen 
muß.  So  folgen  hier  aufeinander  Utika,  Karthago,  dann  wieder 
Utika,  dann  Neukarthago,  schließlich  nach  kurzer  Unterbrechung 
Tunis.  Diese  Unterbrechung  fällt  in  die  ersten  Jahrhunderte  der 
arabischen  Herrschaft,  in  die  Zeit,  wo  der  Haß  zwischen  Christen- 
tum und  Islam  so  groß  war,  daß  nicht  einmal  Handelsbeziehungen 
zwischen  beiden  stattfanden,  zugleich  die  Zeit,  in  welcher  die 
Araber  selbst  noch  vor  dem  Meere  zurückschreckten.  Darum 
hatten  sie  Kairwan  weiter  südwärts  im  Binnenlande  gegründet, 
das  wohl  durch  Industrie  und  Landhandel  emporblühte,  aber  doch 
als  mehr  oder  weniger  künstliche  Schöpfung  von  dem  Augenblicke 
an  wieder  sinken  mußte,  wo  der  Seeverkehr  in  Nordafrika  wieder 
auflebte  und  die  alten  Beziehungen  zu  Italien  sich  wieder  gel- 
tend machten.  Von  diesem  Augenblick  an  trat  der  Golf  von 
Tunis  wieder  in  seine  ihm  von  der  Natur  verliehenen  Rechte, 
welche  der  Mensch  nur  vorübergehend  zu  schmälern  vermag.  Für 
mehrere  Jahrhunderte  wurde  Tunis  nun  auch  Endpunkt  der 
großen    innerafrikanischen    Handelsstraßen,     die    sich    damals    in 


—     288     — 

Wargla,  in  der  jetzt  französischen  Sahara  vereinigten.  Selbst 
die  türkische  Besitzergreifung  im  i6.  Jahrhundert  machte  dem 
noch  nicht  völHg  ein  Ende  und  noch  heute  gilt  Tunis  den 
Wüstenbewohnern  als  eine  große,  reiche  und  überaus  prächtige 
Stadt.  Daß  hier  an  der  Westseite  des  Golfs  jeder  Zeit  eine 
Großstadt  blühen  muß,  erklärt  sich  aber  nicht  allein  aus  der 
Lage  dieses  Golfs  am  nordöstlichsten  Vorsprunge  der  Atlasländer 
und  an  der  Meerenge,  sondern  auch  daraus,  daß  hier  die  Natur 
die  Lage  der  Hauptstadt  des  ganzen  östlichen  Atlasgebietes, 
etwa  in  der  Ausdehnung  des  heutigen  Tunesien,  vorgezeichnet 
hat.  Hier  mündet  nämlich  der  Medscherda,  nicht  der  größte, 
aber  jedenfalls  einer  der  wasserreichsten  Flüsse  des  Atlasgebietes, 
dessen  ausgedehntes,  wohlbewässertes  und  außerordentlich  frucht- 
bares Gebiet,  einst  die  Kornkammer  Roms,  die  einzige  größere 
geographische  Einheit  im  östlichen  Atlasgebiet  bildet.  Die  Haupt- 
stadt des  Medscherdagebiets  muß  am  Meere  liegen,  sie  verfügt 
über  seine  Hilfsquellen  und  erlangt  daher  bald  in  ähnlicher  Weise 
das  Übergewicht  über  die  östliche  Abdachung  Tunesiens  wie 
etwa  Paris,  der  Mittelpunkt  des  einheitlichsten  und  geschlossen- 
sten der  Flußbecken  Frankreichs  über  die  übrigen,  um  so  mehr 
als  an  der  ganzen  Ostküste  sich  kein  einziger  Naturhafen  findet 
und  im  Altertum  daher  Schiffahrt  erst  künstlich  an  diese  Küste 
verpflanzt  werden  mußte.  Noch  allenthalben  findet  man  die 
Spuren  der  Hafenbecken,  welche  hier  zuerst  von  den  Karthagern 
gegraben  wurden.  Nur  derjenige  Küstenplatz  vermochte  in  mo- 
derner Zeit  eine  gewisse  Bedeutung  zu  erlangen,  der  bei  Pro- 
duktenreichtum der  Umgebung  den  Schiffen  einige  Sicherheit 
gewährt,  Sfaks  nämlich  mit  seiner  durch  die  vorliegenden  Kar- 
kenahinseln  etwas  geschützten  Rhede.  Hier  in  Tunesien  hat  also 
die  Natur  in  ähnlicher  Weise  einen  Punkt  des  Landes  bevorzugt 
wie  in  Tripolitanien,  der  Besitz  der  Medscherdamündung  und 
des  Golfs  bedeutet  den  von  Tunesien.  Eine  Naturkraft,  eben 
der  Medscherda,  ist  es  aber  auch,  welche  die  beständige  Ver- 
schiebung der  Hauptstadt  von  Utika  bis  Tunis  verursacht  hat. 
Der  Medscherda  ist  ein  mächtiger  Deltabauer,  er  arbeitet  rüstig 
an  der  Zuschüttung  des  Golfes,  mehrere  Inseln  hat  er  schon 
landfest  gemacht.  Buchten  und  Landseen  geschaffen,  die  er  aber 
ebenso  sicher  nach  und  nach  in  Land  verwandelt.  Kein  Hafen 
im  Bereiche  seiner  Anschwemmungen,  so  sehr  dieselben  Grabung 


—    289    — 

künstlicher  Hafenbecken  erleichtern,  ist  vor  Verlandung  geschützt. 
So  wurde  das  alte  Utika  auf  einer  felsigen  Küsteninsel  gegründet, 
welche  jetzt  trümmerbedeckt  11  km  vom  Meere  liegt;  auch  die 
Stätte  von  Karthago  lag  ursprünglich  auf  einer  solchen  nur  etwas 
größern  und  höhern  Küsteninsel,  die  aber  wohl  schon  bei  Grün- 
dung der  Stadt  zur  Halbinsel  geworden  war  und  seitdem  immer 
mehr  verlandet  ist.  Nördlich  und  südlich  lagern  ihr  noch  flache 
Seen  an,  abgeschnittene  Meeresteile,  welche  der  Verlandung  rasch 
entgegengehen.  Der  See  von  Tunis  wird  immer  seichter  und 
sperrt  die  Stadt  immer  mehr  vom  Meere  ab,  statt  sie  mit  dem- 
selben, wie  es  einst  der  Fall  war,  zu  verbinden.  Am  besten 
können  wir  die  Verlandung  eines  solchen  ehemaligen  erst  durch 
den  Fluß  gebildeten  Küstenhaffs  am  nördlichen  Eingange  des 
Golfs  verfolgen.  Dort  finden  wir  das  Haff  von  Porto  Farina, 
welches  noch  zu  Anfang  das  ig.  Jahrhunderts  einen  trefflichen 
Hafen,  ja  den  Hauptkriegshafen  des  Bey  bildete,  noch  liegen 
alte  Galeeren  im  Schlamme  vergraben  da,  seitdem  aber  hat  der 
Medscherda  seine  Mündung  etwas  verschoben  und  sendet  bei 
Hochwasser  einzelne  Arme  in  die  Bucht,  deren  Grund  sich  da- 
durch in  kurzer  Zeit  um  10  Meter  erhöht  hat,  so  daß  sich  jetzt 
nur  noch  i  —  lYg  Meter  Wasser  findet,  Porto  Farina  bald  das 
Schicksal  von  Utika  teilen,  im  Binnenlande  liegen  und  der  Pflug 
über  die  Stätte  gehen  wird,  wo  vor  i — 2  Jahrhunderten  die 
größten  Kriegsschiffe  ankerten.  Diese  gefährliche  Nachbarschaft 
des  Medscherda,  welcher  selbst  Tunis  und  Goletta  noch  nicht 
völlig  entrückt  sind,  wird  unzweifelhaft  in  nicht  femer  Zeit  den 
Schwerpunkt  von  ganz  Tunesien  an  den  Außenrand  des  Golfes 
rücken,  nach  Biserta.  Die  Lage  dieses  in  neuester  Zeit  viel  ge- 
nannten Ortes  ist  in  der  Tat  eine  ungewöhnlich  günstige.  Es 
Liegt  Biserta  zur  Medscherdamündung  genau  so  wie  Alexandria 
und  Marseille  zu  denen  des  Nil  und  des  Rhone,  es  ist  mit  der 
Mündung  und  dem  Tale  des  Flusses  auf  ebenem  Wege  ver- 
bunden, ohne  von  ihm  gefährdet  zu  sein;  es  liegt  so  günstig  zur 
Meerenge  wie  Tunis  oder  Karthago  und  hat  einen  der  herrlich- 
sten Naturhäfen,  der  noch  überdies  sehr  leicht  zu  verteidigen  ist. 
Biserta   liegt   nämlich   an   einer   flachen   gegen   Westwinde    durch 


i)  Daß  Tunis  jetzt   durch    einen  Kanal   wieder   zum  Seehafen   gemacht 
ist,  möge  hier  nur  erwähnt  werden. 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  I9 


—     290     — 

das  vorspringende  Weiße  Vorgebirge,  das  gewöhnlich,  wenn  auch 
nicht  ganz  mit  Recht  als  Nordspitze  von  Afrika  bezeichnet  wird, 
geschützten  Bucht  am  Eingange  eines  engen  Kanals,  welcher  in 
einen  geräumigen  und  meist  10 — 12  Meter  tiefen  See  führt, 
der  zu  einem  vorzüglichen  Hafen  geschaffen  ist  und  auch  im 
Mittelalter  und  Altertum,  wo  Biserta  (Arab.  Bensart,  durch  Ver- 
derbung aus  dem  alten  Namen)  als  Hippo  Zarytos  eine  be- 
deutende Seestadt  war,  als  solcher  gedient  hat.  Allerdings  hat 
der  Kanal,  von  dem  Schutt  der  Jahrtausende  gefüllt,  jetzt  nur 
2 — 3  Meter  Tiefe  und  vor  seiner  Mündung  findet  man  teilweise 
den  Grund  schon  bei  2  Meter,  aber  er  würde  ohne  große  Mühe 
und  Kosten  gereinigt  und  damit  der  See  wieder  zugänglich  ge- 
macht werden.  Gewiß  werden  die  Franzosen  über  kurz  oder 
lang  diesen  einzigen  sichern,  wie  einst  Tunis  nicht  unmittelbar 
vom  Meere  aus  angreifbaren  Hafen  an  der  ganzen  Küste  der 
Atlasländer,  das  einzige  den  Verhältnissen  der  modernen  Schiff- 
fahrt genügende  Tor  von  Tunesien,  wieder  reinigen  und  be- 
festigen, sie  werden  dann  von  Biserta  aus  den  Engländern  in 
Malta  die  Spitze  zu  bieten  vermögen.^)  Auch  die  nähere  Um- 
gebung der  Stadt  ist  überaus  fruchtbar,  der  schon  genannte 
salzige  See,  wie  ein  zweiter  flacher,  der  mit  ihm  in  Verbindung 
steht,  aber  süß  ist,  sind  wunderbar  reich  an  Fischen,  kurz  es 
vereinigt  sich  alles,  um  Biserta  in  europäischen  Händen  zum 
festen  Emporium  der  Meerenge  zu  machen.  Biserta  im  Besitz 
der  Franzosen,  bedeutet  daher  seiner  außerordentlichen  strate- 
gischen und  kommerziellen  Wichtigkeit  wegen  eine  beständige 
Bedrohung  Maltas,  Siziliens  und  Sardiniens,  es  kann  Toulon  und 
Marseille  zu  gleicher  Zeit  werden. 

Was  Tunesien  für  Italien  ist,  zeigt  uns  am  besten  ein  histo- 
rischer Rückblick  auf  die  Beziehungen  dieses  Landes  zu  seinem 
ihm  hier  so  nahe  gerückten  afrikanischen  Gegengestade.  Vom 
Ende  des  2.  Jahrtausend  an  sind  die  Phöniker  in  Sizilien  wie  in 
Afrika  Herren  der  wichtigsten  Küstenplätze  und  der  Meerenge; 
später,  als  die  Griechen  nach  Westen  vordringen,  wird  der  Besitz 
von  Westsizilien  für  die  Karthager  eine  Lebensfrage,  Jahrhunderte 
hindurch  wogt  der  Kampf  über  die  Meerenge  hinüber   und   her- 


i)  Bekanntlich  haben  die  Franzosen  jetzt  Biserta   tatsächlich  zu  einem 
großen  Kriegshafen  ausgebaut. 


—     291     — 

über:  es  tritt  damals  zum  ersten  Male  klar  hervor,  daß  beide 
Ufer  durch  so  wichtige  Interessen  miteinander  verknüpft  sind, 
daß  eine  starke  Macht  in  Sizilien  eine  beständige  Bedrohung 
Tunesiens,  und  umgekehrt  eine  starke  Macht  in  Tunesien  eine 
Bedrohung  Siziliens  ist.  Friede  herrscht  nur,  wenn  auf  der  einen 
Seite  der  Meerenge  Verfall  eingetreten  und  der  Einfluß  des 
Gegengestades  maßgebend  ist  oder  beide,  wie  ein  halbes  Jahr- 
tausend hindurch  in  römischer  Zeit,  politisch  geeinigt  sind.  Wir 
sehen,  wie  die  sizilischen  Griechen  bald  nach  Afrika  hinüber- 
greifen, bald  die  Karthager  Syrakus  bedrohen,  bis  die  Römer 
nach  langem,  auch  zum  Teil  auf  afrikanischem  Boden  geführten 
Kampfe  Herren  Siziliens  werden.  Von  Sizilien  aus  führen  dann 
auch  die  Römer  unter  dem  älteren  Scipio  den  entscheidenden 
Streich  gegen  Karthago,  nachdem  Hannibal  vergebens  in  Italien 
selbst  dem  furchtbaren  Gegner  den  Untergang  zu  bereiten  ge- 
sucht hat.  Tunesien  wird  der  erste  und  dauerndste  Besitz  Roms 
auf  afrikanischem  Boden.  Kaum  ist  das  Römische  Reich  in 
Trümmer  geschlagen,  so  beginnt  auch  sofort  das  alte  Spiel.  Zu- 
nächst machen  sich  die  Vandalen  als  Herren  von  Karthago  auch 
zu  Herren  Siziliens,  bald  aber  vernichten  die  wieder  erstarkten 
Oströmer  als  Herren  von  Sizilien  die  indessen  gesunkene  vanda- 
lische  Macht  in  Tunesien.  Sobald  die  Araber  sich  in  Nord- 
afrika befestigt  haben,  erobern  sie  auch  Sizilien  und  bedrohen 
Unteritalien,  und  umgekehrt  als  hier  im  jugendlichen  normanni- 
schen Staate  alle  Kraft  in  einer  Hand  vereinigt,  drüben  jedoch 
Verfall  und  Zersplitterung  eingetreten  ist,  sehen  wir  auch  sofort 
namentlich  unter  Roger  II.  in  Tunesien  wieder  das  Ziel  Agatho- 
kleischer  Züge,  an  welchen  sich  auch  schon  die  eben  empor- 
kommenden großen  Handelsrepubliken  Pisa  und  Genua  beteiligen, 
denen  sehr  bald  der  ganze  Handel  an  der  ganzen  Küste  der 
Atlasländer  anheimfällt.  Schon  im  Jahre  1087  eroberte  eine  ita- 
lienische Flotte  von  400  Schiffen  mit  30  000  Mann  am  Bord 
Mehedia.  Das  Übergewicht  der  Italiener  zur  See  und  die  Zer- 
splitterung des  Atlasgebiets  in  zahlreiche  kleine  Staaten,  die 
einander  sogar  mit  Hilfe  italienischer  Condottieri  bekämpften, 
verschaffte  denselben  großen,  ihrem  Handel  zugute  kommenden 
Einfluß.  Schon  1 3 1 7  erhielten  die  Venetianer  vom  Herrscher 
von  Tunis  vertragsmäßig  die  Erlaubnis,  durch  sein  ganzes  Gebiet 
mit  Karawanen  Handel  zu  treiben  und  den  Schutz  der  Behörden 

19* 


—     292     — 

in  Anspruch  zu  nehmen.  Schon  im  14.  Jahrhundert  müssen 
Italiener  bis  Timbuktu  vorgedrungen  sein.  Weiter  westwärts  be- 
trieben Italiener  mindestens  seit  dem  12.  Jahrhundert  die  noch 
heute  blühenden  Korallenfischereien  bei  Tabarka  und  La  Calle 
und  war  Bougie,  das  im  13.  Jahrhundert  an  Tunis  gefallen  war, 
eine  der  bedeutendsten  Handelsstädte  Nordafrikas;  Geiserich  hatte 
es  erst  zu  seiner  Hauptstadt  gewählt,  im  10.  Jahrhundert  war  es 
als  Hauptstadt  eines  selbständigen  Reiches  noch  mehr  empor- 
geblüht und  zugleich  ein  Hauptsitz  arabischer  Gelehrsamkeit,  eine 
Stadt,  die  in  ihren  Mauern  nach  Edrisi  (im  12.  Jahrh.)  20000  Häuser 
umschloß.  Hier  hatten  zuerst  die  Pisaner,  dann  Genueser  und 
Venetianer  ihre  Handelsfaktoreien,  die  bald  auch  ins  Innere 
nach  Konstantine  und  Tlemsen  vorrückten,  bis  wohin  die  Kara- 
wanen der  Wüstenstämme  zu  kommen  pflegten.  Auch  Tenes 
war  viel  von  den  Italienern  besucht.  Der  wichtigste  Punkt  für 
den  Handel  der  Italiener  scheint  aber  weiter  im  Westen  Genta 
gewesen  zu  sein,  im  ganzen  Mittelalter  nicht  nur  das  Emporium 
der  Meerenge,  sondern  auch  Haupthandelsstadt  von  ganz  Marokko 
und  Endpunkt  der  Wüstenstraßen,  ja  wohl  eine  der  bedeutend- 
sten Welthandelsstädte  des  Mittelalters.  Hier  ist  Handel  der 
Pisaner  und  Genueser  schon  im  Jahre  11 6g  urkundlich  bezeugt 
und  für  Ceuta  wurde  im  ersten  Drittel  des  13.  Jahrhunderts  die 
sog.  Maona,  die  älteste  Handelsgesellschaft,  gegründet.  Die 
Genueser  bewohnten  dort  einen  eigenen  Stadtteil  und  fühlten  sich 
so  stark,  daß  sie  1235  versuchten,  sich  der  Stadt  ganz  zu  be- 
mächtigen. Als  dies  mißlang,  belagerten  sie  dieselbe  mit  einer 
Flotte  von  100  Schiffen  und  erzwangen  wenigstens  Ersatz  des 
erlittenen  Schadens.  Schon  im  12.  Jahrhundert  drangen  von 
Ceuta  aus  genuesische  Kaufleute  bis  in  die  Handelsplätze  der 
nördlichen  Sahara  vor.  Diese  Bedeutung  der  Stadt  ging  aber 
mit  einem  Schlage  verloren,  als  sich  die  Portugiesen  derselben 
14 15  bemächtigten,  der  Handel  verschwand  und  Ceuta  ist  bis 
auf  den  heutigen  Tag  ganz  wie  Tanger,  solange  es  in  den  Hän- 
den der  Engländer  war,  kaum  mehr  als  eine  Festung  in  perma- 
nentem Belagerungszustand.  Im  übrigen  Nordafrika  trat  ein  Um- 
schwung dieser  nur  vorübergehend  durch  Krieg  gestörten  Be- 
ziehungen erst  ein  seit  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts,  als 
gleichzeitig  mit  dem  beginnenden  Niedergang  des  italienischen 
Seehandels   und    der  Vereinigung   eines   großen  Teils  von  Italien 


—     293     — 

mit  Spanien  zu  einer  Monarchie,  der  Vemichtungskampf  gegen 
die  spanischen  Mohammedaner  zu  einem  großartigen  Aufschwünge 
des  Seeräuberwesens  an  der  ganzen  Küste  von  Nordafrika,  von 
Tripolis  bis  Sla  in  Marokko  führte.  Von  jener  Zeit  an  hat  fast 
ununterbrochener  Kriegszustand  zwischen  Südeuropa  und  seinen 
nordafrikanischen  Gegengestaden  geherrscht,  der  friedliche  Handel 
an  diesen  Küsten  erlosch  fast  völlig.  Die  Barbaresken  waren 
meist  den  Christen  überlegen  und  unsagbar  sind  die  Leiden, 
welche  fast  drei  Jahrhunderte  hindurch  ganz  Unteritalien  zu  er- 
tragen gehabt  hat.  Unter  den  beständigen  Überfällen  der  See- 
räuber verödeten  die  Küsten  Siziliens,  Calabriens  und  Sardiniens 
völlig,  nur  die  größeren  Seestädte  vermochten  sich  zu  schützen, 
die  Bevölkerung  wurde  ins  Innere  auf  die  Bergspitzen  zurück- 
gedrängt, die  Verbindung  mit  der  übrigen  Welt  gestört  und  ein 
furchtbarer,  noch  heute  fühlbarer  Rückgang  der  Kultur  dadurch 
wesentlich  mit  herbeigeführt.  Wiederholt  sind  ganze  Inseln,  wie 
die  Liparischen,  ausgeplündert  und  ihre  sämtlichen  Bewohner  in 
die  Sklaverei  geschleppt  worden.  Noch  heute  kann  man  in 
Sizilien  alte  Leute  treffen,  welche  in  ihrer  Jugend  als  Sklaven  in 
Tunis  gelebt  hatten,  noch  heute  erinnern  die  malerischen  alten 
Warttürme  auf  allen  Vorgebirgen  Süditaliens  und  Spaniens  an 
jene  furchtbare  Zeit.  Der  Verfall  der  Barbareskenstaaten  und 
die  Verjüngung  Italiens  in  unserm  Jahrhundert  hat  sofort  auch 
in  Tunis  den  Einfluß  Italiens  ganz  von  selbst  wieder  zur  Geltung 
gebracht,  trotzdem  keine  italienische  Regierung,  lange  Zeit  auch, 
nicht  die  des  geeinigten  Königreichs  etwas  dafür,  Frankreich  aber 
alles  dagegen  tat.  Die  Einwanderung  von  Italienern  nach  Tu- 
nesien ist  eine  sehr  bedeutende  gewesen,  mindestens  gooo  Köpfe 
zählt  die  italienische  Kolonie  in  Tunis  selbst^),  Handel  und  Ver- 
kehr liegt  zum  großen  Teil  in  den  Händen  der  Italiener  und 
bedient  sich  ihrer  Sprache;  der  natürliche,  in  den  geographischen 
Verhältnissen  tief  begründete  Prozeß  der  Italianisierung  wie  einst 
der  Romanisierung  des  in  jeder  Hinsicht  heruntergekommenen 
Tunesien  kann  nur  auf  gewaltsamem  Wege  gestört  werden.  Italien 
hatte  daher  das  größte  Interesse  die  Zustände  in  Tunesien  fort- 
dauern zu  lassen  wie  sie  waren  und  selbst  von  allgemein  mensch- 
lichem und  Kulturstandpunkte  aus  war  das  zu  wünschen,  da  die 


l)   1904  schätzte  man  sie  auf  130  ooo! 


-     294      — 

Franzosen  in  50  Jahren  den  Beweis  geliefert  haben,  daß  sie 
nicht  zu  kolonisieren  verstehen.  Wohl  aber  haben  die  Italiener, 
die  so  viele  arabisch-mohammedanische  Elemente  aufgesogen,  die 
durch  ihren  nach  einem  Jahrtausend  zählenden  Verkehr  mit  den 
Völkern  des  Orients  dem  Wesen  derselben  weit  weniger  fern 
stehen  wie  die  Franzosen,  gezeigt,  daß  sie  Orientalen  sich  an- 
zuähnlichen  und  damit  auf  eine  höhere  Kulturstufe  zu  heben  ver- 
stehen. Nur  ein  gewaltsamer  Eingriff,  wie  er  jetzt  stattgefunden 
hat,  vermag  den  langsamen  Italianisierungsprozeß  Tunesiens  auf- 
zuhalten. Um  so  mehr  aber  muß  dies  zu  Reibungen  mit  Frank- 
reich führen.  So  viel  geht  jedenfalls  aus  diesen  historisch-geo- 
graphischen Betrachtungen  hervor,  daß  Tunesien  im  Besitze 
Frankreichs  für  dieses  einen  bedeutenden  Schritt  zur  Beherrschung 
des  Mittelmeeres,  andererseits  aber  einen  Eingriff  in  den  von  der 
Natur  vorgezeichneten  Wirtschafts-  und  Machtbereich,  eine  un- 
erträgliche Bedrohung  Italiens  bedeutet.  Diese  Bedrohung  wird 
aber  um  so  furchtbarer,  wenn  man  die  Gier  der  augenblicklichen 
Machthaber  in  Frankreich  sich,  wo  immer  es  sei,  auszudehnen 
und  die  gleichzeitige  Bedrohung  Italiens  im  Norden  beachtet, 
wo  der  Verlust  des  italienischen  Nizza  noch  lange  nicht  ver- 
schmerzt ist.  Die  Geschichte  dreier  Jahrtausende  lehrt,  daß  zwei 
starke,  aufstrebende  Mächte,  die  an  der  Straße  von  Pantelleria 
aneinander  stoßen,  auf  die  Dauer  unmöglich  friedlich  neben- 
einander existieren  können,  die  gesamte  Politik  des  Schwächeren 
von  beiden  muß  sich,  wenn  er  die  Naturgesetze  und  die  Lehren 
der  Geschichte  nur  ein  wenig  versteht,  von  da  an  um  den  einen 
Punkt  drehen,  dem  alle  andern  untergeordnet  werden  müssen: 
wie   schütze  ich  Sizilien  und  Sardinien?^) 

Etwas  anderer  Art  sind  die  Rolle  und  die  Beziehungen 
Algeriens  und  Marokkos  ihren  europäischen  Gegengestaden  gegen- 
über. Die  Küstenbeschaffenheit  beider  ist  dafür  in  erster  Linie 
bestimmend.  Sobald  man,  von  Osten  kommend,  das  Weiße 
Vorgebirge  umfahren  hat,  ändert  sich  der  Charakter  der  Küste 
völlig.  Bis  zur  Meerenge  von  Gibraltar  haben  wir  eine  aus- 
gezeichnete Steilküste  vor  uns,  die  auf  der  einen  Seite  zu  großen 


l)  Bekanntlich  vollzog  sich  bald  nach  Abfassung  dieser  Betrachtungen 
der  Anschluß  Italiens  an  die  mitteleuropäischen  Mächte.  Die  Schaffung  und 
Dauer  des  Dreibunds  hat  ihre  Wurzeln  in  Tunesien. 


—     295     — 

Meerestiefen  hinabsinkt  —  5  bis  lo  km  vom  Strande  findet  man 
meist  schon  looo  m  Tiefe  und  mehr  —  auf  der  anderen  zu  den 
bedeutenden  Höhen  des  Küstengebirges  emporsteigt.  Auf  weite 
Strecken  ist  diese  Küste  geschlossen,  wie  z.  B.  zwischen  Bougie 
und  Algier,  und  dunkle  Felsenriffe,  an  denen  sich  die  Wellen 
schäumend  brechen,  machen  sie  fast  unzugänglich,  nur  selten 
sieht  man  hier  und  da  im  Vorüberfahren  an  einem  der  meist 
kahlen  Berghänge  oder  in  einem  der  engen  Täler  Rauch  auf- 
steigen, der  das  Vorhandensein  von  Bewohnern  verrät,  noch 
seltener  erblickt  man  einen  kleinen  Ort  am  Strande.  Um  so 
größere  Bedeutung  erlangen  einige  tiefer  eindringende,  durch 
Durchbrechung  der  äußeren  Küstenkette  entstandene  Buchten, 
wie  die  von  Bona,  von  Philippeville,  von  Bougie,  Algier,  Arzeu 
und  Oran,  die  alle  genau  dieselbe  Form  wiederholen  und  wohl 
gleicher  Entstehung  sind.  Alle  sind  nahezu  halbkreisförmig,  haben 
flache  von  Dünen  umsäumte  Küsten,  hinter  welchen  kleine,  oft 
sumpfige,  zuweilen  auch  noch  teilweise  von  Seen  bedeckte  frucht- 
bare Ebenen  liegen,  durch  welche  ein  zum  Meer  eilender  Fluß 
eine  natürliche  Straße  ins  Innere  geschaffen  hat,  während  ein  am 
westlichen  Eingange  der  Bucht  vorspringendes  Kap  eine  geschützte 
Stelle  für  eine  Stadtanlage  gewährt.  Die  Bedingungen  für  die 
Entwicklung  solch  einer  Seestadt  sind  somit  überall  die  gleichen: 
die  fruchtbare  Ebene,  etwas  Schutz  gegen  Winde,  Verbindung 
mit  dem  Innern;  die  Größe  und  Bedeutung  der  immer  genau  an 
gleicher  Stelle  liegenden  Stadt  entspricht  genau  dem  Maße  der 
von  jenen  drei  Faktoren  gewährten  Begünstigung,  politische  Ver- 
hältnisse vermögen  nur  vorübergehend  dem  einen  oder  dem 
anderen  (im  Altertum  Julia  Cäsarea  [Scherschel]  und  Hippo 
Regius  [Bone],  im  Mittelalter  Bone  und  Bougie,  in  der  Neuzeit 
Algier),  etwas  größere  Wichtigkeit  zu  verleihen;  wie  uns  aber  die 
Gegenwart  zeigt,  ist  selbst  eine  zentralisierende  Verwaltung  wie 
die  französische  nicht  imstande,  Algier  wesentlich  vor  Bone  und 
Oran  zu  erheben.  Algier  und  Oran  stehen  der  Bevölkerung  nach 
noch  nahezu  gleich,  ja  der  Handel  von  Oran  ist  bedeutender 
als  der  von  Algier.  Die  Nähe  des  spanischen  Gegengestades 
und  der  gänzliche  Mangel  an  Häfen  weiter  westwärts,  zum  Teil 
auch  die  ausgedehntere  und  namentlich  von  zahlreichen  spanischen 
Kolonisten  besetzte  Ebene  ermöglicht  Oran  diesen  erfolgreichen 
Wettbewerb.    Lassen  diese  Buchten  somit  die  Küste  Afrikas  hier 


—     296     — 

günstiger  gestaltet  erscheinen  als  irgendwo,  so  ist  sie  doch  eben- 
falls den  hier  das  ganze  Jahr  wehenden  Nord-,  Nordost-  und 
Nordwestwinden  ausgesetzt,  sie  bietet  nirgends  größern  Schiffen 
hinreichende  Sicherheit.  Wunderbar  ist  es  daher,  daß  die  Fran- 
zosen die  Herstellung  künstlicher  Häfen  nicht  sofort  nach  der 
Besitzergreifung  energisch  in  Angriff  genommen  haben.  Tatsäch- 
lich ist  dies  aber  nicht  geschehen.  Erst  1843  wurden  darauf 
bezügliche  Vorstudien  gemacht  und  dann  Hafenbauten,  freilich 
in  ungenügender  und  oft  verfehlter  Weise,  wie  noch  neuerdings 
der  beste  Kenner  der  ganzen  Küste,  Admiral  Mouchez,  gezeigt 
hat,  vorgenommen.  Der  einzige  freilich  kleine  Hafen  von  Algier, 
der  allein  die  Summe  von  60  Mill.  Fr.  verschlungen  hat,  dürfte 
allen  Anforderungen  genügen.  Hier  hat  also  die  Natur  ihre 
Gunst  mehreren  Punkten  fast  gleichmäßig  gewährt,  kein  Punkt 
der  Küste  ist  ähnlich  wie  in  Tunesien,  Tripolitanien  und  Barka 
mit  dem  ganzen  Lande  gleichbedeutend,  ja  es  haben  sogar  im 
Innern  Städte  wie  Constantine  und  Tlemsen  stets  eine  gewisse 
Bedeutung  behauptet.  Hier  war  es  daher  schwierig,  das  ganze 
Land  in  einer  Hand  zusammenzufassen,  wie  es  tatsächlich  selten 
und  nie  auf  die  Dauer  in  der  Ausdehnung  des  heutigen  Algerien 
zusammengefaßt  gewesen  ist.  Fast  alle  die  genannten  Städte 
haben  nacheinander  die  erste  Rolle  gespielt,  Algier  war  bis  in 
neueste  Zeit  die  unbedeutendste,  erst  unter  türkischer  Herrschaft 
seit  dem  16.  Jahrhundert  verdankt  sie  dem  Umstand  das  Über- 
gewicht, das  sie  seitdem  behauptet  hat,  daß  dort  dicht  vor  dem 
Strande  vier  kleine  Felseninseln  lagen,  welche  der  berüchtigte 
Seeräuber  Cheir-ed-Din  1529  durch  20000  Christensklaven  durch 
einen  Damm  untereinander  und  mit  dem  Lande  verbinden  ließ. 
Dadurch  war  ein  freilich  bei  Nordstürmen  noch  zuweilen  über- 
fluteter Hafen  geschaffen  und  die  Stadt  selbst  hat  ihren  Namen 
(El  Dschezair,  die  Inseln)  davon  erhalten.  Diese  eigentümliche 
Küstenbeschaffenheit,  der  Mangel  an  Häfen  neben  zahlreichen, 
leidlich  sicheren  Schlupfwinkeln  für  kleinere  Schiffe,  die  Gefahren, 
welche  in  jedem  Augenblicke  dem  mit  dieser  Küste,  ihrem  Wind 
und  Wetter  nicht  völlig  vertrauten  Schiffer  drohten,  sind  es  nun 
vorzugsweise  gewesen,  welche  das  Aufkommen  und  die  lange 
Dauer  des  Seeräuberwesens  ermöglicht  haben.  Den  ersten  An- 
stoß dazu  gab  der  alte  Haß  zwischen  Christen  und  Mohammeda- 
nern,   der    durch    die    Verjagung    der    spanischen    Mauren    neue 


—     297     — 

Nahrung  erhielt.  Wir  wissen,  daß  diese  verzweifelten  Flüchtlinge 
sich  vorzugsweise  in  den  Seestädten  niederließen  und  von  dort 
aus  den  unversöhnlichen  Kampf  gegen  ihre  Feinde  fortsetzten. 
Dazu  kam  aber  gleichzeitig  die  Ausbreitung  der  türkischen  Herr- 
schaft, welche  dem  legitimen  Handel  ein  Ende  machte.  So  wur- 
den Tripohs,  Tunis  und  all  die  Städte  der  algerischen  Küste 
bis  Sla  und  Rabat  in  Marokko  gefürchtete  Seeräubernester,  um 
deren  Bekämpfung  sich  namentlich  im  i6.  Jahrhundert  die  medi- 
terrane PoUtik  der  westlichen  Mittelmeerstaaten  Europas  fast  allein 
drehte.  Namentlich  die  spanische  Monarchie  nahm  diesen  Kampf 
unter  Kardinal  Ximenes  und  Karl  V.  mit  Eifer  auf,  führte  ihn 
aber  unglücklich.  Wohl  wurde  Tripolis  1510  von  den  Spaniern 
erobert  und  bis  1551  von  den  Maltesern  behauptet,  wohl  gelang 
auch  der  Angriff  Karls  V.  auf  Tunis  1535,  aber  der  auf  Algier 
scheiterte  1541,  auch  Bougie,  das  von  15 10 — 1555  in  den  Hän- 
den der  Spanier  war,  ging  wieder  verloren,  ebenso  Bone,  und 
nur  Oran  mit  Mers-el-kebir  blieb  von  1509 — 1790  mit  kurzer 
Unterbrechung  spanisch  uud  trägt  noch  heute,  da  ^3  der  dor- 
tigen Europäer  Spanier  sind,  wesentlich  spanischen  Charakter. 
Alle  späteren  Versuche  von  Spaniern,  Franzosen  und  Engländern, 
die  Seeräuberei  hier  auszurotten,  waren  erfolglos,  meist  weil,  wie 
1547,  161 7  und  1682  und  bei  andern  Gelegenheiten  und  schon 
151 5  und  1531  vor  Algier,  Stürme  die  Flotte  an  den  schutz- 
losen Strand  warfen  oder  das  hohe  Meer  zu  gewinnen  und  eine 
Belagerung  aufzuheben  zwangen.  Jeder  neue  Mißerfolg  der 
Christen  gab  dem  Seeräuberwesen  einen  neuen  Aufschwung,  das 
zur  wohlgeordneten  Staatseinrichtung  wurde.  Noch  in  den  letzten 
Jahrzehnten  haben  die  Franzosen  die  Gefahren  dieser  Küste  er- 
proben können,  indem  wiederholt  Nordoststürme  in  den  von  ihnen 
für  völlig  sicher  gehaltenen  Buchten,  der  von  Stora  z.  B.,  ganze 
Flotten  von  Handelsschiffen  und  selbst  Kriegsschiffe  zerstört  haben. 
Auch  wäre  die  Besetzung  oder  Zerstörung  sämtlicher  Küstenplätze 
nötig  gewesen,  welche  die  Natur  so  für  das  Piratenhandwerk  aus- 
gestattet zu  haben  scheint.  Erst  durch  die  Eroberung  von  Algier 
ist  demselben  ein  Ende  gemacht  worden,  da  fast  gleichzeitig 
1829  eine  österreichische  Flotte  unter  Bandiera  die  marokka- 
nische Seeräuberflotte  in  der  Mündung  des  Whed  el  Khos  bei 
El  Araisch  vernichtete.  Nur  an  der  marokkanischen  Mittelmeer- 
küste, dem  Rif,  einer  außerordentlich  steilen,   an  kleinen  Schlupf- 


—    298    — 

winkeln  überreichen,  zu  Lande  wie  zur  See  schwer  zugänglichen 
Landschaft,  welche  die  Spanier  auch  durch  die  zahlreichen  Posten, 
welche  sie  längs  derselben  seit  vier  Jahrhunderten  besetzt  halten, 
nicht  im  Zaume  zu  halten  vermocht  haben,  hat  sich  das  an  der 
großen  Straße  von  Gibraltar  so  lohnende  Handwerk  bis  in  die 
neueste  Zeit  erhalten,  noch  1856  wurde  dort  die  preußische  Kor- 
vette Danzig  von  Seeräubern  überfallen.  Von  einem  innerafrika- 
nischen Handel  der  Seestädte  der  Atlasländer  zwischen  TripoHs 
im  Osten  und  Mogador  im  Westen  ist  jetzt  längst  keine  Rede 
mehr,  die  französische  Besitzergreifung  von  Algerien  hat  die 
letzten  Reste,  welche  die  Türken  noch  gelassen  hatten,  ausgetilgt. 
Auf  dem  Geographenkongresse  zu  Paris  1875  konnte  die  Tat- 
sache konstatiert  werden,  daß  es  jetzt  in  Algier  kein  einziges 
Handelshaus  gebe,  auch  kein  mohammedanisches,  ja  daß  es  nicht 
einmal  einen  Mohammedaner  in  der  algerischen  Sahara  gebe, 
welcher  in  direkten  Handelsbeziehungen  zu  den  Negerländern 
stehe.  Die  Wiederanknüpfung  direkter  Beziehungen  dürfte  jetzt 
schwieriger  sein  als  je.  Die  Bedeutung  der  Atlasländer,  von 
Marokko  abgesehen,  beruht  daher  jetzt  nur  auf  den  eigenen 
Hilfsquellen. 

Fassen  wir  diese  Betrachtungen  zusammen,  so  sehen  wir, 
daß  Algerien  vermöge  seiner  Küstenbeschaffenheit,  der  aber  auch 
das  Innere  entspricht,  in  sehr  geringem  Maße  eine  geographische 
Einheit  bildet,  viel  schwieriger  zu  erobern  und  einheitlich  zu  be- 
herrschen ist,  als  alle  andern  Gestadeländer  Nordafrikas.  Vor 
allen  Dingen  ist  es  auch  nur  teilweise  das  natürliche  Gegen- 
gestade Südfrankreichs,  wie^  sich  dies  auch  darin  deutlich  aus- 
prägt, daß  in  der  Provinz  Constantine  die  italienische,  in  Oran 
die  spanische  Bevölkerung  vor  der  französischen  überwiegt. 

Durch  die  auch  aus  dem  Innern  schwer  zugängliche  Rifif- 
küste,  an  welcher  sich  daher  bis  auf  den  heutigen  Tag  die 
Berber  am  reinsten  gehalten  haben,  ist  Marokko  vom  Mittelmeer 
abgesperrt,  es  wendet  dem  Ozean  seine  Stirnseite  zu  und  reicht 
nur  mit  der  einen  Flanke  an  die  Straße  von  Gibraltar.  Die 
Ozeanküste  ist  so  gut  wie  hafenlos,  selbst  das  wichtige  Mogador, 
wo  durch  eine  Küsteninsel  ein  Hafen  gebildet  wird,  kann  im 
Winter  oft  längere  Zeit  von  keinem  Schiffe  augelaufen  werden 
und  die  sämtlichen  europäischen  Handelshäuser,  welche  in  all 
den   Küstenplätzen    bestehen,    sind    dann    auf  den  Postboten   an- 


—     299     — 

gewiesen,  der  von  Mogador  ausgehend,  alle  Plätze  berührt  und 
in  Tanger  endUch  regelmäßige  Post-  und  Telegraphenverbindung 
erreicht.  Um  so  wichtiger  wird  dieser  Punkt,  um  so  mehr  tritt 
seine  Eigenschaft  als  Haupteingangstor  von  Marokko  herv^or.  Hier 
an  der  Meerenge  wiederholen  sich  die  Verhältnisse  der  Straße 
von  Pantelleria,  auch  hier  beeinflussen  sich  die  beiden  Gestade 
aufs  lebhafteste,  auch  hier  hat  bald  westgotische,  portugisische, 
spanische  Macht  nach  Marokko  hinübergereicht,  bald  auch,  wenn 
auch  seltener,  marokkanische  nach  Spanien.  Die  günstigere 
Küstenbeschaftenheit,  welcher  an  der  Küste  von  Südspanien  zahl- 
reiche leicht  mit  dem  Hinterlande  verkehrende  Häfen  ihr  Dasein 
verdanken,  das  nahe  der  Meerenge  sich  öffnende  weite  Becken 
des  Guadalquivir  verleiht  hier  Spanien  das  Übergewicht,  Marokko 
reicht  nur  bei  Tanger  an  die  Meerenge,  die  Küste  östlich  davon 
ist  vom  Innern  abgeschlossen.  Marokko  wird  daher  immer  leichter 
dem  Einflüsse  einer  starken  Macht  in  Spanien  unterliegen,  als 
umgekehrt.  Tatsächlich  zogen  auch  die  Römer  Mauritania  Tin- 
gitana  fast  immer  zum  Verwaltungsgebiet  des  südwestlichen  Spa- 
nien und  die  Portugiesen  nannten  dasselbe  Gebiet,  dessen  sie 
sich  seit  der  Eroberung  von  Ceuta  im  Jahre  141 5  teilweise  und 
zeitweise  bemächtigten  —  Mazagan  verloren  sie  erst  1769  — 
Algarve  jenseit  des  Meeres.  Marokko  steht  zu  Lande  mit  den 
übrigen  Atlasländem  jetzt  nur  in  sehr  loser  Verbindung,  hohe, 
von  niemals  unterworfen  gewesenen  freiheitsliebenden  und  kriege- 
rischen Berberstämmen  bewohnte,  schwer  zugängliche  Gebirge, 
dahinter  die  Steppen  des  Mulujagebiets  trennen  es  völlig  von 
Algerien,  die  Gefahr,  daß  auch  dieses  Land  Frankreich  anheim- 
fallen und  von  dort  aus  Spanien  bedroht  werden  könne,  ist  vor- 
läufig eine  sehr  entfernte,  so  sehr  wir  ja  den  Franzosen,  die  in 
einem  halben  Jahrhundert  weder  die  Eingeborenen  Algeriens 
definitiv  zu  unterwerfen,  noch  sich  irgend  einen  Kraftzuwachs  in 
Algerien  zu  erwerben  verstanden  haben,  die  Berberstämme  des 
Hohen  Atlas  gönnen  würden.  Eine  gewaltsame  Eroberung  Ma- 
rokkos von  Osten  her  zu  Lande  hat  wohl  nur  einmal  in  der 
Geschichte,  durch  die  Araber,  stattgefunden,  und  auch  da  tritt 
sehr  früh  wieder  politische  Absonderung  ein.  Weit  eher  aber 
haben  sich  wiederholt  mohammedanisch-marokkanische  Herrscher 
eines  Teiles  von  Algerien  bis  Bougie  im  Osten  bemächtigt.  Die 
noch   heute   bestehende   merkwürdige   Abschließung    des    Landes. 


—     300     — 

dicht  an  den  Toren  von  Europa,  ist  somit  in  seinen  geographi- 
schen Verhältnissen,  namentlich  in  der  schwierigen  Zugänglichkeit 
sowohl  seiner  Küsten  wie  seiner  Landgrenzen  wohl  begründet. 
Marokko  könnte  daher  weit  leichter  Spanien  —  wenn  das  eben 
nicht  Spanien  wäre!  —  zufallen  als  Frankreich,  auch  hat  sich 
Spanien  seit  der  portugiesischen  Eroberung  in  Ceuta  zu  behaupten 
vermocht,  das  freilich  an  Wichtigkeit  dem  Spanien  viel  mehr  be- 
drohenden und  schädigenden  Gibraltar  weit  nachsteht.  Von 
welcher  weit  größern  Bedeutung  Gibraltar  als  Tanger  ist,  das 
prägt  sich  am  besten  in  der  Tatsache  aus,  daß  die  Engländer 
diesen  Punkt,  der  ihnen  als  Mitgift  einer  portugiesischen  Prinzessin 
zugefallen  war,  den  sie  stark  befestigt  und  durch  einen  Molo  mit 
einer  Art  Hafen,  den  Tanger  jetzt  schmerzlich  entbehrt  —  die 
Landung  von  Reisenden  geht  dort  auf  den  Schultern  von  Trägern 
vor  sich,  die  der  Waren  dementsprechend  —  versehen  hatten, 
1684  freiwillig  aufgaben,  um  sich  zwei  Jahrzehnte  später  Gibral- 
tars zu  bemächtigen. 

So  viel  dürfte  aus  diesen  Betrachtungen  erhellen,  daß  von 
der  zentralen  Stellung  der  Franzosen  in  Algerien,  die  dem  Mutter- 
lande sehr  bedeutende  Opfer  gekostet  hat  und  noch  lange  keinen 
Gewinn  verheißt,  ein  Vordringen  nach  Marokko  sehr  schwierig 
und  wenig  erfolgverheißend  und  selbst  im  Falle  des  Gelingens, 
die  Bedrohung  Spaniens  und  Gibraltars  wie  des  gesamten  Mittel- 
meerhandels durch  eine  Festsetzung  der  Franzosen  an  der  Meer- 
enge von  Gibraltar  eine  verhältnismäßig  geringe  sein  würde,  wäh- 
rend nach  Osten  der  Anschluß  von  Tunesien  weit  leichter  ist, 
der  Besitz  des  Landes  durch  Festsetzung  in  der  Nähe  der  Med- 
scherdamündung  leicht  behauptet  und  von  dort  aus  nicht  nur 
Italien  wirksam  im  Schach  gehalten  werden  kann,  sondern  die 
Beherrschung  des  Eingangs  ins  östliche  Mittelmeerbecken  der 
französischen  Flotte  ebenso  leicht  ist,  wie  der  englischen  von 
Malta  aus.  Die  Aussichten,  welche  sich  den  französischen  Macht- 
habern  von  der  neu  errungenen  Stellung  aus  eröffnen,  sind  nach 
erdkundlichen  und  historischen  Gesetzen  weite,  glänzende  und 
wohlbegründete,  sie  bezeichnen  auch  nur  eine  Etappe  auf  dem 
Wege  nach  noch  größeren  Zielen.  Es  fragt  sich  nur,  wenn  wir 
von  England  absehen,  ob  die  geringe  Meinung,  welche  die  Herren 
in  Paris  nach  den  Zumutungen,  die  sie  an  sie  stellen,  von  der 
italienischen  Nation  haben  müssen,  wirklich  die  richtige  ist.    Da- 


—     30I     — 

von  wird  es  abhängen,  ob  die  Meerenge  von  Pantelleria  zu  einem 
zweiten  Bosporus,  zu  einem  zweiten  Angelpunkte  der  europäischen 
Politik  wird. 


2.  Zwischen  Tebessa  und  Gabes.   Reiseskizzen  aus 
Südtunesien.  0 

Nordafrika  spielt  in  der  Weltpolitik  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  eine  hervorragende  Rolle,  mehr  als  je  tritt  die  Wichtigkeit 
dieser  Länder  sowohl  an  und  für  sich  wie  wegen  ihrer  Lage  zu 
den  europäischen  Staaten  und  zu  den  großen  Straßen  des  Welt- 
verkehrs in  den  Vordergrund.  Die  inneren  Zustände  derselben, 
ihr  tiefer  wirtschaftUcher  Niedergang  trotz  reicher  natürlicher 
Ausstattung,  die  fortwährenden  Unruhen,  die  sie  noch  mehr  ver- 
öden, alles  Folgen  der  überall  hervortretenden,  aufs  engste  mit 
der  herrschenden  Religionsform  verbundenen  Mißregierung,  for- 
derten und  fordern  das  Eingreifen  der  zunächst  beteiligten  euro- 
päischen Mächte,  Englands,  Frankreichs,  Italiens  und  Spaniens, 
förmlich  heraus,  und  so  werden  diese  Länder  für  lange  Zeit 
dunkle  Wolken  am  politischen  Horizont  Europas  bilden.  Wie  die 
Würfel  zuerst,  bezeichnenderweise,  um  das  in  dieser  Hinsicht 
weniger  wichtige  Algerien  vor  mehr  als  einem  halben  Jahrhun- 
dert gefallen  sind,  so  sind  sie  vor  fünf  Jahren  um  das  wichtigere 
Tunesien  gefallen,  so  rollen  sie  heute  um  Ägypten,  das  wich- 
tigste von  allen,  morgen  vielleicht,  um  Tripolitanien,  übermorgen 
um  Marokko,  das  nur  der  Eifersucht  Spaniens,  Frankreichs  und 
Englands  die  ungestörte  Fortdauer  unhaltbarer^  Europa  zur 
Schande  gereichender  Zustände  verdankt.  Daß  über  die  Geschicke 
Tunesiens  endgültig  entschieden  ist  und  bei  nächster  Gelegen- 
heit die  Schutzherrschaft  in  völlige  Einverleibung  in  Frankreich 
verwandelt  werden  wird,  kann  für  niemand  zweifelhaft  sein,  am 
wenigsten,  wenn  man  die  Franzosen  im  Lande  selbst  gesehen 
hat.  Wir  werden  später  ausführen,  daß  dies  dem  Lande  selbst 
und  seinen  Bewohnern,  was  immer  die  Entwickelung  Algeriens 
auch  lehren  mag,  nur  zum  Segen  gereichen  wird.  Freilich  be- 
zeichnet Tunesien  im  Besitz  einer  starken  Macht  und  vollends 
Frankreichs    furchtbare   Bedrohung    Italiens,    wie    die    Geschichte 


i)  Erschienen  in  der  Köln.  Zeitung   1886. 


—       302       — 

von  mehr  als  zwei  Jahrtausenden,  von  unwandelbaren  geogra- 
phischen Gesetzen  beeinflußt,  lehrt:  diese  Bedrohung  wird  eine 
dauernde  werden.  Aber  Frankreichs  Pläne  —  auch  darüber  ge- 
winnt man  an  Ort  vind  Stelle  überraschende  Einblicke  —  gehen 
bekanntlich  weiter,  es  strebt  auch  nach  dem  Besitz  von  Tripoli- 
tanien  und  Barka,  um  zu  Lande  um  das  so  heiß  umstrittene 
Ägypten  heranzukommen,  von  den  inner-  und  westafrikanischen 
Phantasien  zu  schweigen.^)  Demgegenüber  scheint  aber  auch 
ItaUen  entschlossen  zu  sein,  um  keinen  Preis  sich,  nachdem 
einmal  Tunesien  verloren  ist,  auch  noch  Tripolitanien  entgehen 
zu  lassen,  um  wenigstens  hier  in  den  Besitz  eines  Gegengestades, 
eines  Zieles  für  seine  Auswanderer  und  des  Schlüssels  zur 
Handelsstraße  nach  Innerafrika  zu  gelangen.  So  stehen  sich 
beide  Mächte  lauernd  gegenüber,  und  die  Türkei  beachtet  jede 
Bewegung  derselben  mit  äußerstem,  nur  zu  wohl  begründetem 
Mißtrauen.  Wie  weit  dasselbe  geht,  ließ  ein  an  sich  höchst 
harmloser  Zwischenfall  vom  29.  März  1886  recht  deulich  erkennen. 
An  diesem  Tage  lief  nämhch  ein  sonst  zum  transatlantischen 
Dienste  verwandter  und  darum  weit  größerer  Dampfer  der  fran- 
zösischen, den  Verkehr  an  der  ganzen  Küste  von  Algerien  bis 
Tripolis  vermittelnden  Compagnie  Transatiantique  Tripolis  an 
und  bedurfte,  eben  seines  größeren  Tiefganges  wegen,  besonderer 
Bewegungen,  um  auf  der  wenig  sicheren,  seichten  Reede  vor 
Anker  zu  gehen.  Dies  und  das  ungewöhnlich  große  Schiff  rief 
sofort  bei  dem  türkischen  Befehlshaber  den  Verdacht  hervor,  es 
handle  sich  um  den  Versuch,  französische  Truppen  zu  landen. 
Die  Besatzung  wurde  unter  Waffen  gerufen,  und  nur  mit  Mühe 
gelang  es,  die  wahre  Sachlage  aufzuklären.  An  Zündstoff  fehlt 
es  auch  sonst  nicht,  zahlreiche  tunesische  Heerespflichtige  haben 
sich,  um  der  Einreihung  in  das  ganz  in  Neubildung  begriffene, 
eigentlich  französische  Heer  zu  entgehen,  nach  Tripolitanien  ge- 
flüchtet —  ich  selbst  habe  Leute  kennen  gelernt,  deren  nächste 
Angehörige  in  dieser  Lage  sind  — ,  und  ganze  Stämme  sind  aus 
Südtunesien    auf  tripolitanisches    Gebiet    übergetreten.     Dieselben 


l)  Es  scheint,  daß  diese  Pläne  Frankreichs  mit  dem  englisch-fran- 
zösischen Vertrage  vom  8.  April  1904  endgültig  aufgegeben  sind.  Die  irmer- 
und  westafrikanischen  Phantasien  sind  dafür  inzwischen  zum  großen  Teile 
"Wirklichkeit  geworden. 


—     303      — 

werden  über  kurz  oder  lang  durch  die  Not,  den  Mangel  an 
Weideplätzen  gedrängt,  trotzdem  die  Türken  die  ganze  Grenze 
sorgsam  bewachen  und  jeden  Zwischenfall  hintanzuhalten  suchen, 
zur  Rückkehr  gezwungen  sein,  kurz,  Frankreich  hat  dort  jeden 
Augenblick  seine  Krumirs  zur  Verfügung.  ^)  Doch  scheint  es  nach 
der  tatsächlichen  Venninderung  seiner  Truppen  in  Tunesien 
auch  im  Süden  zunächst  noch  keine  Verwendung  für  dieselben 
zu  haben.  Wenn  daher  französische  Zeitungen  in  Tunis  vor 
nicht  langer  Zeit  von  förmlichen  Kämpfen  zwischen  den  tune- 
sischen Truppen  und  diesen  Stämmen  meldeten  und  sogar  von 
vierzig  in  denselben  Gefallenen  sprachen,  so  war  das  offenbar 
aus  Parteileidenschaft  einfach  erlogen,  denn  ich  durchreiste  ge- 
rade jene  Gegenden  in  der  Zeit,  wo  dort  diese  Kämpfe  statt- 
gefunden haben  sollten.  Auch  von  einer  steigenden  Erbitterung 
gegen  die  Franzosen  habe  ich  nichts  bemerkt,  trotzdem  ich 
wiederholt  Gelegenheit  hatte,  meine  deutsche  Nationalität  zu  be- 
kennen. Ich  bin  im  Grunde  nur  zweimal  Leuten  begegnet, 
welche  von  wirklichem  Haß  gegen  die  neuen  Herren  erfüllt  waren, 
in  Algerien  begegnet  man  solchen  viel  öfter.  ^)  Überhaupt  ist 
jetzt  von  Fremden-  und  Christenhaß  sehr  wenig  zu  bemerken, 
selbst  die  Bezeichnung  Giaur,  die  ich  im  Orient  nicht  gar  selten 
zu  hören  bekam,  statt  der  gewöhnlichen  Er-Rumi,  klang  in  Tu- 
nesien nur  einmal  an  mein  Ohr  und  konnte  da  wohl  kaum  bös 
gemeint  sein,  da  ich  von  einer  Frau  an  einem  Brunnen  der  Oase 
El  Gettar  so  genannt  wurde,  deren  Töchterchen  ich  mit  süßem 
Zwieback  beschenkt  hatte.  Doch  ist  noch  heute  in  ganz  Tune- 
sien und  in  Tunis  selbst  das  Betreten  einer  Moschee  für  den 
Fremden  unmöglich,  während  ich  in  dem  doch  so  selten  von 
Fremden  besuchten  algerischen  Tebessa  von  den  Arabern  selbst 
eingeladen  wurde,  die  Moschee  und  das  Grab  eines  großen  Hei- 
ligen in  derselben  in  Augenschein  zu  nehmen. 

Aus  diesen  Gesichtspunkten  dürften  vielleicht  die  nach- 
folgenden Skizzen,  die  sich  vorzugsweise  auf  die  auch  von  For- 
schungsreisenden   sehr    selten    besuchten    südlicheren    Gegenden 


1)  Diese    Übergangserscheinungen    sind    heute    zum    großen    Teil    ver- 
schwunden. 

2)  Das    hat   sich    seitdem  völlig   geändert.     Der   Franzosenhaß   der  Tu- 
nesen  steht  dem  der  algerischen  Mohammedaner  kaum  nach. 


—     304     — 

beziehen,  nicht  ganz  unzeitgemäß  sein.^)  Es  sind  dies  die  Grenz- 
gebiete zwischen  den  südtunesischen  Hochsteppen  und  der  tune- 
sischen Sahara,  die  heute,  von  wenigen  Oasen  abgesehen,  nur 
von  den  nomadischen  Stämmen  der  Freschisch,  der  Madjer  und 
Hammema  bewohnt  werden,  von  denen  nur  die  ersteren  auf 
den  Hochebenen  noch  etwas  Ackerbau  betreiben.  Ohne  eigenes 
Zelt  und  Vorräte,  überhaupt  ohne  vollständige  Ausrüstung  in 
diesen  Gegenden  zu  reisen,  wie  ich  leider,  ist  sehr  anstrengend 
und  entbehrungsreich,  denn  man  ist  dann  darauf  angewiesen, 
gelegentlich  große  Tagereisen  auf  schlechten  Pferden  und  noch 
schlechteren  Sätteln  zu  machen,  nur  um  einen  bewohnten  Ort, 
ein  Zeltlager  oder  wenigstens  einen  Brunnen  zu  erreichen.  Auf 
der  68  km  langen  Strecke  von  Feriana  nach  Gafsa,  die  zum 
Teil  durch  höchst  ermüdende  Sandwüste  führt,  findet  man  z.  B. 
nur  die  beiden  Brunnen  von  Henchir  Sidi  Aisch,  die  aber  brak- 
kiges,  kaum  trinkbares  Wasser  haben.  Dort  haben  die  Franzosen 
in  kluger  Berechnung  nahe  den  Ruinen  einer  römischen  Station, 
wohl  Gemellae,  einen  Bordsch,  einen  befestigten  Posten,  errichtet, 
der  bisher  aber  noch  ohne  Besatzung  und  überhaupt  unbewohnt 
ist,  aber  in  unruhigen  Zeiten  von  größter  Bedeutung  werden 
muß,  da  dies  in  weitem  Umkreise  der  einzige  Brunnen  ist,  auf 
welchen  die  Nomaden  zum  Tränken  ihrer  Herden  von  Ziegen 
und  Schafen  angewiesen  sind,  so  daß  dieser  Bordsch  alle  Stämme 
jener  Gegend  im  Zaume  zu  halten  vermag.  Ähnlich  findet  man 
auf  der  140  km  langen  Strecke  von  Gafsa  bis  Gabes,  von  der 
nur  20  km  von  Gafsa  gelegenen  Oase  El  Gettar  abgesehen,  nur 
drei  Brunnen,  von  denen  aber  zwei,  die  von  Zelludscha  und 
Mehamla,  nur  10  km  voneinander  in  der  Mitte  zwischen  Gafsa 
und  Gabes  liegen,  der  dritte,  die  Brunnengruppe  von  Fedschedsch, 
liegt  nur  2^  km  von  der  Oasengruppe  von  Gabes,  nahe  am 
Nordrande  des  östlichsten,  gleichen  Namen  mit  dem  Brunnen 
tragenden  Schott.  Diese  Brunnen,  häufig  noch  Werke  der  Rö- 
mer, liegen  ausnahmslos  in  völliger  Wüste,  kein  Baum,  kein 
Strauch,  noch  viel  weniger  ein  Haus  belebt  dieselben  und  läßt 
sie  von  weitem  erkennen,  im  Gegenteil,  da  hier  jahraus  jahrein 
aus  weitem  Umkreise  die  Herden  zur  Tränke   zusammenströmen. 


i)  Seitdem  ist  das  Land  durch  die  Phosphateisenbahn  von  Sfaks  nach 
Gafsa  aufgeschlossen  worden. 


—     305     — 

ist  gerade  ihre  Umgebung  am  allerwüstesten,  oft,  wie  um  den  so 
überaus  wichtigen  Brunnen  von  Mehamla,  völHge  Sandwüste, 
denn  die  Herden  fressen  dort  die  etwa  aufsprießenden  Pflanzen 
bis  zur  Wurzel  ab  und  zerstören  selbst  diese  mit  den  Hufen,  so 
daß  der  Boden  beweglich  wird.  Meist  bestehen  diese  Brunnen 
lediglich  aus  dem  ausgemauerten  kreisförmigen  Brunnenschacht, 
dessen  Rand  nur  wenig  über  den  Boden  erhöht  ist,  so  daß  man 
dieselben  erst  in  geringer  Entfernung  erblickt,  nicht  selten  steht 
im  Winter,  da  sie  häufig  an  der  tiefsten  Stelle  eines  Beckens 
liegen,  die  ganze  Umgebung  unter  Wasser.  Das  lebhafteste 
Treiben  entwickelt  sich  um  diese  Brunnen  am  Tage,  namentlich 
mittags.  Rastlos  sind  da  Männer  und  Jünglinge  beschäftigt,  in 
Ziegenschläuchen  an  Seilen  Wasser  emporzuziehen  und  damit  die 
neben  den  Brunnen  häufig  nur  roh  aus  Feldsteinen  gemauerten 
Tröge  zu  füllen;  ohne  Unterbrechung  strömen  die  Herden  von 
Durst  gequälter,  kläglich  meckernder  Ziegen  und  Schafe  herbei, 
die  Hirten,  selbst  durstig,  haben  Mühe,  die  Herden  auseinander 
zu  halten;  Züge  von  Eseln  mit  leeren  Schläuchen  werden  meist 
von  lo-  bis  I2jährigen  Knaben  oder  Mädchen,  die  nur  mit 
einem  leichten,  vielfach  zerfetzten  blauen  Kattunkleid,  aber  mit 
reichem  Silberschmuck  an  den  Armen  und  Füßen  wie  an  den 
Ohren  angetan  sind,  herbeigeführt,  um  die  entfernten  Zeltlager 
mit  dem  kostbaren  Naß  zu  versehen;  Karawanen  mit  schwer  be- 
lasteten, bedächtig  einherschreitenden  Kamelen,  denen  hier,  wie 
ähnlich  in  Kleinasien,  stets  als  bequemere  Reittiere  und  Führer 
einige  der  kleinen,  aber  klugen  und  erstaunlich  leistungsfähigen 
Esel  beigegeben  sind,  kommen  an.  Bald  lodert  zwischen  roh 
zusammengetragenen  Steinen  abseits  von  den  Brunnen  ein  von 
mitgeführtem  oder  in  der  Umgebung  gesammeltem  Gestrüpp  unter- 
haltenes Feuer  empor  zur  Bereitung  der  kärglichen  Mahlzeit,  im 
günstigsten  Falle  die  beliebte  aus  Weizen-  oder  Gerstenmehl  be- 
reitete Nationalspeise  Kuskussu.  Ringsum  auf  dem  nackten  Bo- 
den, auf  den  allenfalls  auch  ein  Teppich  gebreitet  wird,  hocken 
die  Reisenden  mit  ihren  Frauen  und  Kindern  nieder  zu  dem 
vom  Hunger  gewürzten  Mahle  oder  strecken  sich  wohl  auch  im 
Sande  zu  kurzer  Rast  hin,  den  Kopf  vor  den  glühenden  Strahlen 
der  Sonne  durch  die  Sommer  und  Winter  getragenen,  dem  Klima 
und  der  Lebensweise  trefflich  angepaßten  Wollengewänder  ge- 
schützt :  kurz  ein  bewegtes,  überlautes  —  denn  ohne  möglichstes 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  ~0 


—     3o6     — 

Untereinanderschreien,  so  daß  man  meinen  möchte,  es  würde 
jeden  Augenblick  zu  Schlägereien  kommen,  geht  es  einmal  nicht 
ab  —  Treiben  entwickelt  sich,  wahrhaft  biblische  Szenen  rollen 
sich  vor  dem  europäischen  Reisenden  ab,  der  seinerseits  mit  allem, 
was  er  um  und  an  sich  hat,  der  Gegenstand  der  Bewunderung 
dieser  armen  Wüstenkinder  ist.  Noch  vor  Sonnenuntergang  und 
dem  Beginn  der  rasch  hereinbrechenden  Nacht  verschwindet 
auch  die  letzte  Herde  vom  Brunnen,  das  Schweigen  der  Wüste 
lagert  sich  über  der  soeben  noch  so  belebten  Stätte.  Denn  nur 
ausnahmsweise  und  nur  größere  Karawanen  lagern  in  diesen 
Gegenden  an  den  Brunnen,  alle,  aber  namentlich  kleinere,  suchen 
stets  der  größeren  Sicherheit  wegen  eine  Oase  zu  erreichen. 
Aus  demselben  Grunde  schlagen  auch  die  Nomaden  ihre  Zelt- 
lager weiter  ab  von  den  Brunnen  auf,  womöglich  in  Vertiefungen 
versteckt.  Denn  die  Sicherheit,  die  jetzt  so  ziemlich  hier  herrscht, 
ist  wesentlich  erst  das  Werk  der  Franzosen.  Gasthäuser  sind 
selbstverständlich  auch  in  den  Oasen  nicht  vorhanden,  man  ist 
auf  die  Gastfreundschaft  der  Landesbewohner  angewiesen.  Um 
ganz  sicher  zu  sein,  daß  solche  gewährt  wird,  ist  es  gut,  sich 
Empfehlungsschreiben  von  der  tunesischen  Regierung  an  alle 
Ka'ids,  Khalifas,  Scheichs  usw.  zu  verschaffen.  Die  frühere  Ein- 
richtung, daß  man  einen  Hamba  (berittenen  tunesischen  Soldaten) 
beigegeben  erhielt,  der  von  den  Einwohnern  alles,  was  der  Rei- 
sende bedurfte,  und  selbstverständlich  recht  viel  daneben  für  sich 
selbst,  zwangsweise  und  unentgeltlich  (angeblich  wurde  das  später 
von  den  Steuern  abgelassen)  aufnahm,  ist  glücklicherweise  jetzt 
abgeschafft.  Doch  habe  ich  die  Beobachtung  gemacht,  daß  die 
Zeltaraber  zuweilen  dieses  Empfehlungsschreiben  gar  nicht  sehen 
wollten  und  aus  eigenem  Triebe  nach  besten  Kräften  Gastfreund- 
schaft, ein  Abendessen  und  einen  Platz  in  der  Männerabteilung 
des  Zeltes  gewährten.  Von  Bezahlung  konnte  natürlich  keine 
Rede  sein,  doch  war  es  meist  möglich,  einem  Knechte,  der 
irgendwie  sich  nützlich  gemacht  hatte,  ein  Trinkgeld  zu  verab- 
reichen. Nachtruhe  wird  man  freilich  in  einem  solchen  Zeltlager 
erst  bei  einiger  Gewöhnung  finden.  Mir  wenigstens  verlief  die 
erste  Nacht,  die  ich  so  zubrachte,  keineswegs  in  behaglicher 
Ruhe.  Es  war  das  im  Gebiet  des  jetzt  arabisierten  Berbern- 
stammes der  Freschisch,  der  nachweisbar  seit  2000  Jahren  dies 
Gebiet   bewohnt,    im   Zelt   des   reichen    Scheich   Abbas,    der    mit 


—     307     — 

seinem  Stamm  damals  im  Hochbecken  von  Fussana,  800  m  hoch, 
und  an  dem  dort  in  seinem  Quellgebiet  dauernd  Wasser  führen- 
den  Wed  Hathob   lagerte. 

Ich  war  am  Morgen  von  Tebessa,  der  südöstlichsten  Stadt 
Algeriens/)  abgeritten,  hatte  im  einem  waldigen  Engpasse  von 
nahezu  1 000  m  Höhe,  dem  Kränget  INIuahad,  die  tunesische  Grenze 
überschritten  und  langte  nach  zehnstündigem  Ritt  abends,  nach- 
dem ich  den  Duar  des  Scheich  Abbas  suchend,  lange  in  der 
Ebene  des  Fussanabeckens  kreuz  und  quer  geritten  war  und 
wiederholt  den  Fluß  in  seinem  tief  eingeschnittenen  Bette  auf 
halsbrechendem  Pfade  hatte  überschreiten  müssen,  gegen  5  Uhr, 
eine  Stunde  vor  Sonnenuntergang,  dort  an.  Die  Annäherung  an 
ein  solches  Zeltlager  ist  immer  mit  Gefahren  verbunden  und  mein 
Führer  wich  denselben  daher  stets,  wenn  eines  am  Wege  lag, 
möglichst  weit  aus.  Diese  Duars  sind  nämlich  stets  von  einer 
Schar  höchst  bissiger  Hunde  bewacht,  bald  schakalähnlicher  Rasse, 
grau  oder  gelblich,  bald  Bestien  von  stattHchem  Wuchs  mit 
langem  weißen  Haar  und  namentlich  prächtiger  Löwenmähne. 
Unter  wütendem  Gebell  stürzen  dieselben  dem  Fremden  entgegen 
und  fallen  die  Pferde  an,  so  daß  diese  scheu  werden.  Ich  war 
wiederholt  nahe  daran,  aus  Notwehr  auf  die  Bestien  zu  schießen, 
so  wenig  klug  das  gewesen  wäre,  und  verabreichte  ihnen  bei 
sich  bietender  Gelegenheit  mit  besonderem  Vergnügen,  sehr  wider 
meine  sonstige  Natur,  kräftige  Stockschläge,  Meist  stürzen  frei- 
lich hinter  den  Hunden  drein  einige  Araber  hervor  und  treiben 
dieselben  durch  Steinwürfe  zurück.  Sich  aber  allein  vor  das 
Zeltlager  zu  begeben  und  in  dasselbe  zurückzukehren,  ist  immer 
eine  unbehagliche  Sache. 

Scheich  Abbas,  ein  hoher,  stattlicher  Mann  in  mittleren  Jah- 
ren, empfing  mich  freundhch  und  geleitete  mich  in  die  Männer- 
abteilung des  großen,  aber  niedrigen  Zeltes,  wo  mir  ein  Platz 
auf  einem  Teppich  und  zunächst  zur  Stillung  des  Durstes  nach 
dem  langen  Ritt  an  heißem  Tage  —  es  war  der  30.  März  und 
das  beschattete  Thermometer  war  mittags  auf  25"  C  gestiegen 
—  Ziegenmilch,  bald  nachher  eine  Tasse  trefflichen  arabischen 
Kaffees  geboten  wurde.    Die  verhältnismäßige  Ruhe,  die  am  Tage 


I)  Heute  ebenfalls  wegen  der  reichen  Phosphatlager  in  der  Umgebung 
durch  eine  Eisenbahn  leicht  zugänglich. 

20* 


—     30«     — 

im  Lager  geherrscht  hatte,  war  zu  Ende  mit  der  Heimkehr  der 
Herden.  Erst  kamen  die  Rinder,  deren  Zahl  gering  war,  denn 
schon  hier  sind  dieselben  entsprechend  der  dürftigen  trockenen 
Pflanzennahrung  ziemlich  klein,  in  Oasen  am  Nordrande  der 
Sahara  wie  in  Gafsa  werden  nur  wenige  Rinder  gehalten  und 
diese  werden  kaum  einen  Meter  hoch,  im  Innern  der  Wüste  ist 
es  kaum  mehr  möglich,  Rinder  zu  halten.  Blökend  und  meckernd 
zogen  die  Schafe  und  Ziegen,  die  nun  gemolken  wurden,  in  den 
schützenden  Umkreis  der  Zelte,  ihnen  folgten  die  Esel  und  Pferde, 
zuletzt  kamen  die  Kamele,  langsamen  Schrittes,  weit  ausgreifend ; 
das  Anpflöcken  ging  nicht  vor  sich,  ohne  daß  sie  ihre  scheuß- 
lichen Stimmen  hören  ließen,  bald  blökend,  bald  grunzend,  bald 
heulend.  Noch  heute  weicht,  wie  ich  hier  beobachten  konnte, 
die  Lebens-  und  Ernährungsweise  dieser  Nomaden,  die  zum 
großen  Teil  nicht  wirkliche  Araber,  sondern  nur  arabisierte  Nach- 
kommen der  berberischen  Numidier  sind,  nur  wenig  von  der  der 
alten  Numidier  ab,  wie  sie  uns  Sallust  aus  seiner  eigenen,  wäh- 
rend seiner  Tätigkeit  als  Prätor  in  Cirta  gesammelten  Erfahrung 
schildert.  Sie  leben  vorzugsweise  von  Milch  und  dem  Fleisch 
ihrer  Herden,  besonders  der  Schafe,  Getreide  bauen  sie  nur 
ausnahmsweise,  in  besonders  regenreichen  Wintern,  was  sie  an 
Brotstoff",  den  sie  jedoch  meist  in  der  Form  von  Kuskussu  oder 
höchstens  dünner  arabischer  Fladen  zu  sich  nehmen,  brauchen, 
tauschen  sie  meist  von  den  Bewohnern  des  Teil  ein.  Gemüse, 
Salat,  Früchte  u.  dgl,  die  zur  Ernährung  der  Städtebewohner  in 
einer  Weise  beitragen,  daß  wir  uns  kaum  eine  Vorstellung  da- 
von machen  können,  kennen  sie  selbstverständlich  nicht.  So- 
bald sich  die  Kunde  von  meiner  Ankunft  verbreitet  hatte,  kamen 
Besucher  von  den  Nachbarduars  in  großer  Zahl  herbei,  um  den 
Rumi  zu  sehen,  des  Fragens  war  kein  Ende,  jeder  Gegenstand 
meiner  Ausrüstung  wurde  bewundert.  Endlich  erschien  auch  das 
Abendessen,  eine  gewaltige  Blechschüssel  mit  scharfgepfeff"ertem 
Kuskussu  und  Hammelfleisch  wurde  auf  eine  Matte  gesetzt,  ein 
anderes  Gefäß  mit  Wasser  zum  Waschen  der  Hände  herum- 
gereicht und  dann  lud  der  Scheich  mich  und  ein  paar  ange- 
sehenere Araber  ein,  ringsum  niederzuhocken,  indem  er  mir  mit 
eigener  Hand  einige  der  besten  Fleischstücke  vorlegte.  Messer, 
Gabel,  Teller  waren  natürlich  nicht  vorhanden  und  das  Zu- 
sammenballen des  reichlich  mit  Milch  übergossenen  Kuskussu  zu 


—     3^9     — 

kleinen  Kugeln  nicht  ganz  von  der  Größe  eines  Eies  wollte  mir 
nicht  recht  gelingen.  Doch  versagte  mir  mein  Gastfreund  die 
Ehre,  mit  eigener  Hand  den  Kuskussu  zusammenzuballen  und 
mir  in  den  Mund  zu  schieben.  Nachdem  wir  gesättigt,  wurde 
die  noch  reichlich  gefüllte  Schüssel  den  jüngeren  Mitgliedern  der 
Familie  und  den  Knechten  zugereicht.  Das  unerläßUche  Rülpsen 
wurde  von  meinen  Mitgästen  mit  großer  Fertigkeit  vollführt, 
wollte  mir  aber  gar  nicht  gelingen,  so  daß  ich  nicht  imstande 
war,  dem  Gastgeber,  den  Forderungen  arabischer  Wohlerzogen- 
heit entsprechend,  auszudrücken,  daß  ich  reichlich  und  gut  ge- 
gessen habe.  Dann  erschien  Kaffee.  Bald  darauf  verabschie- 
deten sich  die  Gäste,  der  Hausherr  zog  sich  in  die  Frauenabteilung 
des  Zeltes  zurück,  in  welcher  nun  auch  der  Webstuhl  verstummte. 
Denn  auch  die  Frauen  der  Zeltaraber  weben  Teppiche  und  an- 
dere Wollenstoffe.  Es  stand  mir  jetzt  frei,  mich  zur  Ruhe  aus- 
zustrecken. Mein  Kautschukmantel  diente  zur  IsoHerung  vom 
Boden,  in  meine  große  Wollendecke  hüllte  ich  mich,  mit  dem 
großen  Reisemantel  deckte  ich  mich  zu.  Neben  mir  lag  mein 
Führer  und  die  übrigen  männlichen  Mitglieder  des  Haushalts. 
An  Schlafen  war  trotz  großer  Müdigkeit  lange  nicht  zu  denken, 
denn  wenn  die  Herdentiere  mit  Einbruch  der  Nacht  auch  stiller 
geworden  waren,  so  riefen  doch  die  zahlreichen  Lämmer  und 
Zicklein,  die  man  zum  Schutz  gegen  die  Kälte  in  der  Frauen- 
abteilung der  Zelte  untergebracht  hatte,  die  ganze  Nacht  nach 
den  Müttern,  die  ihrerseits  antworteten,  hier  und  da  ließ  ein 
Esel  seine  Stimme  hören  und  das  unerträgliche  Gebell  der 
Hunde  verstummte  die  ganze  Nacht  hindurch  keinen  Augenblick. 
Nachdem  ich  endlich  ein  wenig  eingeschlummert,  erwachte  ich 
bald  wieder  von  Frost  und  Fieber  geschüttelt,  den  Bart  voll 
Wasser,  da  ich  unter  dem  freilich  vorn  offenen  Zelte  es  für  un- 
nötig erachtet  hatte,  den  Kopf  zu  verhüllen.  An  Schlaf  war  nicht 
mehr  zu  denken  und  mit  Freude  begrüßte  ich  das  Grauen  des 
Tages,  das  Thermometer  stand  im  Zelt  auf  Null,  dicker  Nebel 
lagerte  über  dem  ganzen  Hochbecken!  Am  i.  April  unter 
35  Grad  n.  Br.  So  hatte  ich  Gelegenheit,  das  Klima  dieser 
Hochsteppen  aus  eigener  Erfahrung  kennen  zu  lernen.  Einen 
Augenblick  schwankte  ich  in  der  Befürchtung,  von  Malaria  be- 
fallen zu  sein,  ob  ich  umkehren  sollte,  wo  ich  eine  Tagereise 
entfernt   einen    französischen   Arzt   gefunden   hätte,    oder    ob    ich 


—     3IO     — 

vorwärts  gehen  sollte,  wo  noch  mehrere  gleich  anstrengende  Tage- 
märsche meiner  harrten.  Ich  entschloß  mich  zu  letzterm.  Nach- 
dem ich  mir  Milch  gekocht  und  möglichst  heiß  getrunken  hatte, 
stieg  ich  zu  Pferde  und  trabte  ohne  Aufenthalt  ^'^/^  Stunde  lang 
bis  zu  der  warmen  Quelle  von  Ain  el  Hammam  auf  der  Paßhöhe 
zwischen  dem  Hochbecken  von  Fussana  und  dem  loo  m  tiefer 
gelegenen  Becken  von  Kasserin  (Colonia  Scillitana),  am  Nord- 
fuße des  Kreidekalkdoms  des  Dj.  Chambi,  1544  m  Höhe,  des 
höchsten  Berges  von  Tunesien.  Dort  wurde  gerastet.  Es  war 
ein  herrliches  Plätzchen.  Vortreffliches,  wenn  auch  30*'  C  war- 
mes Wasser  sprudelte  aus  dem  Felsen  hervor  und  tränkte  ein 
Oleanderdickicht,  dem  sich  einige  junge,  den  Kernen  der  von 
dort  Rastenden  verspeisten  Datteln  entsprungene  Dattelpalmen 
zugesellt  haben.  Der  Blick  schweift  weithin  über  das  Becken 
von  Kasserin,  von  wo  der  neu  errichtete  Bordsch,  mitten  in  den 
Ruinen  der  alten  Stadt,  wie  ein  weißer  Punkt  herüberleuchtete. 
Sonst  ringsum  öde,  pflanzenlose  Felsen.  Das  Fieber  war  offen- 
bar nur  eine  vorübergehende  Folge  der  Übermüdung  gewesen 
und  die  Kälte  hatte  mir  nicht  einmal  einen  Schnupfen  hinter- 
lassen. Zunächst  galt  es,  den  äußeren  Menschen  in  dem  warmen 
Quell  zu  säubern,  was  auf  dieser  Reise  immer  nur  möglich  war, 
wenn  ich  Wasser  traf.  So  hielten  es,  wie  ich  mich  oft  über- 
zeugen konnte,  auch  die  Eingeborenen.  Dann  wurde  den  von 
Tebessa  mitgeführten  Vorräten,  so  trocken  sie  waren,  mit  gutem 
Appetit  zugesprochen.  Dann  wieder  zu  Pferde.  Nach  weiteren 
drei  Stunden  fand  ich  gastliche  Aufnahme  im  Bordsch  von  Kas- 
serin bei  dem  reichen,  fein  gebildeten  und  überaus  liebenswür- 
digen Kaid  Sadok  Ben  Tlili.  Dieser  Bordsch  war  vor  wenigen 
Jahren  erst  erbaut  und  so  eben  vom  Kaid  durch  italienische 
Maurer,  von  denen  noch  ein  einziger,  der  sich  in  seiner  Verein- 
samung eifrig  mit  der  Absintflasche  tröstete,  anwesend  und  mit 
dem  frischen  Kalkanstrich  des  ganzen  Bauwerks  beschäftigt  war, 
vergrößert  und  ausgebessert  worden.  Als  Herr  v.  Maltzan  1868 
hier  durchkam,  bestand  er  noch  nicht.  Wie  alle  diese  an  wich- 
tigen Punkten  der  Karawanenstraßen  Tunesiens  errichteten  Bau- 
werke, die  man  am  besten  als  befestigte  Karawanserais  be- 
zeichnen kann,  in  Südtunesien  meist  auf  30  —  50  km  in  der 
Runde  die  einzigen  festen  Menschenwohnungen,  besteht  derselbe 
aus    einem    3 — 4  m   hohen,  von    außen    nur    durch    ein    Tor    zu- 


—     311     — 

gänglichen  Mauerviereck,  an  welches  im  Innern  nur  von  dem  so 
umschlossenen  inneren  Hofe  durch  Türen ,  die  zugleich  al 
Fenster  dienen,  zugängliche,  den  ganzen  Hof  umgebende  eben- 
erdige Räume  angebaut  sind,  die  mit  flachen  Kuppeldächern  ver- 
sehen teils  zum  Wohnen,  teils  für  Vorräte  usw.  dienen.  Doch 
findet  man  häufig  einzelne  Räume,  die  nur  nach  außen  einen 
Eingang  haben  und  mit  dem  inneren  Hofe  des  Bordsch  ohne 
Verbindung  sind.  Das  äußere,  meist  unverschließbare  Tor  führt 
zunächst  in  eine  Art  Halle  mit  ringsum  laufenden  breiten  ge- 
mauerten Bänken,  auf  welchen  Matten  oder  Teppiche  gebreitet 
werden.  Erst  durch  ein  beständig  geschlossenes  inneres  Tor  ge- 
langt man  in  das  Innere  des  Bordsch,  das  nur  den  FamiUengliedem 
und  sonst  Näherstehenden  zugänglich  ist.  Jene  Vorhalle  dient 
als  Versammlungsort  für  die  Männer  der  ganzen  Umgebung  und 
wird  am  Tage  fast  nie  leer. 

Die  Männer  der  nomadischen  Araberstämme  —  in  Algier 
gilt  dies  aber  auch  von  den  seßhaften  Arabern,  wenigstens  außer- 
halb der  Städte,  mehr  oder  weniger  aber  auch  von  den  Männern 
der  ganzen  mohammedanischen  Welt  —  arbeiten  ja  sehr  wenig, 
alle  Arbeit,  der  Haushalt,  das  Weben  der  Kleidungsstoffe  usw. 
fällt  den  Frauen  zu,  die  bei  den  Zeltarabem  kaum  anders  als 
als  Lasttiere  dienen  und  infolgedessen  früh  verblühen.  Nur  das 
Weiden  der  Herden,  das  sehr  entbehrungsreich,  aber  nicht  an- 
strengend ist,  fällt  Männern,  aber  meist  den  jüngeren  Familien- 
gliedern oder  Knechten  zu.  Die  Mehrzahl  der  Männer  ergibt 
sich  jahraus  jahrein  mit  vereinten  Kräften  dem  Nichtstun,  vom 
Morgen  bis  zum  Abend  sitzen  sie  in  der  Vorhalle  eines  Vor- 
nehmen, in  oder  vor  dem  Zelt  oder  der  Hütte,  im  Kaifeehaus, 
wenn  ein  solches  vorhanden  ist,  oder  auch  an  einem  beliebigen, 
je  nach  der  Jahreszeit  sonnigen  oder  schattigen  Platze  beisam- 
men, bald  lebhaft  plaudernd,  bald  stundenlang  schweigend  und 
höchstens  Zigaretten  rauchend.  Ihre  Leistungsfähigkeit  in  diesem 
untätigen  Dahocken  ist  staunenswert,  in  Algerien  größer  als  in 
Tunesien.  Nach  meinen  Beobachtungen  ist  das  Nichtstun  der 
Männer  im  türkischen  Orient,  soviel  darüber  geschrieben  worden 
ist,  nicht  entfernt  mit  der  Vollkommenheit  zu  vergleichen,  die 
der  Westen  in  dieser  Kunst  erreicht  hat.  Ich  habe  Beispiele 
beobachtet,  wo  eine  Gruppe  von  4 — 5  Arabern  im  besten  Mannes- 
alter,   anscheinend    keineswegs    begütert,    vor    einem    zerlumpten 


—       312       — 

Zelte  oder  einem  Gurbi  (Reisighütte)  saßen,  und  wenn  ich  nach 
vier,  fünf  oder  noch  mehr  Stunden  wieder  zurückkam,  sich  noch 
genau  an  derselben  Stelle  befanden.  Es  erklären  sich,  wie  nicht 
näher  erörtert  zu  werden  braucht,  die  wirtschaftlichen  Verhält- 
nisse dieser  Länder  aus  diesen  Lebensgewohnheiten  zum  großen 
Teil,  dieselben  sind  aber  meines  Erachtens  außer  auf  die  herr- 
schende Religionsform  und  die  Stellung  der  Frau  vor  allen 
Dingen  auf  geographische  Ursachen  zurückzuführen.  Die  Landes- 
natur, vor  allem  das  Klima,  macht  die  von  den  Arabern,  die 
dem  Islam  seinen  Charakter  aufgeprägt  haben,  bewohnten  Länder 
zu  Weideländern,  bzw.  die  nomadischen  Araber  haben  früheres 
Kulturland,  wie  hier  in  Tunesien,  künstlich  durch  Vernichtung 
aller  Bäume  und  aller  Bodenkultur  in  Weideland  verwandelt. 
Das  Weiden  der  Herden  und  die  Sorge  für  dieselben  erfordert 
aber  wenig  Arbeit,  beschäftigt  nur  wenige,  für  die  Mehrzahl  der 
Männer  gibt  es  also  tatsächlich  nichts  zu  tun.  Selbst  in  den 
Gegenden,  in  welchen  noch  Ackerbau  möglich  ist  und  in  welchen 
sich  Araber  oder  arabisches  Wesen  behauptet  haben,  wie  im  Teil 
der  Atlasländer,  vermag  auch  der  Ackerbau  jene  Eigentümlich- 
keit nicht  zu  beseitigen,  denn  derselbe  ist  weit  weniger  mannig- 
faltig als  in  Mitteleuropa  z.  B.  und  zwingt  auch  nur  zweimal  im 
Jahre  zur  Arbeit,  bei  der  Aussaat  nach  Beginn  der  Winterregen, 
meist  im  November,  und  bei  der  Ernte  nach  dem  Aufhören  der 
Winterregen,  gegen  Ende  Mai  oder  Anfang  Juni.  Und  was  würde 
ein  deutscher  Landwirt  zu  dieser  Bestellung  der  Felder  sagen! 
Künstliche  Bewässerung,  also  Gartenbau,  der  allerdings  zur  Ar- 
beit erzieht  und  allein  völlige  Seßhaftigkeit  bedingt,  war  in  der 
Urheimat  arabischen  Wesens  nur  in  Jemen  wichtig;  was  die  Araber 
in  dieser  Hinsicht  in  Spanien  und  Sizilien  geleistet  haben,  möchte 
ich  wesentlich  auf  berberische  Einflüsse  zurückführen.  Noch  heute 
sind  die  Berbern,  da  wo  sie  sich  ihren  alten  Volkscharakter  zu 
bewahren  vermocht  haben,  ausgezeichnete  Gartenbauer,  sie  allein 
vermehren  sich  bedeutend  und  vermochten  so  die  für  jene  Vor- 
gänge nötigen  Menschenmengen  zu  liefern.  Die  Berbern  sehen 
wir  heute  sich  europäischer  Kultur  in  Algerien  nähern,  die 
Araber  haben  dort  bis  heute  wie  anderes,  so  vor  allem  das  Ar- 
beiten von  den  europäischen  Kolonisten  nicht  gelernt.  Wenig- 
stens ist  schwer  verständlich,  wie  die  Masse  der  Männer  noch 
weniger  hat   tun  können   wie  heute. 


—     3^3      — 

Mein  Aufenthalt  im  Bordsch  von  Kasserin  wurde  leider 
durch  einen  betrübenden,  aber  in  mehrfacher  Hinsicht  lehrreichen 
Zwischenfall  gestört.  Am  Abend  wurde  mir  vom  Kaid  ein  glän- 
zendes, aus  Suppe,  drei  Gerichten  mit  Fleisch,  alles  scharf  mit 
spanischem  Pfeffer  gewürzt,  und  mannigfaltigem  Nachtisch  be- 
stehendes !Mahl  geboten,  an  welchem  nur  ein  Bruder  und  mein 
Führer  teilnahmen;  dann  ging  alles  zur  Ruhe.  Ich  schlief  in 
dem  trefflichen  Himmelbette  bald  ein,  wurde  aber  des  Morgens 
gegen  3  Uhr  wach  infolge  eines  eigentümlichen  Geschreies,  das 
mir  von  außerhalb  des  Bordsch  zu  kommen  schien  und  das  mir 
den  Eindruck  machte,  als  werde  vor  dem  Bordsch  Markt  ge- 
halten. Daß  es  noch  Nacht  war,  konnte  ich  nicht  wissen,  denn 
bei  geschlossener  Tür  war  es  auch  am  Tage  in  dem  Räume 
finster.  Nach  einiger  Zeit  wurde  aber  von  außen  heftig  an  die 
Tür  geklopft  und  mein  Führer,  der  nun  endlich  auch  erwachte, 
so  wie  ein  jüngeres  Familienglied ,  das  ebenfalls  hier  seine 
Schlafstätte  hatte,  gerufen.  So  erfuhr  ich,  daß  das  Geschrei  von 
dem  Wehklagen  der  Weiber  herrühre  und  daß  der  Kaid  mit 
seiner  ganzen  Familie  dem  Tode  durch  Ersticken  nahe  gewesen 
und  schwer  krank  sei  und  man  mich  um  meinen  ärztlichen  Bei- 
stand bitte.  Daß  in  Afrika  jeder  Europäer  mehr  oder  weniger 
für  einen  Arzt  gehalten  wird,  ist  ja  bekannt,  selbst  in  Tunesien 
bin  ich  nicht  weniger  als  dreimal  um  ärztlichen  Beistand  ange- 
gangen worden.  Hier  lag  noch  ein  gewisser  Anhalt  vor,  indem 
ich  meinem  Führer,  der  sich  als  Stadtaraber  in  der  kalten  Nacht 
unter  dem  Zelte  eine  starke  Erkältung  zugezogen  hatte,  aus 
meiner  kleinen  Reiseapotheke  ein  schweißtreibendes  und  auch 
erfolgreiches  Mittel  gegeben  hatte.  Obwohl  ich  natürlich  jedes 
Eingreifen  ablehnen  mußte,  wurde  ich  doch  zum  Kaid  geführt, 
trotz  der  Anwesenheit  der  Frauen  und  Kinder,  welche  letztere 
namentlich  schwer  litten.  Doch  konnte  ich  mich  überzeugen, 
daß  ein  tödlicher  Ausgang  nicht  zu  fürchten  sei,  namentlich  da 
bald  Erbrechen  eintrat.  Indes  entsprach  ich  gern  der  Bitte,  einen 
Brief  an  den  Arzt  des  kleinen  französischen  Lagers  von  Feriana, 
das  35  km  entfernt  war,  zu  schreiben  und  denselben  um  Bei- 
stand anzugehen.  Ein  Bote  sprengte  eiligst  mit  dem  Briefe  da- 
von und  ich  erfuhr  am  andern  Tage,  als  ich  selbst  nach  Feriana 
kam,  daß  der  Arzt  zwar  selbst  am  Malariafieber  darniederliege, 
aber  doch  die  entsprechenden  Mittel  dem  Boten  mitgegeben  habe. 


—     314     — 

Von  einer  Karawane,  die  ich  traf  und  die  nach  mir  von  Kasserin 
aufgebrochen  war,  erfuhr  ich  noch,  daß  bald  Besserung  eingetreten 
war.  Der  Unfall  war  dadurch  veranlaßt  worden,  daß  der  Kaid 
im  Harem  ein  Kohlenbecken  bei  verschlossenen  Türen  aufgestellt 
hatte,  um  die  durch  den  Neubau  und  Neuanstrich  verursachte 
Feuchtigkeit  zu  bannen,  ohne  als  bisheriger  Zeltbewohner  sich 
der  möglichen  Gefahr  bewußt  zu  werden.  Zum  Glück  war  der- 
selbe erwacht,  ehe  es  zu  spät  war.  Rührend  war  die  Anhäng- 
lichkeit der  Umgebung  an  die  Familie  und  die  Fürsorge  für  den 
Gast,  die  trotz  der  allgemeinen,  sich  in  den  äußersten  Befürch- 
tungen ergehenden  Bestürzung  keinen  Augenblick  außer  acht  ge- 
lassen wurde,  ganz  eines  vornehmen  Hauses  würdig.  Als  ich  am 
andern  Morgen  abreisen  mußte,  wollte  mich  der  Kaid  noch  ein- 
mal sehen,  und  ich  konnte  mich  mit  wärmstem  Dank  und  zu- 
versichtlichen Trostesworten  verabschieden.  Von  abergläubischem 
Mißtrauen,  daß  der  Fremde,  der  Christ,  den  Unfall  verursacht 
und  Unglück  ins  Haus  gebracht  habe,  was  ich  anfangs  befürchtet 
hatte,  war  keine  Spur  zu  entdecken.  Wäre  dies  wohl  in  ge- 
wissen Gegenden  Süditaliens  oder  Spaniens  ebenso  gewesen? 
Der  Bordsch  von  Kasserin,  neben  welchem  sich  beständig 
auch  einige  Zelte  finden,  steht  mitten  in  den  ausgedehnten 
Ruinen  der  römischen  Kolonie  Scillitana,  das  jedenfalls  eine  be- 
deutende Stadt  gewesen  sein  muß.  Noch  steht  ein  Triumph- 
bogen und  ein  drei  Stockwerke  hohes  prächtiges  Grabmal  eines 
Flavius  Secundus  und  seiner  Frau  aufrecht,  die  beide  iio  bzw. 
105  Jahre  alt  geworden  sind.  Wie  hier  so  ist  auch  sonst  er- 
staunliche Langlebigkeit  der  Bewohner  des  östlichen,  heute  keines- 
wegs besonders  gesunden  Atlashochlandes  in  römischer  Zeit  aus 
zahlreichen  Grabinschriften  bezeugt.  Nach  1 2 1  Grabinschriften 
der  kleinen  Colonia  Celtianensium  in  der  Provinz  Constantine, 
die  untersucht  worden  sind,  ergibt  sich  das  Alter  von  67  Ver- 
storbenen zu  über  50,  von  27  zu  über  70  und  von  10  zu 
über  100  Jahren;  an  einem  andern  Punkte  gaben  von  94  Grab- 
steinen 2 1  ein  Alter  von  mehr  als  70,  1 8  von  mehr  als  80  und 
6  von  mehr  als  100  Jahren  an.  Mindestens  ebensogroß  wie 
Colonia  Scillitana  waren  nach  den  Ruinen  zu  schließen  Sbeitla 
(Suffetula)  und  Feriana  (Thelepte),  das  eine  35  km  nordöstlich, 
das  andere  ebensoweit  südlich.  Auch  sonst  sind  römische  Ruinen 
in  dieser  Gegend  außerordentlich  häufig,  ja,   dieselbe  ist  förmlich 


—     315     — 

mit  solchen  übersäet,  während  heute  sich  dort  fast  nur  Zeltlager 
finden.  Hat  doch  neuerdings  eine  Zählung  festgestellt,  daß  jetzt 
in  ganz  Tunesien  neben  8 1  ooo  bewohnten  Zelten  nur  5  i  000  be- 
wohnte Häuser  vorhanden  sind.  In  bezug  auf  die  vielerörterte 
Frage,  ob  der  blühende  Zustand  des  Landes  in  römischer  Zeit  durch 
günstigere  klimatische  Verhältnisse  ermöglicht  wurde,  habe  ich  mir 
die  Anschauung  gebildet,  daß  die  etwa  eingetretene  Änderung  nicht 
besonders  tief  einschneidend  ist,  sie  kann  sehr  wohl  durch  Ver- 
wüstung der  Wälder,  deren  Südtunesien  nur  nahe  der  Grenze  von 
Algerien  noch  einige,  aber  in  verwüstetem  Zusande  besitzt,  sowie 
durch  fortgeschrittene  natürliche  Entwässerung  von  Sümpfen  und 
Seen  bewirkt  worden  sein.  Jedenfalls  ist  wie  ganz  Tunesien  so  auch 
noch  dieser  südliche,  schon  am  Rande  der  Wüste  gelegene  Teil 
ein  reich  ausgestattetes  Land.  Die  Fruchtbarkeit  des  Bodens  ist 
wegen  bedeutenden  Phosphatgehaltes  eine  ganz  erstaunliche;  so- 
weit die  Flüsse  in  den  ehemaligen  Seebecken  ihren  Lauf  ein- 
geschnitten haben,  sind  Schichten  von  Lehm  bis  sechs  und  mehr 
Meter  Mächtigkeit  erschlossen.  Es  bedarf  nur  des  Wassers,  um 
hier  die  reichsten  Ernten  hervorzurufen.  Und  das  wäre  auch 
heute  noch  so  reichlich  vorhanden,  daß  weite  Strecken,  wenn 
auch  gewiß  nicht  so  weit  wie  in  römischer  Zeit,  in  Anbau  ge- 
nommen werden  könnten.  Bis  zum  35.  Parallel  regnet  es  noch 
heute  in  den  meisten  Wintern  genug,  um  auch  ohne  künstliche 
Bewässerung  dem  Boden  reiche  Ernten  von  Weizen  und  Gerste 
ohne  Düngung  und  bei  schlechter  Bestellung  abzugewinnen.  Im 
Hochbecken  von  Fussana,  das  vom  Wed  Hathob,  der  hier  auch 
im  Sommer,  freilich  in  tief  eingeschnittenem  Bett,  Wasser  führt, 
durchflössen  wird,  bin  ich  stundenlang  durch  die  üppigsten 
Weizen-  und  Gerstenfelder  geritten,  die  am  i.  April  schon  fast 
Yj  m  hoch  waren  und  Ähren  bekamen.  Auch  im  Becken  von 
Kasserin  finden  sich  noch  solche.  Auch  große  Opuntienfelder 
fehlen  hier  nicht;  ihre  Früchte  sind  eine  Lieblingsnahrung  der 
Araber.  Dennoch  hatten  hier  schon  die  Römer  künstliche  Stau- 
werke angelegt,  von  denen  noch  Spuren  vorhanden  sind,  um 
das  Wasser  des  nie  versiegenden  Wed  Kasserin,  der  sich  wenig 
unterhalb  in  dem  Becken  von  Kasserin  mit  dem  Hathob  ver- 
einigt, aufzuspeichern  und  auch  im  Sommer  größere  Flächen 
bewässern  zu  können,  wie  dies  schon  das  Vorhandensein  einer 
so    großen    Stadt    zu    schließen    zwänge.     Doch    stand    derselben 


—     3i6     — 

außerdem  eine  herrliche,  dicht  unter  dem  Bordsch  aus  dem 
Felsen  hervorbrechende  Quelle  zur  Verfügung.  Hier  endet  aber 
jetzt  das  nur  mit  Hilfe  der  Winterregen  angebaute  Land;  Feriana, 
obwohl  auch  noch  in  8oo  m  Höhe  gelegen,  ist  schon  vollständig 
Oase,  der  Boden  ist  dort  nur  so  weit  angebaut,  als  das  Wasser 
einer  starken  Quelle  reicht.  Schon  der  Name,  welcher  Bewässe- 
rungsrinne bedeutet,  läßt  das  erkennen,  dem  vom  Norden  Kom- 
menden war  in  der  Tat  Feriana  die  erste  Berieselungsoase.  Das 
alte  Thelepte  lag  um  diese  Quelle  herum,  auf  nicht  bewässertem 
Boden.  Die  über  die  Hochebene  nördlich  davon  in  erstaunlicher 
Fülle  zerstreuten  römischen  Ruinen  lassen  aber  gar  keinen  Zweifel 
aufkommen,  daß  dieselbe  in  jener  Zeit  angebaut  war.  Die  For- 
schungen von  Bourde  haben  seitdem  wahrscheinlich  gemacht,  daß 
dieser  blühende  Zustand  des  Landes  in  den  ersten  Jahrhunderten 
der  christlichen  Zeitrechnung  im  wesentlichen  auf  Baum-,  be- 
sonders Olivenzucht  beruhte.  Die  seitdem  unter  Gaucklers  Lei- 
tung sorgsam  erforschten  Anlagen  zum  Sammeln  und  Aufspeichern 
allen  Wassers  zeigen,  daß  das  schon  damals  nötig  war.  Heute 
ist  hier  nur  Weideland,  einzelne  Felder  findet  man  noch  an  ein- 
zelnen besonders  günstigen  Stellen,  aber  sie  standen  auch  nach 
einem  so  regnerischen  Winter,  wie  der  vergangene  auch  hier 
gewesen  war,  dürftig  genug,  und  ich  möchte  es  für  geradezu 
unmöglich  erklären,  daß  diese  Gegend  heute  wieder  so  angebaut 
und  so  dicht  bewohnt  werden  kann  wie  in  römischer  Zeit.  Am 
deutlichsten  prägt  sich  aber  die  Unmöglichkeit,  heute  hier  irgend- 
wie ins  Gewicht  fallenden  Ackerbau  zu  treiben,  darin  aus,  daß 
die  Nachfolgerin  von  Thelepte,  Feriana,  3  km  weiter  südlich 
liegt,  dort  wo  der  von  der  Quelle  gebildete  Bach  aus  den  Bergen 
in  die  Ebene  tritt,  es  also  möglich  war,  eine  größere  Fläche  zu 
bewässern.  Feriana  liegt  daher  ganz  wie  die  Ortschaften  der 
Wüste  am  Rande  seiner  Oase,  in  welcher  freilich  der  Meereshöhe 
wegen  die  Dattelpalme  ihre  Früchte  nicht  mehr  reift  und  nur 
durch  einen  einzigen  hohen  Stamm  vertreten  ist.  Um  so  üppiger 
aber  gedeihen  Weizen-,  Gersten-  und  Gemüsefelder,  beschattende 
Feigen-,  Granaten-,  Mandel-  und  Ölbäume;  ein  Saum  von  Weizen- 
feldern, die  nur  im  Winter,  wo  Wasser  reichlicher  vorhanden  ist, 
bewässert  werden,  umgibt  auch  diese  Oase.  Die  niedern,  meist 
aus  Lehm  errichteten  Häuser  des  600  Einwohner  zählenden 
Dorfes   haben   ganz    die   Bauart   der  Oasenstädte   und   lassen    er- 


—     317     — 

kennen,  daß  es  hier  sehr  wenig  regnet.  Die  Franzosen  haben 
auch  hier,  verständigerweise  oberhalb  des  Dorfes,  ein  kleines 
Lager,  aus  kleinen  steinernen  Kasernen  bestehend  und  von  einem 
niedem  Wall  und  Graben  umgeben,  errichtet  und  den  Bach 
durch  dasselbe  geleitet,  so  daß  sie  jeden  Augenblick  der  Oase 
das  Wasser  abschneiden  können.  Auch  haben  sie,  was  aller- 
dings unerläßlich  war,  um  die  Truppen  mit  Gemüse  u.  dgl.  zu 
versehen,  neben  dem  Lager  eine  ziemlich  bedeutende  Fläche 
unter  Anbau  und  Bewässerung  genommen.  Um  so  knapper 
dürfte  nun  freilich  der  Wasservorrat  für  die  Oase  werden.  Da- 
neben haben  aber  die  Franzosen  doch  für  nötig  erachtet,  auf  einem 
Hügel  dicht  neben  dem  Lager  eine  Zisterne  einzurichten.  Die 
kleine  Nachbaroase  von  El  Kis  wird  ebenfalls  von  einer  dorthin 
geleiteten  Quelle  bewässert,  deren  Wasser  jedoch  brackig  ist.  Sie 
bildet  einen  dichten  Olivenhain.  Feriana  liegt  tatsächlich  am  Rande 
der  Wüste,  weiter  südwärts  werden  auch  die  römischen  Ruinen  weit 
seltener  und  dürftiger.  Doch  sind  noch  heute  Reste  einer  römischen 
Straße,  welche  Thelepte  mit  Capsa  (Gafsa)  verband,  vorhanden. 
Die  Entfernung  von  Feriana  nach  Gafsa  beträgt  68  km  und 
man  muß  dieselbe  in  einem  Tage  zurücklegen,  da  unterwegs  nur 
der  schon  erwähnte  eine  Brunnen  von  Henchir-Sidi-Aisch  vor- 
handen ist.  Ein  zweiter,  Bir  Medkides,  liegt  nur  i6  km  davon, 
ist  aber  50  m  tief  und  daher  schwer  benutzbar.  Der  Weg  führt 
zunächst,  nachdem  man  die  langgestreckte  Oase  verlassen,  durch 
eine  weite,  von  niedem  Bergen  umwallte  wagerechte,  sandige 
Hochebene,  die  wohl  auch  ein  ehemaliges  Seebecken  sein  dürfte, 
aber  nur  mit  vereinzelten  Büschen,  niederm  Gestrüpp,  namentlich 
Rtem  (Retama  monosperma)  und  Passerina  hirsuta,  auf  weite 
Strecken  auch  mit  Haifa  bedeckt  ist.  Schih  (Artemisia  herba 
alba),  das  auf  dem  Hochlande  eine  so  große  Rolle  spielt  und 
weite  Strecken  fast  ausschließlich  bedeckt,  dieselben  unter  den 
Strahlen  der  Sonne  in  würzigen  Duft  hüllend,  kommt  hier  seltener 
vor.  Die  Kamele  fressen  es  gern.  Am  untern  Ende  der  Ebene, 
wo  sich  ein  paar  Wasserlöcher  finden,  hat  der  Wed  Feriana  in 
wasserreichem  Tagen  die  sanft  gefalteten  Kalksteinschichten  (wohl 
der  Kreideformation)  eines  niedem  SW — NO  streichenden  Höhen- 
rückens, den  Dschebel  Ogeff,  durchbrochen  und  das  50  m  breite, 
von  tiefem  Sande  gefüllte  Bett  des  stets  trockenen  Flusses  bildet 
den  Weg  durch  diesen  Engpaß,  den  Kränget  Ogeff.     In  kurzem 


—     3i8     - 

weitet  sich  das  Tal,  der  Weg  folgt  dem  Ufer  des  Wed.  dessen 
Bett  und  Ufer  etwas  reichlicher  mit  Rtem,  Tamarisken  (Tamarix 
africana)  und  Sadr  (Zizyphus  lotus)  bewachsen  sind,  erstere  beiden 
die  Hauptnahrung  der  großen  hier  weidenden  Ziegen-  und  Schaf- 
herden, infolgedessen  kläglich  zugerichtet.  Die  Herden,  außer 
Ziegen  und  Schafen  kommen  hier  nur  noch  Kamele  in  Betracht, 
sind  fast  lediglich  auf  diese  niedern,  dürftig  belaubten  oder  der 
Blätter  ganz  entbehrenden  Holzgewächse  angewiesen,  die  mit 
ihren  tief  dringenden  Wurzeln  hier  noch  ihr  Dasein  zu  fristen 
imstande  sind.  Saftreichere,  frischgrüne  Pflanzen,  namentlich 
Gräser  finden  sich  nur  im  Winter  hier  und  da,  wo  der  Boden 
feuchter  ist.  Den  Sadr  rühren  aber  selbst  die  Ziegen  nicht  an, 
denn  er  ist  am  reichlichsten  unter  diesen  meist  dornigen  Steppen- 
pflanzen bewehrt,  seine  kleinen  zarten  Triebe,  die  hier  sich  eben 
erst  zu  Anfang  April  zu  entwickeln  begannen,  sind  gut  "mit  Dor- 
nen besetzt  und  noch  weiter  durch  die  meist  abgestorbenen  vor- 
jährigen, stark  bedornten  Triebe  geschützt.  Die  elliptischen  Blätt- 
chen erreichen  nur  eine  Breite  von  5  und  eine  Länge  von  8  mm. 
So  vermag  dieses  Holzgewächs  allein  hier  und  da  die  Höhe  eines 
Baumes  zu  erreichen.  Meist  bildet  es  jedoch  niedere,  aber  un- 
durchdringliche Gestrüppe,  die  sich  regelmäßig  auf  einem  Hügel 
erheben,  der  seine  Entstehung  meist  dem  um  die  Sadrbüsche 
aufgehäuften  Sande  (sog.  Neulinge),  zuweilen  aber  auch  dem  Um- 
stände verdankt,  daß  die  Wurzeln  den  Boden  festhielten  und 
sich  so  bei  fortschreitender  Verwitterung  und  Davonführung  der 
abgelösten  Stoff'e  durch  den  Wind  allmählich  ein  Hügel  (sog. 
Zeugen)  herausmodellierte.  In  weniger  öden  Gegenden  sind  diese 
Hügel  dann  häufig  der  geschützte  Wohnsitz  der  Djerboaratte  und 
von  deren  Löchern  siebartig  durchbohrt.  Dieser  Nager,  hier  an 
den  Grenzen  der  großen  Wüste  seltener,  tritt  in  den  Steppen 
des  ganzen  südöstlichen  Tunesiens  massenhaft  auf  und  man  muß 
häufig  Umwege  machen,  damit  das  Pferd  nicht  in  den  völlig 
unterhöhlten  Boden  einbricht  und  Schaden  leidet.  Mit  seiner 
reichen  Bedornung  und  dürftigen  Belaubung  veranschaulicht  der 
Sadr,  in  welchem  wir  noch  einen  der  üppigsten  Vertreter  der 
Pflanzenwelt  zu  sehen  haben,  der  an  Stellen  gebunden  ist,  wo 
noch  im  Boden  sich  etwas  Feuchtigkeit  findet,  so  recht  die  außer- 
ordentliche Ungunst  eines  trocknen  Klimas,  mit  welchem  hier  die 
Pflanzenwelt  zu  kämpfen  hat. 


—     319     — 

Gruppen  verwilderter  Ölbäume,  die  sich  noch  an  der  Ein- 
mündung des  Wed  Bugena  und  des  Wed  Erseuf  in  den  Wed 
Feriana  in  der  Nähe  einiger  Ruinen  aus  römischer  Zeit  erhalten 
haben,  bezeugen  aber,  daß  doch  auch  hier  im  Altertum  feste 
Ansiedelungen  sich  fanden.  Auch  Wild,  flüchtige  Gazellen,  die 
sich  in  größerer  Entfernung  zeigen,  namentlich  aber  Rebhühner, 
die  hier  so  gut  wie  gar  nicht  gejagt  werden,  sind  nicht  selten. 
Durch  einen  Engpaß  zwischen  dem  Dschebel  Nadur  und  dem 
Dschebel  Sidi  Aisch  hindurch  hat  sich  der  Fluß  einen  Weg  in 
eine  weite,  sich  sanft  nach  Süden  abdachende  Hochebene  ge- 
bahnt, an  deren  oberm  Ende  die  schon  oben  erwähnten  Brunnen 
von  Henchir-Sidi-Aisch  am  Fuße  des  nahen  Gebirges  liegen. 
Fast  I  km  breit  ist  hier  das  Flußbett  und  mit  tiefem  Sande 
gefüllt,  während  die  Hochebene  in  ihren  nördlichen  Teilen  als 
Hammada  auftritt,  als  Steinwüste,  deren  Oberfläche  mit  lauter 
eckigen,  bis  faustgroßen  Steinen  bedeckt  ist,  als  sei  man  im  Be- 
griff", sie  zu  makadamisieren.  Der  südliche  Teil  der  Hochebene 
von  Sidi  Aisch  ist  sandig  und  im  Südosten  befindet  sich  eine 
ausgedehnte  Dünenregion.  Der  Wasserbedarf  des  Körpers  zum 
Ersatz  des  Verdunstungsverlustes  ist  schon  hier  am  Nordrande 
der  Wüste  und  in  dieser  Jahreszeit  ein  sehr  bedeutender,  ich  habe 
manchen  Tag  drei  bis  vier,  vielleicht  auch  mehr  Liter  getrunken, 
während  ich  in  Deutschland  zuweilen  während  eines  halben  Jahres 
kein  Wasser  trinke.  Fast  täglich  kamen  auch  arabische  Hirten, 
die  uns  vorüberreiten  sahen,  heran  und  baten  um  Wasser,  das 
ihnen  zu  verweigern  ein  schwerer  Verstoß  gewesen  wäre.  Nach- 
dem sie  sich  satt  getrunken,  füllten  sie  meist  noch,  wenn  unser 
eigner  Vorrat  es  erlaubte,  einen  kleinen,  höchstens  ein  Liter 
fassenden  Lederschlauch,   den  sie  mit  sich  führten. 

Als  die  Sonne  gegen  6  Uhr  unterging  und  die  Nacht  rasch 
hereinbrach,  war  ich,  da  ich  in  dem  bald  steinigen,  bald  tief 
sandigen  Wege  kaum  mehr  als  5  km  in  der  Stunde  zurück- 
zulegen vermochte,  noch  20  km  von  Gafsa  entfernt,  doch  kannte 
mein  Führer  den  Weg  so  ziemlich,  da  er  ihn  vor  Jahren  öfter 
gemacht  hatte.  Die  Gegend  galt  als  sicher,  doch  war  es  nicht 
gerade  erfreulich,  daß  drei  Wochen  vorher  eben  dort  ein  Araber, 
welcher  die  Post  der  französischen  Besatzung  in  Gafsa  nach 
Tebessa  beförderte,  überfallen  und  ausgeplündert  worden  war. 
Die  Nacht  war  ziemlich  hell  und  wir  verfügten  über  drei  Revolver. 


—       320      — 

Endlich  tauchte  im  Südwesten  ein  Bergrücken  auf,  es  konnte  nur 
der  Dschebel  Ben  Yunes  sein,  hinter  welchem  Gafsa  liegt,  ein 
breites,  trocknes  Flußbett,  das  wir  bald  darauf,  von  Nordwesten 
kommend,  durchschritten,  gab  mir  Gewißheit.  Und  kurze  Zeit 
nachher  erhielt  ich  die  sicherste  Botschaft,  daß  die  Oase  nahe 
sei,  der  Südostwind  trug  uns  den  mir  aus  den  Zibanoasen  der 
algerischen  Sahara,  die  ich  vierzehn  Tage  früher  besucht  hatte, 
so  wohl  bekannten,  kaum  dem  der  Apfelsinen  an  Würzigkeit 
nachstehenden  Blütenduft  der  Dattelpalmen  zu.  Auf  6  km  Ent- 
fernung! Eine  halbe  Stunde  später  hörten  wir  die  Signale  des 
auch  hier  am  Nordende  der  Oase  errichteten  französischen  Lagers 
und  um  gYg  Uhr  langte  ich  glücklich  in  Gafsa  an  und  fand  in 
der  Baracke  eines  französischen  Marketenders,  da  ich  die  Gast- 
freundschaft des  tunesischen  Kaids  nur  im  Notfalle  in  Anspruch 
zu  nehmen  wünschte,  für  teures  Geld  eine  schlechte  Unterkunft, 
aber  nach  dem  vierzehnstündigen  Ritte  die  wohlverdiente  Ruhe. 
Die  Oase  Gafsa,  mit  welcher  ich  die  eigentliche  tunesische 
Sahara  und  das  Beled  el  Djerid,  das  tunesische  Dattelland,  be- 
trat, ist  nur  selten  von  Reisenden  besucht  worden.  Der  fran- 
zösische Archäologe  Viktor  Gu6rin,  der  deutsche  Reisende 
H.  V.  Maltzan,  die  französischen  Tirant  und  Rebatel  sind  meines 
Wissens  die  einzigen  gebildeten  Europäer,  die  in  den  letzten 
Jahrzehnten  diese  Oase  besucht  haben.  ^)  Die  Lage  von  Gafsa  ist 
in  verschiedener  Hinsicht  eine  ausgezeichnete.  Es  liegt  auf  der 
Grenze  der  Wüste  und  des  noch  hier  und  da  anbaufähigen 
südtunesischen  Steppenlandes,  es  vermittelt  also  zwischen  zwei 
verschieden  ausgestatteten  Gebieten  und  muß  schon  deshalb  ein 
wichtiger  Verkehrsknoten  sein.  Es  ist  dies  aber  um  so  mehr, 
als  die  Oberflächenformen  des  Landes  außer  an  der  Meeresküste 
entlang  nur  hier  einen  bequemen  Durchgangspunkt  geschaffen 
haben.  Gafsa  liegt  nämlich  an  dem  einzigen  Tore  in  dem  West- 
ost streichenden  Gebirgsrücken,  welcher  hier  die  Hochsteppen 
Mitteltunesiens  vom  wüsten  Schottgebiet  scheidet,  dem  also  alle 
Straßen  vom  südöstlichen  Algerien  wie  von  Kairuan  und  Sfaks 
her  zustreben,  um  jenseits  wieder  radienförmig  auszustrahlen. 
Geschaffen  ist  diese  Pforte  wohl  erst  vom  Wed  Baiasch,  wie  der 


i)  Heute   ist   sie    mit    der   Eisenbahn   von    der   Küstenstadt    Sfaks    aus 
bequem    zu    erreichen    und  im  Begriff,    sich  als  Winterstation  zu  entwickeln. 


—     321     — 

unmittelbar  oberhalb  derselben  mit  dem  Wed  Kebir  vereinigte 
Wed  Feriana  hier  heißt,  der  sich  jetzt  einen  i  km  breiten  Weg 
zwischen  dem  Dschebel  Orbata  (1170  m)  und  dem  Dschebel  Bu 
Ramü  (1200  m)  gebahnt  hat. 

Man  kann  sich  allerdings  jetzt  nicht  leicht  veranschaulichen, 
daß  der  nur  nach  jahrelangen  Zwischenräumen  einmal  Wasser 
führende  Wed  eine  solche  Tätigkeit  ausgeübt  habe.  Aber  wenn 
man  den  ganzen  Südrand  des  Atlashochlands  etwas  näher  kennen 
lernt,  so  schwinden  diese  Zweifel,  denn  es  dürfte  kaum  ein  zweites 
Gebiet  mit  so  großartigen,  allerdings  zum  Teil  in  die  Pluvialzeit 
zurückreichenden  Erosionswirkungen  geben  wie  dieses.  Allent- 
halben begegnet  man  wild  zerrissenen  Schluchten,  tief  aus- 
gewaschenen Tälern,  in  Gebirgsland  umgestalteten  Hochebenen, 
zugeschütteten  Seebecken.  Der  innere  Bau  des  Landes,  die  leicht 
zerstörbaren  Gesteine,  der  stete  Wechsel  zwischen  großer,  die 
Felsen  ausdehnender  Hitze  und  rascher  Abkühlung,  die  lange 
Trockenheit,  die  den  Boden  allenthalben  aufreißen  macht  und 
dann  von  vereinzelten,  aber  um  so  heftigem  Regengüssen  gefolgt 
ist,  erklären  diesen  Vorgang  voUkonmien.  Sind  uns  ja  Fälle 
genug  von  großartiger,  erodierender  Tätigkeit  in  Jahrzehnten  nur 
einmal  gefüllter  Weds  von  guten  Beobachtern  bezeugt.  Süd- 
tunesien bietet  allenthalben  das  Bild  eines  so  vollkommenen 
Terrassenbaues  wie  nur  das  Wasser  solchen  schaffen  kann.  Das 
ganze  Land  besteht  lediglich  aus  weiten  Becken  mit  fast  wage- 
rechtem Lehm-  oder  Sandboden  jüngster  Entstehung,  die  durch 
meist  kurze,  elliptische  Bergrücken  aus  festerem  Gestein,  meist  der 
Kreideformation,  voneinander  getrennt  sind  und  die  man,  wenn 
die  Flußbetten  zu  eng  und  zu  felsig  sind,  auf  Seitenpfaden  über- 
schreiten muß,  um  von  einem  Becken  ins  andere  zu  gelangen. 
Die  heute  nur  selten  gefüllten  Flüsse  erreichen  jetzt  das  Meer 
sämtlich  nicht,  sie  enden  entweder  in  der  langgestreckten  De- 
pression der  Schotts,  die  sich  von  der  Kleinen  Syrte  bei  Gabes 
auf  400  km  landeinwärts  erstreckt,  oder  in  den  Sebchas  (flachen, 
im  Sommer  vertrocknenden  Salzbecken)  Südosttunesiens,  welche  sie 
allmählich,  jetzt  aber  jedenfalls  viel  langsamer  wie  früher  in 
Ebenen  verwandeln.  Der  seinen  Namen  wie  alle  diese  Flüsse 
oft  ändernde  Wed  Hathob  z.  B.,  dessen  Quellen  an  dem  noch 
mit  Aleppokiefern  bedeckten  (daher  der  Name  holztreibender 
Fluß)    eine    gute    Naturgrenze    zwischen    Algerien    und    Tunesien 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  21 


—       322       — 

bildenden  Dschebel  Zebissa  liegen,  durchfließt  nicht  weniger  als 
sechs  solcher  Becken  und  findet  schließlich  sein  Ende  in  dem 
bei  Kairuan  gelegenen,  die  tiefste  Stelle  der  noch  weithin  sumpfigen 
Ebene  von  Kairuan  bezeichnenden  See  Kelbia,  der  nur  mehr 
15,5  m  über  und  22  km  vom  Meere  liegt,  aber  nur  selten  Wasser 
an  dieses  abgibt. 

So  liegt  Gafsa  auch  wieder  am  obern  Ende  einer  Ebene, 
deren  nordwestlichste  wie  südöstlichste  Bucht,  die  recht  bezeich- 
nend am  weitesten  vom  Wed  Baiasch  abliegen,  noch  heute  im 
Winter  sich  mit  Wasser  füllen,  die  Garaat  el  Aglat  und  die 
Sebcha  von  El  Gettar.  Dazu  brechen  an  diesem  Engpasse,  vom 
Gebirgsbau  bedingt,  zwei  sehr  starke  31  bis  33^  C  warme  Quellen 
hervor,  zu  welchen  noch  mehrere  kalte  im  Bette  des  Flusses 
selbst  und  am  Rande  desselben,  offenbar  die  unterirdisch  fließenden 
Gewässer  des  Wed,  die  hier  durch  eine  Schwelle  festen  Gesteins 
in  die  Höhe  gedrängt  werden,  hinzukommen.  Sie  füllen  auf  eine 
Strecke  das  sonst  trockene  Flußbett.  So  mußte  sich  an  dieser 
Stelle  eine  große  Oase  als  wichtiger  Knotenpunkt  des  Verkehrs 
und  auch  strategisch  wichtiger  Punkt  entwickeln.  W^ie  der  un- 
zweifelhaft phönikische  Name  erkennen  läßt,  haben  schon  die 
Phönikier  seine  Wichtigkeit  erkannt,  später  bediente  sich  Jugurtha 
seiner  für  seine  Schätze  als  Zufluchtsstätte,  deren  Eroberung  eine 
der  Ruhmestaten  des  Marius  werden  sollte.  Allerdings  waren  die 
Schwierigkeiten,  ein  Heer  zu  Ende  des  Sommers,  der  wasser- 
ärmsten Jahreszeit,  durch  die  Wüste  vor  die  feste,  im  Innern 
reich  mit  Wasser  versehene  Oasenstadt  zu  führen,  nicht  gering. 
Bezeichnenderweise  ließ  Marius  seine  Soldaten  vom  Flusse  Tanas, 
dem  Wed  el  Abiad,  an  Stelle  des  Gepäcks  einen  möglichst 
reichen  Wasservorrat  in  Schläuchen  mitführen  und  legte  die 
letzten  drei  Tagesmärsche  bei  Nacht  zurück,  so  daß  er  vor 
Tagesanbruch  vor  Gafsa  ankommend  die  Stadt  mit  List  erobern 
konnte.  Von  Marius  zerstört,  da  die  Römer  noch  nicht  daran 
dachten,  sich  hier  festzusetzen,  ist  Gafsa  doch  naturnotwendig 
infolge  des  großartigen  Aufschwungs  des  ganzen  östlichen  Atlas- 
gebiets unter  den  Römern  wieder  zu  großer  Bedeutung  gelangt,  die 
es  nach  der  Schilderung  El  Bekris  auch  noch  in  arabischer  Zeit  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  behauptet  hat.  Noch  heute  ist  die  antike 
Fassung  der  von  den  Römern  zu  Bädern  benutzten  Quellen  erhalten, 
noch  heute  steht  inmitten  der  baufälligen  Häuser  der  heutigen  Be- 


—     323     — 

wohner  ein  römischer  Triumphbogen  und  sieht  man  überall  antike 
Werkstücke,  Säulentrommeln  und  Kapitale  vermauert.  Die  heutige 
Kasbah,  ein  höchst  malerisches,  von  Zinnenmauem  mit  Türmen 
umschlossenes  Bauwerk,  das  weite  Höfe  und  eine  der  Quellen 
umschließt,  steht  jedenfalls  auf  den  Grundmauern  der  alten  Burg, 
in  welcher  die  byzantinischen  Statthalter  von  Byzatium  zu  wohnen 
pflegten.  Auch  ist  sie  fast  ganz  aus  antiken  Werkstücken  er- 
richtet, so  daß  man  bei  ihrer  Zerstörung  gewiß  einmal  zahlreiche 
Inschriften  finden  und  neue  Aufschlüsse  über  die  Geschichte  von 
Gafsa  erlangen  wird.  Die  Bäder  werden  noch  heute  benutzt,  man 
teilt  den  Genuß  derselben  mit  großen  Mengen  kleiner  Fische,  die 
sich  sehr  behaglich  in  dem  warmen  Wasser  tummeln.  Sie  ge- 
hören zu  der  in  den  unter-  wie  oberirdischen  Gewässern  der 
Sahara  weit  verbreiteten  Gattung  Chromis.  Auch  kleine  schwarze 
Schlangen,  wohl  zur  Gattung  Tropidonotus  gehörig,  kommen  vor. 
Aus  ihnen  hat  offenbar  Sallust  die  so  furchtbaren  Schlangen  ge- 
macht, die  den  Angriff  auf  Gafsa  noch  gewagter  erscheinen 
Heßen,  wenn  anders  nicht  an  die  allenthalben  in  der  nördlichen 
Sahara  vorkommende  Hornschlange  (Cerastes  cornutus)  zu  denken 
ist,  welche  auch  heute  noch  von  den  Arabern  sehr  gefürchtet  ist. 
An  diese  starken  Quellen  ist  das  Dasein  von  Gafsa  geknüpft, 
sie  verleihen  dem  Sande  der  Wüste  Leben  und  Schäften  die  herr- 
liche Oase,  welche  den  etwa  5000  Bewohnern  vorzugsweise  Unter- 
halt gewährt.  Der  Wasserreichtum  der  Oase  von  Gafsa  ist  wunder- 
bar, ober-  und  unterirdisch  ist  es  der  Neigung  des  Bodens  folgend 
in  südlicher  Richtung  von  Gafsa  aus  in  zahllosen  Kanälen,  in 
denen  es  murmelnd  dahinschießt,  über  den  teils  sandigen,  teils 
lehmigen  Wüstenboden  ausgebreitet,  den  es  in  ein  Paradies  ver- 
wandelt hat.  Der  Flächeninhalt  der  Oase  mag  etwa  10  qkm 
betragen.  Heinrich  Barth  hat  uns  die  Oase  Gabes  in  begeisterten 
Worten  geschildert,  so  schön  sie  ist,  steht  sie  doch  weit  hinter 
Gafsa  zurück.  Was  Gafsa  auszeichnet,  sind  die  Frische,  Üppig- 
keit und  Mannigfaltigkeit  des  Pflanzenwuchses,  die  wunderbaren 
Abstufungen  in  Farbe  und  Belaubung.  Der  Charakterbaum  ist 
natürlich  die  Dattelpalme,  die  hier  tatsächlich,  wie  sie  es  nach 
dem  arabischen  Sprichwort  fordert,  ihren  Fuß  ins  Wasser  und 
ihr  Haupt  in  das  Feuer  des  Himmels  taucht  und  eine  seltene 
Höhe  und  Kraft  erreicht.  Als  Königin  beschattet  sie  mit  ihren 
langen   im  Wüstenwinde    leise    rauschenden  Wedeln   alle    andern 


—     324     — 

Gewächse.  Ihre  Früchte  erreichen  hier  unter  dem  Schutze, 
welchen  die  Gebirgskette  gegen  Norden  bietet,  obwohl  in  der 
verhältnismäßig  bedeutenden  Meereshöhe  von  345  m,  so  vorzüg- 
liche Süße  und  Wohlgeschmack,  daß  sie  zu  den  besten  des 
Dattellandes  gerechnet  werden.  Daß  Datteln  von  und  über  Gafsa 
von  allen  nordwärts  gehenden  Karawanen  als  Fracht  wie  als 
Reisekost  in  Menge  mitgeführt  werden,  davon  zeugen  die  Massen 
von  Dattelkernen,  die  ich  von  Norden  kommend  an  jedem  Quell, 
jedem  Brunnen  oder  Wasserloch  fand,  die  Reste  des  Mahles  der 
Reisenden.  Fällt  ein  solcher  weggeworfener  Kern  in  feuchten, 
guten  Boden,  so  erwächst  daraus,  wie  ich  es  am  A'in  el  Hamman 
sehen  konnte,  ein  stattlicher  Baum.  Wie  manche  Palmengruppe 
an  einem  einsamen  Brunnen  der  Wüste  mag  so  entstanden  sein! 
Da  meist  nur  die  weniger  guten  Datteln  zur  Ausfuhr  gelangen, 
so  kann  man  sich  nur  in  den  Oasen  selbst  ein  volles  Verständnis 
für  den  Zauber  dieser  Frucht  erschließen,  der  Unterschied  ist 
noch  größer  als  der  zwischen  Apfelsinen,  die  man  bei  uns  oder 
etwa  in  Palermo,  Malaga,  BUdah  oder  Jaffa  ißt. 

Wie  uns  erst  die  Entwicklung  der  Dampfschiffahrt  diese 
Früchte  der  südlichen  Mittelmeerländer  in  Menge  zugeführt  hat, 
werden  uns  diese  Schätze  der  algerischen  und  tunesischen  Sahara, 
obwohl  schon  jetzt  gewisse  Fortschritte  zu  verzeichnen  sind,  erst 
voll  zugänglich  werden,  wenn  die  Oasen  in  Eisenbahnverbindung 
mit  dem  Meere  sein  werden.  Und  das  wird  zum  Teil  in  wenigen 
Jahren  geschehen.  Biskra,  das  freilich  noch  wenig  gute  Datteln 
liefert,  wird  wohl  schon  gegen  Ende  1887  auf  der  Eisenbahn  zu 
erreichen  sein,  der  Bau  war  im  März  1886  von  Batna  aus  schon  bis 
über  El  Kantara,  also  bis  in  die  Wüste,  vorgeschritten,  muß  frei- 
lich im  Sommer  der  Hitze  wegen  unterbrochen  werden.  Und  die 
von  den  Franzosen  geplante,  auch  strategisch  überaus  wichtige 
Linie  von  Constantine  über  Tebessa  und  Gafsa  nach  Gabes  an 
die  Kleine  Syrthe  wird  wohl  auch  in  nicht  ferner  Zukunft  gebaut 
werden.-^)  FreiHch  wird  auch  dann  die  Mehrzahl  der  Oasen  noch 
nicht  in  den  Schnellverkehr  einbezogen  sein;  denn  von  den  Oasen 
des  Wed  Rhir  und  Wed  Suf,  den  besten  Datteloasen  der  alge- 
rischen Sahara,    wird    noch   ein    achttägiger   Kameltransport   nach 


l)  Sie   ist   heute    (1905)    noch    nicht   gebaut,  wohl    aber  Gafsa   mit   der 
Hafenanlage  in  Sfaks  durch  eine  Eisenbahn  verbunden. 


—     325     — 

Biskra,  von  dem  tunesischen  Nefta  und  Tozer  ein  dreitägiger 
nach  Gafsa,  ein  fünftägiger  nach  Gabes  übrig  bleiben,  was  noch 
immer  die  Ausfuhr  erschweren  und  verteuern  wird.  Von  Gafsa 
wird  man  aber  dann  selbst  bei  der  in  Algerien  üblichen  größten 
Geschwindigkeit  von  25  km  in  der  Stunde  Gabes  in  höchstens 
sechs  Stunden  erreichen.  Die  tunesischen  Datteloasen  liegen  über- 
haupt dem  Meere  viel  näher  und  werden  gewiß  in  wenigen  Jahren 
ihre  Datteln  durch  unternehmende  Europäer  rasch  und  massen- 
haft auf  der  Markt  bringen,  während  dieselben  jetzt  noch  meist 
mit  Karawanen  nach  Sfaks  und  Tunis  gehen.  Das  nähere  Gabes 
ist  erst  seit  kurzem  und  wegen  der  flachen,  die  Dampfer  3 — 4  km 
von  derselben  Anker  zu  werfen  zwingenden  Küste  noch  immer 
unvollkommen  durch  die  Compagnie  Transatlantique  in  den  Welt- 
verkehr einbezogen  worden,  die  einmal  wöchentlich  einen  Dampfer 
dort  anlaufen  läßt.  In  Algerien  haben  sich  schon  große  kapital- 
kräftige Gesellschaften,  die  Soci^t^  du  Oued  Rhir  und  die  Soci^t6 
Agricole  et  Industrielle  de  Batna,  der  hochverdiente  Ingenieur 
Jus  an  der  Spite  der  letztern,  gebildet,  welche  im  Wed  Rhir 
Dattelpalmen  erworben  oder  auf  durch  künstliche  Brunnenbohrungen 
neu  gewonnenem  Kulturlande  angepflanzt  haben  und  von  Jahr  zu 
Jahr  größere  Mengen  Datteln  auf  den  Weltmarkt  liefern  werden. 
Auch  sonst  ist  der  Baum  vielfach  verwertbar.  Wie  Versuche  von 
Jus  gezeigt  haben,  liefert  die  Faser  nicht  nur  ausgezeichnete 
Stricke  und  Taue,  welche  die  Eigenschaft  haben,  im  Wasser 
nicht  zu  faulen,  daher  für  Schiflfahrtszwecke  wertvoll  sind,  sondern 
auch  einen  guten  Papierstoff".  Dem  Oasenbewohner  ist  ja  schon 
heute  die  Dattelpalme  so  wertvoll,  daß  man  geradezu  sagen  kann, 
sein  Dasein  sei  an  dieselbe  gebunden. 

Namentlich  wertvoll  ist  die  Dattelpalme  auch  dadurch,  daß 
sie  zarter  organisierten  Gewächsen  Schutz  gegen  die  sengenden 
Sonnenstrahlen  bietet  und  deren  Anbau  in  den  Oasen  erst  er- 
möglicht. Der  Baum  bedarf  sorgsamer  Pflege,  Düngung  und  Be- 
wässerung. In  der  Oase  Gafsa  wird  ihm  das  Wasser  durch 
Rinnen  zugeführt,  in  der  Nachbaroase  El  Gettar,  die  nur  Brun- 
nen besitzt,  in  welchen  sich  das  Wasser  von  Dschebel  Orbata, 
an  dessen  Fuße  sie  liegt,  sammelt,  werden  sie  teils  aus  diesen 
bewässert,  teils  pflanzt  man  sie,  wie  im  Wed  Suf  allgemein,  in 
trichterartige  Vertiefungen,  wo  die  Wurzeln  die  wasserführende 
Schicht  zu  erreichen  vermögen.     In  der  Oasengruppe  von  Gabes, 


—     326     — 

namentlich  in  Udref  und  Metuia,  ist  der  Boden  in  den  obersten 
Schichten  schon  so  wasserreich,  daß  auch  dies  nicht  einmal  nötig 
ist.  Doch  haben  die  dortigen  wenig  gepflegten  Palmen  ein 
kümmerliches  Aussehen  und  ihre  Datteln  sind  geringwertig.  In 
der  Oase  Biskra  rechnet  man  auf  jeden  Baum  einen  Wasser- 
bedarf von  loo  Kubikmeter  im  Sommer;  im  Frühling  vor  der 
Blüte,  die  hier  anfangs  April  eintritt,  und  im  Spätsommer  vor  der 
Fruchtreife,  die  im  September  beginnt,  muß  die  Wasserzufuhr  am 
reichlichsten  sein.  Bei  so  reichlicher  Durchfeuchtung  des  Bo- 
dens und  so  großen  Mengen  stagnierenden  Wassers  ist  es  be- 
greiflich, daß  die  Oasen  häufig  fieberreich  und  auch  sonst  un- 
gesund sind,  trotzdem  die  Städte  fast  ausnahmslos  neben  den 
Oasen  auf  dem  trockenen  Wüstenboden  angelegt  werden.  Gafsa 
gehört  besonders  zu  den  ungesunden  Oasen,  namentlich  Haut- 
ausschläge und  Geschwüre  befallen  dort  Europäer  wie  Einhei- 
mische sehr  häufig.  Um  schönere  Datteln  zu  erzielen  und  den 
Baum  zu  schonen,  läßt  man  meist  nicht  alle  Blütentrauben  stehen, 
im  Mittel  etwa  zehn,  so  daß  derselbe  etwa  1 50  kg  Datteln  liefert. 
Die  Dattelpalmen  sind  so  auch  in  den  Oasen  der  bequemste 
Gegenstand  der  Besteuerung;  in  Algerien  wird  eine  Steuer  von 
0,30 — I  fr.   auf  den  Baum,  je  nach  der  Oase,  gelegt. 

Im  Schatten  der  Palmen  wachsen  nun  Aprikosen-,  Pfirsich-, 
Feigen-,  Granaten-,  Quitten-,  Mandel-,  Bim-  und  Ölbäume,  ver- 
einzelt auch  Apfelsinen  und  Limonen,  der  Weinstock  rankt  in 
üppigen,  malerischen  Gewinden,  die  schon  im  Juni  reife  Trauben 
tragen,  an  den  Palmen  oder  an  den  eigens  ihm  zur  Stütze  ge- 
pflanzten Zürgelbäumen  (Celtis  australis)  empor,  der  Boden,  der 
überall  in  kleine  viereckige,  von  Dämmen  umgebene  Beete  ge- 
teilt ist,  die  ganz  unter  Wasser  gesetzt  werden  können,  bringt 
unter  den  Bäumen  noch  Massen  von  Gemüsen,  Melonen,  Gurken, 
Weizen,  Gerste  hervor,  allerdings  nur  in  der  kühleren  Jahres- 
hälfte; im  Sonmier  ist  die  Einwirkung  der  Sonne  durch  das  Laub- 
dach hindurch  noch  immer  eine  so  große,  daß  dann  bei  aller 
Bewässerung  zartere  Gemüse  nicht  zu  ziehen  sind.  In  drei 
Schichten  sozusagen  bedeckt  die  Pflanzenwelt  den  Boden  dieses 
Paradieses  in  der  Wüste.  Der  westliche  und  südwestliche  Teil 
der  Oase  ist  ein  großer  Olivenhain,  da  dort  das  Wasser  nur 
noch  für  Ölbäume  hinreicht.  Diese  liefern  allerdings  ein  vor- 
zügliches,   wertvolles  Öl.      Auch    die  Granaten   von    Gafsa  halten 


—     327     — 

noch  den  alten  Ruf  der  Granaten  des  karthagischen  Gebiets 
(daher  Punica  granatum)  aufrecht.  Herrlich  gedeihen  hier  auch 
die  Aprikosen.  Die  Bäume  erreichen  den  Wuchs  unserer  größten 
Birnbäume  und  waren  mit  einer  unglaublichen  Fülle  von  Früch- 
ten bedeckt,  die  in  den  ersten  Tagen  des  April  schon  fast  Wall- 
nußgröße erreicht  hatten.  Welche  Gegensätze  der  Belaubung 
bietet  nun  dieser  Reichtum  an  Fruchtbäumen!  Das  üppige,  ge- 
sättigte Grün  des  Feigenbaumes  oder  des  an  den  Wasserrinnen 
häufigen  Rizinus  unter  den  mattgrünen,  gelblichen  Wedeln  der 
Palme,  das  bläuliche  melancholische  Blatt  des  Ölbaumes  neben 
dem  frisch  grünen  der  Aprikosen,  die  zarten  rötlichen  Blätter  der 
Granaten  neben  den  dunkelgrünen  lederartigen  der  Apfelsinen 
oder  den  großen  Fiederblättern  der  Karuben.  Dazu  nun,  die 
Mannigfaltigkeit  der  Farben  zu  erhöhen,  die  grauen  Lehmwände, 
welche  die  Gärten  umschließen,  hier  und  da  ein  Durchblick  in 
die  gelbliche  Wüste  ringsum,  oder  auf  die  kahlen  Berge  im 
Norden,  oder  die  weißen  Zinnenmauern  der  Kasbah,  das  Spiel 
der  Sonnenstrahlen  durch  das  Gezweig  auf  dem  grünen  Teppich 
des  Bodens,  über  alles  das  herrliche  Blau  des  Himmels  ffe- 
spannt.  Auch  an  gefiederten  Bewohnern  fehlt  es  dem  herrlichen 
Fruchthaine  nicht,  wenigstens  im  Winter  und  Frühling;  fast  alle 
unsere  Sänger,  von  denen  viele  im  cissaharischen  Afrika  über- 
wintern, ließen  sich  hören,  die  Nachtigall  führte  den  Reigen. 
Leider  mußte  ich  vielfach  sehen,  daß  all  diese  kleinen  Sänger 
hier  wie  in  ganz  Tunesien  massenhaft  gefangen  oder  zu  Tode 
gequält  werden.  Dagegen  ist  mir  wenigstens  in  Algerien  dieses 
fluchwürdige  Treiben,  mit  dem  sich  die  italienische  Nation,  auf 
Capri  zum  Gelderwerb,  so  ganz  besonders  schändet,  nirgends 
aufgestoßen. 

Ein  gefährlicher  Feind  droht  aber  diesem  Paradiese  wie 
allen  anderen  Oasen  der  tunesischen  Sahara:  der  Sand  der  Wüste. 
Seit  längerer  Zeit  schon  dringt  der  Wüstensand,  Dünen  bildend, 
siegreich  gegen  die  Oasen  vor,  deren  Außengürtel,  zuweilen  auch 
Flächen  im  Innern,  mit  Dünensand  überschüttet  wird,  so  daß  sich 
die  Kronen  der  Palmen  aus  Hügeln  weißen  Sandes  erheben. 
Nicht  wenige  Brunnen  sind  so  verschüttet  worden,  ganze  Oasen 
und  ihre  Dörfer  sind  bedroht,  es  vollzieht  sich  seit  langer  Zeit 
schon  ein  immer  augenfälliger  werdender  Rückgang  fast  aller 
Oasen.     In    den    am    Meere    gelegenen    Oasen,    wie    Gabes,    wo 


—     328     — 

sich  ebenfalls  hohe  Dünen,  am  äußeren  Saum  die  Palmen  ver- 
schüttend, gebildet  haben,  kommt  der  Sand  vom  Meere  her,  das 
dort  an  der  Kleinen  Syrte,  wo  die  Flutgröße  2  m  beträgt,  einen 
breiten,  sandigen  Strand  bei  Ebbe  trocken  liegen  läßt.  Man 
hofft  dort  der  weitern  Versandung  der  Oase  durch  einen  fast 
2  km  langen  niedem  Bretterzaun  und  künstliche  Dünenbildung 
außerhalb  der  Oase  vorzubeugen.  Im  Innern  des  Landes  ist 
diese  Gefahr  auf  andere  Ursachen  zurückzuführen.  Zunächst 
pflegen  die  Herden  von  Schafen,  Ziegen  und  Kamelen  sich  vor- 
zugsweise um  die  Oasen  aufzuhalten,  wo  sie  nach  und  nach  die 
vorhandenen  Pflanzen  bis  zu  den  Wurzeln  abnagen  und  diese 
schließlich  mit  den  Hufen  zerstören^  Auch  die  Karawanen  lagern 
sich  stets  bei  den  Oasen  und  an  den  Brunnen.  Es  wird  daher 
vorzugsweise  um  die  Oasen  der  Boden  gelockert,  in  Staub  und 
Sand  verwandelt  und  dem  Winde  der  Stoff"  geliefert,  mit  welchem 
er  an  festen  Gegenständen,  also  vorzugsweise  an  den  Bäumen 
der  Oasen,  Dünenbildung  beginnen  kann.  Fast  überall  findet 
man  gerade  um  die  Oasen  und  um  die  Brunnen  den  tiefsten 
Sand.  Wo  sich  noch  Pflanzen,  etwa  durch  besonders  reiche 
Bedornung  geschützt,  erhalten  haben,  stehen  sie  auf  Hügeln,  der 
Wind  hat  den  ringsum  gelockerten  Boden  davongeführt.  Weiter 
spielt  bei  dieser  Erscheinung  auch  die  tunesische  Mißregierung 
eine  Rolle,  welche  die  Bewohner  vielfach  verarmt  und  im  Kampfe 
gegen  die  sie  umgebende  feindliche  Natur  geschwächt  hat.  Jede 
Oase,  vor  allem  aber  jeder  Brunnen,  bedarf  unablässiger  Sorge, 
sobald  diese  fehlt,  nimmt  die  Wüste  das  ihr  erst  von  Menschen 
Entrissene  zurück.  Sobald  die  Brunnen  infolge  von  Vernach- 
lässigung versanden  oder  verarmen,  muß  man  auch  das  ange- 
baute Land  beschränken,  vielfach  aber  sieht  man  auch  Teile  der 
Oasen,  für  die  noch  Wasser  vorhanden  wäre,  vernachlässigt,  sie 
fallen  den  Herden  und  damit  der  Versandung  anheim,  die  dann 
auch  von  den  noch  unterhaltenen  Teilen  immer  schwerer  fern 
zu  halten  ist.  Tatsächlich  sind  allenthalben  die  Brunnen  ver- 
armt, was  doch  wohl  nicht  unbedingt  auf  eine  Abnahme  der 
Niederschläge  in  den  Gegenden  zurückzuführen  ist,  aus  welchen 
auf  undurchlässigen  Schichten  das  Wasser  den  Oasen  in  der 
Tiefe  zugeführt  wird.  Auch  hier  würde  man  gewiß  wie  in  der 
algerischen  Sahara  durch  Bohrungen  den  Wasservorrat  bedeutend 
vermehren,    demnach    die    Oasen  vergrößern    können.     Man    wird 


—     329     — 

daher,  um  weiterem  Unheil  vorzubeugen,  in  kürzester  Zeit  Maß- 
regeln zum  Schutze  der  Oasen  ergreifen  müssen,  die  auch  im 
Innern,  ähnlich  wie  es  bei  Gabes  geschehen  ist,  aus  Zäunen  zur 
Förderung  der  Dünenbildung  außerhalb  der  Oasen  aber  aus  Vor- 
richtungen zu  bestehen  haben  würden,  welche  eine  Neubefestigung 
des  Bodens  um  die  Oasen  ermöglichen.  Das  würde  vielleicht 
schon  erreicht,  wenn  man  durch  niedere  Gräben  und  Dämme, 
die  etwa  noch  durch  Palmenzweige  zu  verstärken  wären,  den 
Herden  die  Annäherung  an  die  Oasen  bis  auf  eine  gewisse  Ent- 
fernung unmöglich  machte.  Es  würde  sich  dann  gewiß  wieder 
Pflanzenwuchs,  namentlich  Tamarisken  und  Rtem,  entwickeln  und 
den  Boden  befestigen.  Das  meiste  wird  dabei  aber  eine  gute 
Verwaltimg,  geordnete  Steuererhebung  und  dergleichen  tun,  welche 
bei  den  ihrer  Anlage  nach  fleißigen  und  nach  Erwerb  streben- 
den Oasenbewohnem ,  die  ja  meist  berberischer  Herkunft  sind, 
einen  Lohn  ihrer  Arbeit  in  sichere  Aussicht  stellte. 

Die  Stadt  Gafsa  trägt  allenthalben  Spuren  des  Verfalls, 
wenn  auch  nicht  mehr  als  andere  Ortschaften  Tunesiens,  in  denen, 
etwa  von  Tunis,  Sfaks  und  Susa  abgesehen,  immer  ein  Drittel  bis 
zur  Hälfte  der  Häuser  in  Ruinen  liegt.  Doch  ist  dies  eine  Er- 
scheinung, die  Tunesien  bekanntlich  mit  der  Türkei  gemeinsam 
hat.  Auch  die  Gründe  derselben  sind  in  beiden  Ländern  die 
gleichen.  Hier  im  Süden  trägt  auch  noch  das  Material,  meist  an 
der  Luft  getrocknete  Lehmziegel,  sehr  viel  dazu  bei,  daß  dem 
so  geringen  Winterregen  nur  wenig  Widerstand  geleistet  wird, 
so  daß  Häuser  und  Mauern  schon  in  wenigen  Jahren  ein  ruinen- 
haftes  Aussehen  erlangen.  Ausgiebige  Winterregen,  die  in  Mittel- 
und  Nordtunesien  der  größte  Segen  sind,  am  Nordrande  der 
Sahara  jedoch  selten  vorkommen,  sind  für  den  Oasenbewohner 
ein  Unglück,  denn  sie  machen  die  Häuser  zerfließen  und  ver- 
setzen ihn  in  die  größte  Notlage.  So  sind  von  der  ehemaligen 
dreifachen  Lehmmauer,  die  Gafsa  umgab,  nur  noch  dürftige 
Bruchstücke  vorhanden.  Außer  der  in  der  Tat,  von  außen  we- 
nigstens, malerischen  und  großartigen  Kasbah  hat  die  heutige 
Stadt  wenig  hervorragende  Bauwerke,  selbst  von  den  Moscheen 
haben  nur  zwei  hohe,  stattliche  Minarets,  von  der  italienischen 
Glockentürmen  ähnlichen,  im  Westen  üblichen  Bauart.  Die  Be- 
wohner verfertigen  geschmackvolle,  farbenprächtige  Freschiahs 
(Bettdecken),  Haiks  und  andere  Wollenstoff"e,  zu  denen  die  Fett- 


—     330     — 

Schwanzschafe  ihre  Wolle  liefern.  Merkwürdigerweise  gibt  es 
auch  hier  eine  sehr  starke,  etwa  ein  Fünftel  der  Bewohnerschaft 
ausmachende  jüdische  Kolonie,  deren  Lage  eine  keineswegs  un- 
günstige ist.  Auch  gehört  Gafsa  zu  denjenigen  ziemlich  zahl- 
reichen Oasenstädten,  die,  als  eine  in  mohammedanischen  Städten 
auffällige  Erscheinung,  eine  zahlreiche,  ohne  Anstoß  in  den  vielen 
Kaffeehäusern  an  die  Öffentlichkeit  tretende  Halbwelt  besitzen, 
die  freilich  nur  auf  Wüstenkinder  Eindruck  machen  kann.  Von 
dem  von  Vergnügungsreisenden  vielbesuchten  Biskra  ist  das  ja 
bekannt,  dieselbe  Erscheinung  kehrt  aber  auch  in  Murzuk,  Bilma, 
Aderer,  Air,  Agades  und  anderwärts  wieder,  Sie  ist  auch  keines- 
wegs etwa  als  eine  Eigentümlichkeit  der  Berbern  zu  erklären, 
wie  Maltzan  möchte,  sie  ist  allen  in  ausgedehnten  Wüsten 
gelegenen  Oasen  eigen,  welche  Rastplätze  an  vielbetretenen  Ka- 
rawanenstraßen sind.  Die  ungeheueren  Entbehrungen,  welchen 
die  oft  jahrelang  von  ihren  Familien  getrennten  Wüstenreisenden 
unterliegen,  der  große  Gewinn,  welchen  der  Karawanenhandel, 
wenn  Unfälle  vermieden  werden,  meist  abwirft,  die  Abhängigkeit, 
in  welche  viele  Oasen  in  bezug  auf  ihr  Wohlergehen  zu  den 
Karawanen  stehen,  mußten  diese  Erscheinung  hervorrufen.  Die 
ganze  Bevölkerung  einzelner  Oasen  der  Sahara  begrüßt  die  An- 
kunft der  Karawanen  als  die  Zeit  der  Ernte  und  als  einzige  Ge- 
legenheit, mit  der  übrigen  Welt  in  Verkehr  zu  treten,  mit  fest- 
lichen Aufzügen  und  Tänzen.  Daß  die  Franzosen  in  Gafsa  wie 
in  allen  Städten  Tunesiens,  wo  sie  sich  festgesetzt  haben,  dazu 
noch  schleunigst  ihre  Cafes  chantants  eingeführt  haben,  können 
wir  Deutschen  am  allerwenigsten  bemängeln,  da  wir  uns  ja  nicht 
schämen,  diese  national-französische  Einrichtung  selbst  bei  uns 
ein-  und  von  neuen  französischen  Theaterstücken  vorzugsweise 
die  schlüpfrigsten  möglichst  rasch  aufzuführen. 

Die  140  km  von  Gafsa  nach  Gabes  legte  ich  auf  einer 
zweiräderigen  Karre,  die  mir  nicht  ohne  Mühe  der  Ka'id  von 
Gafsa  mit  einem  zuverlässigen  Führer  verschaffte,  in  zwei  Tagen 
etwas  bequemer  zurück,  wie  auf  schlechtem  Pferd  und  Sattel. 
Der  Weg  führt,  sobald  man  die  Nachbaroase  El  Gettar,  die  gegen 
Gafsa  einen  sehr  verfallenen  Eindruck  macht,  hinter  sich  hat, 
stets  durch  die  Wüste,  die  allenthalben  leicht  fahrbar  ist.  Für 
die  Nacht  bot  sich  der  in  der  Mitte  zwischen  Gafsa  und  Gabes 
gelegene  Brunnen  Mehamla  als  Rastort,  wo  ich,  mit  Empfehlungen 


—     331     — 

des  Vorstehers  der  Sauia  von  El  Gettar  ausgerüstet,  die,  weil  von 
einem  geistlichen  Oberhaupte  ausgehend,  mehr  Wirkungen  ver- 
sprachen als  die  des  Kaids  von  Gafsa,  in  einem  Zeltlager  der 
Hammema  Unterkunft  zu  finden  hoffte.  Seit  mehr  als  zwei  Stun- 
den war  es  schon  Nacht,  als  ich  mich  dem  Brunnen  näherte 
und  zu  meiner  Freude  Licht  erblickte.  Leider  rührte  dasselbe 
von  dem  Feuer  einer  kleinen  dort  ebenfalls  ohne  Zelte  lagernden 
Karawane  her,  ein  Zeltlager  war  nicht  in  der  Nähe.  So  blieb 
mir  nichts  übrig,  als  auch  im  Freien  auf  meiner  Karre  zu  schlafen, 
zufrieden,  wenigstens  nicht  allein  die  Nacht  mitten  in  der  Wüste 
verbringen  zu  müssen.  Auch  schien  es  meinem  Führer  geraten, 
schon  um  a'/g  Uhr  morgens  zugleich  mit  der  Karawane  aufzu- 
brechen, da  ich  nur  so  hoffen  durfte,  vor  Einbruch  der  Nacht 
auf  meist  durch  tiefen  Sand  und  Dünen  am  Ufer  des  Schott 
Fedschedsch  entlang  führendem  Wege  Gabes  zu  erreichen.  Bei 
der  Annäherung  an  die  Oase  wurde  ich  noch  von  einem  so 
furchtbaren  Scirokko  überfallen,  wie  ich  ihn  in  Sizilien  selbst  nie 
erlebt  habe.  Wie  aus  einem  Glühofen  sandte  mir  die  Wüste 
heiße  Windstöße  entgegen  und  so  furchtbare  Staub-  und  Sand- 
massen wurden  aufgewirbelt,  daß  es  unmöglich  war,  die  Augen 
zu  öffnen.  Die  Araber,  die  zu  Fuß  unterwegs  von  einer  der 
drei  Ortschaften  der  Oase  zur  anderen  von  dem  Sturme  über- 
fallen wurden,  duckten  sich,  trotz  der  geringen  Entfernung,  vom 
Winde  abgewandt,  in  ihre  Burnusse  gehüllt,  einfach  am  Wege 
nieder  und  warteten  das  Aufhören  des  Sturmes  ab.  In  einer 
halben  Stunde  war  in  der  Tat  auch  alles  vorüber.  Die  Oase 
Gabes  enthält  außer  mehreren  kleineren  Dörfern  zwei  große 
Flecken  Djara  und  Menzel,  jeder  mit  etwa  4000  Einwohnern,  am 
Wed  Gabes,  einem  wasserreichen,  nie  versiegenden  kleinen  Flusse 
gelegen,  welcher  die  ganze  Oase  bewässert.  Diese  ebenfalls  zum 
großen  Teil  mit  antiken  Werkstücken  der  römischen  Takape  er- 
bauten Flecken,  lagen  früher  in  steter  Fehde  miteinander.  Als 
dritter,  den  Namen  Gabes  sich  besonders  aneignender  Flecken 
kommt  nun,  dicht  an  der  Mündung  des  Flusses,  die  Beziehungen 
zum  Meere  unterhaltend,  ein  rasch  emporschießender,  europäischer 
Ort  hinzu,  dicht  neben  dem  Hauptlager  der  Franzosen.  Der 
ganze  Ort  besteht  bisher  nur  aus  Kneipen,  Tingeltangeln,  Kaffee- 
häusern und  Verkaufsbuden.  Keins  der  zwei  sogenannten  Hotels 
besitzt  aber  Zimmer  für  Reisende,  ich  mußte  froh  sein,   daß  mir 


—        0^2        — 

ein  Italiener,  da  ich  die  Gastfreundschaft  des  tunesischen  Gouver- 
neurs nicht  in  Anspruch  nehmen  wolUe,  seine  Küche  einräumte, 
in  welcher  ich  mein  müdes  Haupt  auf  einen  Strohsack  nieder- 
legen konnte.  Bedauernswert  sind  die  französischen  Offiziere, 
welche  ihre  Pflicht  hier  länger  festhält.  Und  doch  ist  Gabes 
noch  einer  der  besten  Plätze  Tunesiens!  Es  wird  unzweifelhaft 
seiner  ausgezeichneten  Lage  wegen  für  den  Verkehr  nicht  nur 
mit  dem  ganzen  südtunesischen  Dattellande,  sondern  mit  der  Sa- 
hara und  Innerafrika,  wie  schon  einmal  im  Mittelalter,  zu  großer 
Bedeutung  gelangen.  Freilich  wird  die  Schwierigkeit  des  Landens 
an  der  flachen  Küste  wohl  niemals  zu  beseitigen  sein,  denn  eine 
Hafenanlage  wird  hier  wegen  der  sehr  bedeutenden  Kosten  wohl 
einer  ferneren  Zukunft  vorbehalten  bleiben.  Der  Vorgang,  daß 
sich  an  die  arabische  Stadt  eine  europäische  in  engstem  Zu- 
sammenhange mit  einer  sich  aus  einem  festen  Lager  entwickeln- 
den militärischen  ankristallisiert,  wie  es  in  Algerien  so  häufig  ge- 
schehen ist,  wird  sich  hier  jedenfalls  rascher  vollziehen  als  in 
anderen  Orten  Tunesiens.  Das  wird  man  aber  voraussagen 
können,  daß  auch  in  Tunesien  die  französische  Herrschaft  für 
sehr  lange  Zeit  eine  militärische  Gewaltherrschaft  sein  wird,  wie 
sie  es  in  Algerien  noch  heute  ist.  Riesige,  an  beherrschenden 
Punkten  angelegte  Kasernen,  ganze  für  sich  abgeschlossene 
Soldatenstadtteile,  wie  sie  die  Römer  hier  doch  nur  an  wenigen 
besonders  ausgesetzten  Punkten  hatten,  kennzeichnen  die  Städte 
Algeriens  fast  ausnahmslos,  wie  solche  die  chinesische  Herrschaft 
in  Ostturkestan  kennzeichnen.  Noch  heute  stehen  sich  Franzosen 
und  Eingeborene  wie  Öl  und  Wasser  gegenüber,  sie  berühren 
einander,  vermischen  sich  aber  nicht.  So  wird  es  auch  in  Tu- 
nesien sein.  So  Großes  Frankreich  für  Algerien  getan  hat,  so 
viele  Hunderte  von  Millionen  französischen  Geldes  dort  zu  Ver- 
besserungen jeder  Art  verwandt  worden  sind,  Anerkennung  wird 
es  dort  niemals  finden.  Der  Franzose  ist  eben,  wie  ich  mich  in 
Algerien  von  neuem  überzeugen  konnte,  merkwürdig  wenig  be- 
fähigt, fremde  Eigenart,  fremdes  Volkstum,  eine  anders  geartete 
Volksseele  zu  verstehen  und  so  auf  sie  einzuwirken.  Italiener, 
so  sehr  sie  als  Verwalter  und  in  anderen  Hinsichten  hinter  den 
Franzosen  zurückstehen,  würden  in  Algerien  mehr  erreicht  haben 
als  Franzosen;  Italiener  würden  nach  meiner  Überzeugung  aus 
Tunesien  in  wenigen  Jahrzehnten  eine  neue  Provincia  Afrika  des 


—     333      — 

neu  erstehenden  Rom  gemacht  haben.  Vor  allem  verfügen  sie, 
ganz  abgesehen  von  manchen  Zügen,  die  wenigstens  die  Süd- 
italiener den  sogenannten  Arabern  Nordafrikas  näher  bringen, 
über  eins,  was  den  Franzosen  abgeht,  über  Menschen.  So  viel 
Raum  Algerien  bietet,  so  sind  die  italienischen  und  spanischen 
Einwanderer  dort  doch  sehr  ungern  gesehen,  der  Haß  gegen 
Fremde  ist  dort  mit  Furcht  gepaart  und  von  Brotneid  groß- 
gezogen, und  ist  in  Algerien  mindestens  ebenso  groß  wie  in  Frank- 
reich. Auch  in  Tunesien  haben  die  Franzosen  sofort  mit  syste- 
matischer Zurückdrängung  aller  Fremden  aus  den  Ämtern,  Handel 
und  Wandel,  ja,  aus  der  wissenschaftlichen  Erforschung  des 
Landes  begonnen.  Trotz  allem  muß  man  jedoch,  wenn  man  sich 
auf  den  rein  menschlichen  Standpunkt  stellt,  sagen,  daß  die 
französische  Herrschaft  in  Tunesien  für  das  Land  und  seine  Be- 
wohner ein  Segen,  der  Beginn  einer  neuen,  besseren  Zeit  sein 
wird,  und  daß  nur  zu  wünschen  ist,  daß  die  heutige  Zwitter- 
stellunff  bald  ein  Ende  haben  wird. 


3.  Reiseeindrücke  aus  Marokko  im  Jahre  1899. 0 

Die  sich  periodisch  erneuernden  blutigen  Aufstände  in  Ma- 
rokko, die  Schwierigkeiten,  in  welche  die  marokkanische  Regie- 
rung fast  unaufhörlich  mit  den  europäischen  Wächten  verwickelt 
ist,  und  die  das  Erscheinen  von  Kriegsschiffen,  nicht  gar  selten 
auch  deutschen,  vor  den  wichtigsten  Küstenplätzen  herbeiführen. 
lenken  immer  wieder  die  Blicke  der  gesitteten  Völker  auf  dieses 
heute  einzigartig  in  der  Welt  dastehende  Reich.  Bei  deutschen 
Lesern  kommt  noch  hinzu,  daß  die  deutschen  Interessen  in  Ma- 
rokko in  den  letzten  fünfzehn  Jahren  ganz  außerordentlich  ge- 
wachsen sind  und  wir  deshalb  wie  wegen  der  sowohl  an  und 
für  sich  wie  mit  Rücksicht  auf  unsere  überseeischen  Beziehungen 
wichtigen  Weltstellung  dieses  Landes  allen  Anlaß  haben,  dem- 
selben gespannte  Aufmerksamkeit  zu  schenken.  Um  so  mehr, 
als  Frankreich  soeben  die  marokkanische  Frage  von  der  Sahara 
aus  aufzurollen  und  ein  Umsturz  im  Innern  sich  vorzubereiten 
scheint. 

Marokko  ist  seit  zwanzig  Jahren  Gegenstand  meiner  Studien. 


I)  Deutsche  Rundschau   1900. 


—     334     — 

Im  Frühling  1888  habe  ich  dasselbe  zum  erstenmal  betreten. 
Die  Forschungspläne,  die  ich  damals  im  Auge  hatte,  erwiesen 
sich  aber  als  unausführbar.  Das  Gebirgsland  von  Nordmarokko, 
auf  welches  es  mir  ankam,  ist  noch  heute  unerforscht  und  wird 
im  Angesichte  von  Europa,  in  Hörweite  der  Kanonen  von  Gibraltar 
noch  für  lange  Zeit  einer  der  unbekanntesten  Teile,  vielleicht 
sehr  bald  der  unbekannteste  Teil  von  Afrika  sein.  Dafür  sorgen 
die  von  dem  Sultan  unabhängigen,  freiheitliebenden  Gebirgs- 
berbern,  die,  außerordentlich  wachsam  und  argwöhnisch,  unfehl- 
bar jeden  Europäer,  in  welcher  Verkappung  immer  er  bei  ihnen 
einzudringen  suchen  sollte,  entdecken  und  umbringen  würden. 
Im  Februar  189g,  während  meines  Aufenthaltes  dort,  ging  in 
Tanger  das  Gerücht  um,  die  Rhiata,  einer  dieser  Stämme,  welcher 
das  Gebirge  östlich  von  Fäs  bewohnt  und  die  Heere  des  Sultans 
oft  genug  blutig  heimgeschickt  hat,  hätten  zwei  Engländer  als 
Spione  ergriffen,  erschossen  und  ihre  Leichen  verbrannt.  Ob 
etwas  Wahres  daran  war,  werden  auf  europäischer  Seite  wohl 
nur  wenige  Eingeweihte  wissen,  denn  offiziell  kann  sich  auch 
England  in  diesem  Falle  nicht  um  seine  Sendlinge  kümmern. 
Daß  aber  solche,  und  ähnlich  wohl  auch  französische,  abgesehen 
von  den  männlichen  und  weiblichen  Missionaren,  die  sich  nicht 
nur  in  den  beiden  Hauptstädten,  sondern  auch  bereits  in  klei- 
neren Orten  des  Inneren  niedergelassen  haben,  das  Land  er- 
forschen, unterliegt  keinem  Zweifel.  Im  Gegensatz  zu  den  übrigen 
sind  auch  die  Gebirgsberbern  des  Nordens  durch  den  lebhaften, 
von  Gibraltar  und  Spanien  aus  betriebenen  Schmuggel  mit  vor- 
trefflichen Hinterladern  bewaffnet  und  so  dem  Heere  des  Sultans 
überlegen. 

Als  es  mir  endlich  im  Februar  i8gg  möglich  wurde,  meine 
marokkanischen  Forschungspläne  wieder  aufzunehmen,  hatte  ich 
sie  dahin  abgeändert,  daß  sie  nur  dem  Gebiete  zwischen  dem 
Atlasgebirge  und  dem  Atlantischen  Ozeane,  dem  Atlasvorlande, 
galten.  Das  ist  der  bei  weitem  wichtigste  Teil  des  bei  uns  ge- 
wöhnlich als  Sultanat  Marokko  bezeichneten  großen  Ländergebietes 
an  der  Nordwestecke  von  Afrika,  das  Herzland  desselben.  Tat- 
sächlich reicht  nämlich  die  Herrschaft  des  Sultans  nicht  viel 
weiter  als  dieses  weithin  offene  Atlasvorland;  ja,  ich  konnte  zu 
meinem  Schaden  feststellen,  daß  selbst  da  das  Ansehen  desselben 
nicht  überall  sehr  s;roß  ist.      Man   unterscheidet   im  Lande  selbst 


—     335     — 

auch  ganz  allgemein  das  dem  Sultan  wirklich  unterworfene  Ge- 
biet, das  Beled  el  Makhzen  (Land  der  Kanzlei,  Land  der  Re- 
gierung), vom  Beled  es  Ssiba,  dem  von  unabhängigen  Stämmen 
bewohnten.  Und  dieses  macht  wirklich  V3,  wenn  nicht  mehr,  der 
etwa  dem  lYg  fachen  des  Deutschen  Reiches  an  Ausdehnung 
gleichkommenden  Ländergruppe  aus,  die  unsere  Kinder  in  der 
Schule  als  Sultanat  Marokko  auswendig  lernen.  Der  größere  Teil 
derselben  ließe  sich  am  besten  unter  den  neuen  Begriff  der 
Interessensphäre  einreihen.  Aber  selbst  diese  ruht  auf  so  schwachen 
Füßen,  daß  kein  Hahn  danach  krähen  wird,  daß  die  Franzosen 
soeben  die  Oasengruppe  von  Tidikelt  in  Besitz  genommen  haben 
und  dem  die  Besetzung  der  noch  weit  wichtigeren  von  Gurara 
und  Tuat  wahrscheinlich  sehr  rasch  werden  folgen  lassen.  Diese 
tief  in  die  Sahara  vorgeschobenen,  aber  mit  vom  Atlas  kom- 
mendem Wasser  gespeisten  Oasen  waren  tatsächlich  unabhängig 
und  benutzten  den  Sultan  von  Marokko,  der  ja  für  die  moham- 
medanische Welt  der  Nordwestecke  Afrikas  das  geistliche  Ober- 
haupt ist,  nur  als  deckenden  Schild. 

Mein  diesmaliger  Aufenthalt  in  Marokko  hat  im  ganzen  vier 
Monate  umfaßt,  von  Februar  bis  Juni.  Ich  sah  mich  zuerst 
zu  einem  mehr  als  zweiwöchigen  Aufenthalte  in  Tanger  ge- 
zwungen und  lernte  schon  da  mich  daran  gewöhnen,  daß  in  Ma- 
rokko Zeit  keinen  Wert  hat.  Ich  nützte  diesen  Aufenthalt,  soweit 
die  Zeit  nicht  von  den  Reisevorbereitungen  in  Anspruch  genommen 
war,  gründlich  aus  zu  Ausflügen  und  kleineren  Reisen,  um  mich 
an  die  Anstrengungen  und  Entbehrungen  zu  gewöhnen,  die  nähere 
und  weitere  Umgebung  von  Tanger  kennen  zu  lernen  und  na- 
mentlich den  Mann  zu  erproben,  den  ich  als  Dolmetscher,  Koch, 
Diener  und  Karawanenführer  in  meinen  Dienst  genommen  hatte. 
Also  eine  sehr  wichtige  Person.  Es  war  dies  ein  Araber  aus 
Algerien,  der  lange  Jahre  als  Spahi,  d.  h,  in  der  leichten  ein- 
gebornen  Reiterei  der  Franzosen,  gedient,  dabei  Französisch  ge- 
lernt und  etwas  europäische  Kultur  angenommen  hatte.  Er  hatte 
namentlich  im  Dienste  von  Franzosen  schon  viele  Reisen  in  Ma- 
rokko gemacht,  freilich  stets  auf  den  altbegangenen  Wegen,  die 
ich  eben  vermeiden  wollte.  Er  hat  sich  im  allgemeinen  bewährt 
und  mich  nicht  mehr  betrogen,  als  es  landesüblich  und  nament- 
Uch  durch  die  zahlreichen  Gesandtschaftsreisen  sozusagen  als 
festes    Herkommen    eingebürgert   ist.     Durch    angemessene,    sorg- 


—     33^     — 

sam  vorbedachte  Behandlung  und  dadurch,  daß  ich  seinen  Vor- 
teil möglichst  mit  dem  meinigen  verknüpfte  und  ihm  eine  bevor- 
zugte Stellung  einräumte,  habe  ich  mir  vielen  Ärger  und  manche 
aufregende  Szene,  von  denen  man  in  den  Berichten  der  Reisenden 
sonst  liest,  erspart.  Ich  überließ  ihm  vor  allen  Dingen  die  Ver- 
antwortung für  die  Last-  und  Reittiere  und  gegenüber  meinen 
übrigen  Leuten  und  schob  ihn  gewissermaßen  als  Puffer  zwischen 
sie  und  mich.  Dies  System  hat  sich  sehr  gut  bewährt;  nur  selten 
bin  ich  in  die  Notwendigkeit  versetzt  worden,  ein  kräftiges  Wort 
zu  reden. 

Von  den  kleinen  Reisen  von  Tanger  aus  möchte  ich  nur 
eine  hervorheben,  welche  als  Probe  meiner  Leistungsfähigkeit 
dienen  konnte.  Es  galt  einem  Ausfluge  nach  dem  40  km  süd- 
lich von  Tanger  gelegenen  Küstenstädtchen  Azila.  Durch  Ver- 
mittelung  unserer  Gesandtschaft,  die  sich  auf  Empfehlung  vom 
Auswärtigen  Amte  in  Berlin  meiner  außerordentlich  tatkräftig 
angenommen  hat  und  der  ich  zu  großem  Danke  verpflichtet  bin, 
nahm  ich  vertragsmäßig  einen  von  der  Regierung  gestellten  be- 
rittenen Schutzsoldaten  in  meinen  Dienst.  Mein  Führer  mietete 
für  mich  und  sich  selbst  Pferde.  An  Gepäck  und  Vorräten 
wurde  nur  das  Unentbehrlichste  mitgenommen,  da  ich  an  die 
angesehenste  jüdische  Familie  in  Azila  empfohlen  war  und  so- 
wohl den  Hin-  wie  den  Rückweg  in  je  einem  Tagesritt  machen 
wollte.  Es  war  Ende  Februar,  also  noch  in  der  Regenzeit. 
Heftiger  Sturm  und  Regen,  das  in  dieser  Jahreszeit  Tanger 
kennzeichnende,  aber  auch  unerträglich  machende  Wetter,  herrschte 
am  Morgen,  so  daß  mein  Dolmetscher  höchst  erstaunt  war,  als 
ich  ihm  ein  für  alle  Mal  erklärte,  daß  nach  dem  Wetter  nie  ge- 
fragt werden  würde.  Wir  ritten  also  ab.  Ich  wünschte,  um  eben 
das  Land  kennen  zu  lernen,  den  sogenannten  inneren  Weg  zu 
nehmen,  auf  welchem  man  erst  bei  Azila  selbst  das  Meer  wieder 
erreicht.  Das  erwies  sich  sehr  bald  als  unmöglich:  der  schwere 
rote  Tonboden,  welcher  hier  vorherrscht,  war  durch  die  anhal- 
tenden Regen  unergründlich  geworden.  Schon  einige  Tage  vorher 
hatte  ich  mich  davon  überzeugen  können:  der  kleine  Esel,  den 
ich  gewöhnlich  zur  größeren  Bequemlichkeit  ritt,  weil  ich  meiner 
Studien  wegen  häufig  absteigen  mußte,  versank  mit  dem  Hinter- 
viertel derartig  im  Schlamme,  daß  ich  absteigen  und  denselben 
mit  Hilfe  des  Dolmetschers  wieder  herausheben  mußte.    Es  blieb 


—     337     — 

uns  nichts  übrig  als  in  südwestlicher  Richtung  so  bald  wie  mög- 
lich das  Meer  zu  erreichen,  um  den  von  der  Brandung  fest- 
geschlagenen Strand  als  jederzeit  gangbaren  Weg  zu  benutzen. 
Dazu  waren  alle  Bäche  und  Flüsse  angeschwollen,  und  etwa  alle 
halben  Stunden  prasselte  ein  heftiger  Regen,  zuweilen  mit  Hagel 
abwechselnd  auf  mich  herab.  Den  Sturm  hatte  ich  stets  im 
Gesicht,  zehn  Stunden  lang!  Denn  mehr  als  fünf  Kilometer  in  der 
Stunde  war  es  unmöglich  gegen  den  Sturm  und  bei  der  Be- 
schaffenheit der  Wege  zu  machen.  Gefrühstückt  wurde  im  Sattel. 
Es  sei  gleich  hier  bemerkt,  daß  bis  heute  in  ganz  Marokko  von 
einem  künstlich  gebahnten  Wege,  geschweige  von  Fahrstraßen 
keine  Rede  ist.  Ebenso  sind  Brücken  so  selten,  daß  die  wenigen 
aus  der  guten  alten  Zeit  erhaltenen  in  einer  ganzen  Landschaft 
El  Kantara,  die  Brücke,  heißen. 

Bis  ans  Meer  führte  der  Weg  durch  die  menschenleere, 
immergrüne  Macchia  von  Cherf  el  Akab  und  el  Hawara,  die  zahl- 
reichen Wildschweinen  Unterschlupf  bietet.  Erst  wenige  Tage 
vorher  war  die  alljährlich  von  den  Europäern  in  Tanger,  zu  denen 
Jagdliebhaber  zum  Teil  von  weit  her  stoßen,  abgehaltene  Wild- 
schweinsjagd beendigt  worden.  Die  ganze  Jagdgesellschaft,  Damen 
und  Herren,  haust  Tage  lang  unter  Zelten,  bei  schlechtem  Wetter 
in  dieser  Jahreszeit  nicht  angenehm.  Man  jagt  die  Wildschweine 
zu  Pferde  mit  der  Lanze  —  eine  durchaus  nicht  ungefährliche  Jagd. 

Am  Strande  erschwerten  nur  der  Wind  und  die  Mündungen 
der  Flüsse  und  Bäche  das  Vorwärtskommen.  Nach  fünfeinhalb- 
stündigem  Ritt  erreichte  ich  den  größten  dieser  Flüsse,  den 
Mharhar,  an  der  Mündung  Tahaddart  genannt,  der  so  tief  und 
wasserreich  ist,  daß  er  selbst  bei  Ebbe  mit  Hilfe  der  Barre  nicht 
durchritten  werden  kann.  Da  der  Strandweg  im  Winter  allein 
die  Verbindung  zwischen  Fäs  und  Tanger  ermögUcht,  dieser 
Übergang  also  sehr  wichtig  ist,  so  ist  hier  eine  plumpe  Barke  als 
Fährboot  aufgestellt.  Die  Fährleute  hatten  sich  am  Südufer  in 
einer  Reisighütte  hinter  der  Düne  verkrochen,  und  es  dauerte 
lange,  bis  es  gelang,  durch  Rufen  und  Schießen  ihre  Aufmerksam- 
keit zu  wecken,  noch  länger,  bis  sie  sich  entschlossen,  die  Fahrt 
bei  dem  herrschenden  Unwetter  zu  wagen.  Endlich  sah  ich,  wie 
sie  einige  beladene  Esel  einer  Handelskarawane,  die  im  Gebüsch 
versteckt  gewesen  war,  herbeiführten,  mit  ihren  Lasten  ins  Boot 
beförderten    und     abstießen.      Man    sah,    daß    sie    schwer    gegen 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  22 


—     338      - 

Sturm  und  Wellen  ankämpften.  Mitten  im  Strome,  der  zurzeit 
hier  etwa  so  breit  war  wie  die  Elbe  bei  Dresden,  verloren  sie 
plötzlich  den  Mut;  sie  kehrten  um,  luden  Esel  und  Ladungen 
wieder  aus  und  verschwanden! 

Meine  Lage  war  nicht  angenehm.  Fast  zwei  Stunden  schon 
war  ich  auf  der  kahlen  Düne  schutzlos  dem  Sturm  und  Regen 
ausgesetzt.  Das  Thermometer  zeigte  nur  12^^  C.  Es  schienen 
also  nur  zwei  Möglichkeiten  gegeben:  entweder  mit  müden  Tieren, 
wenn  auch  mit  dem  Winde,  nach  Tanger  zurück  oder  ohne  Zelt 
oder  irgendwelchen  Schutz  und  Vorräte  im  Gebüsch  die  Nacht 
verbringen.  Ich  versuchte  es  noch  mit  einem  dritten:  meine 
Leute  mußten  ihre  Stimmen  aufs  äußerste  anstrengen,  Drohungen 
und  Verwünschungen  wurden  nicht  gespart,  mein  Soldat  schwang 
drohend  sein  Gewehr.  Das  wirkte  endlich.  Die  Fährleute  kamen 
wieder  aus  ihrer  Hütte  hervor,  machten  das  Boot  flott,  diesmal 
ohne  Ladung,  und  arbeiteten  sich  durch  den  Wogenschwall  hin- 
durch. Fünf  Meter  vom  Ufer  saß  das  hochbordige  Boot  fest. 
Nachdem  Gepäck  und  Sättel  ins  Boot  gebracht  waren,  galt  es, 
die  Tiere  einzuschiffen.  Welche  Arbeit!  Das  Pferd  des  Sol- 
daten, von  dem  man  annahm,  daß  es  schon  Erfahrungen  ge- 
sammelt habe,  mußte  den  Anfang  machen.  Es  wurde  ins  Wasser 
geführt  und  mehr  oder  weniger  höflich  eingeladen,  ins  Boot  zu 
springen.  Es  weigerte  sich  aber  ganz  entschieden,  diesem  An- 
sinnen Folge  zu  leisten.  So  wurde  nun  ein  Strick  an  das  eine 
Vorderbein  gebunden  und  dieses  von  zwei  Mann  so  über  die 
Bordwand  gehoben.  Durch  reichliche  Prügel  zwang  man  es  dann, 
auch  mit  dem  anderen  Vorderfuß  auf  das  Boot  zu  springen,  und 
durch  Schieben  und  Prügel  wurde  es  schließlich  zum  entscheiden- 
den Sprunge  auch  mit  dem  Hinterteile  gezwungen.  Die  anderen 
beiden  Pferde  ließen  sich  durch  dies  Beispiel  nicht  belehren;  es 
mußte  mit  jedem  genau  das  gleiche  Verfahren  eingehalten  werden. 
Zuletzt  stieg  ich  auf  den  Rücken  eines  der  Fährleute  und  wurde 
so  ins  Boot  befördert.  Das  Ausschiff"en  ging  etwas  leichter  von 
statten.  Ich  hatte  von  Glück  zu  sagen;  denn  nicht  selten  kommt 
es  vor,  daß  die  Fährleute,  denen  ihr  Leben  mehr  wert  ist,  für 
kein  Geld  die  Überfahrt  wagen.  Mein  Dolmetscher  erzählte  mir, 
daß  er  einmal  mit  englischen  Reisenden  infolgedessen  im  Gebüsch 
die  Nacht  schutzlos  habe  verbringen  müssen. 

In    der    beschriebenen   Weise    habe    ich    später    mit   meiner 


—     339     — 

ganzen  Karawane  den  Übergang  über  den  Um-er-Rbia  an  der 
Meschera  bu  Challü,  über  den  Bu  Regreg  bei  Sal6  und  über  den 
Sebu  bei  Meschera  Bab  el  Ksiri  bewerkstelligt.  Das  sind  auch 
die  einzigen  Punkte  in  ganz  Marokko,  wo  Fährboote  aufgestellt 
sind,  denn  die  wenigen  Brücken  finden  sich  nur  bei  kleineren, 
fast  immer  furtbaren  Flüssen. 

Der  Übergang  über  den  Tahaddart  hatte  so  viel  Zeit  er- 
fordert, daß  es  nun  scharf  zu  reiten  galt,  um  vor  Torschluß 
Azila  zu  erreichen;  ja,  ich  mußte  den  Soldaten  vorausschicken, 
um  das  Tor  offen  zu  halten.  Denn  in  ganz  Marokko  werden 
mit  Sonnenuntergang  nicht  nur  die  Stadttore,  sondern  auch  die 
Tore,  welche  im  Inneren  die  einzelnen  Stadtviertel  voneinander 
trennen,  geschlossen.  Das  würde  etwaige  Abendgesellschaften 
selbstverständlich  unmöglich  machen,  hat  eben  auch  den  Zweck, 
nächtliche  Zusammenkünfte,  Verschwörungen  und  Aufstände  zu 
erschweren.  Während  meines  erzwungenen  siebzehntägigen  Aufent- 
haltes in  Marrakesch  ist  mir  dieser  frühe  Torschluß  überaus 
hinderlich  gewesen.  Wie  oft  mußte  ich  nach  größeren  Ausflügen 
bei  der  Unkenntnis  der  Entfernungen  in  gestrecktem  Galopp 
zurückreiten,  um  noch  in  die  Stadt  zu  gelangen! 

Noch  zwei  Flüsse  galt  es  vor  Azila  auf  der  Barre  zu  durch- 
reiten, den  Wed  el  Rha  dicht  vor  Azila  und  den  stark  an- 
geschwollenen Wed  Aischa  weiter  nördlich.  Um  die  Schwierig- 
keiten, welchen  der  Verkehr  in  diesem  Lande  unterliegt,  noch 
weiter  zu  kennzeichnen,  möchte  ich  erwähnen,  daß  in  eben  dieser 
Gegend  zwischen  dem  Wed  Aischa  und  dem  Wed  Karrub, 
einem  linken  Zuflüsse  des  Mharhar,  die  ich  beide  Ende  Mai  auf 
demselben  Wege  ohne  alle  Hindernisse  durchritten  habe,  die 
deutsche  Gesandschaft  unter  Graf  Tattenbach,  die  im  April  1890 
auf  dem  Wege  nach  Fäs  war,  sechs  Tage  lang,  wie  mir  ein 
Teilnehmer  erzählte,  auf  dem  Plateau  von  Gharbia  zwischen  den 
angeschwollenen  Flüssen  gefangen  war.  Es  regnete  unablässig, 
das  Lager  verwandelte  sich  in  einen  Sumpf,  die  Lebensmittel 
begannen  auszugehen!  Endlich  ließ  der  Regen  nach  und  die 
Flüsse  wurden  gangbar.  Wenn  dergleichen  einer  wohl  aus- 
gerüsteten und  von  den  höchsten  örtlichen  Beamten  des  Sultans 
geleiteten  Gesandtschaftskarawane  geschehen  kann,  so  wird  man 
sich  eine  Vorstellung  machen  können,  welchen  Schwierigkeiten 
der  gewöhnliche  W^egeverkehr  unterliegt. 


—      340     — 

Ich  gelangte  glücklich  nach  Azila  hinein  und  fand  bei  dem 
jungen  jüdischen  Ehepaare,  das  das  beste  Haus  von  Azila  be- 
wohnte, die  denkbar  liebenswürdigste  Aufnahme.  Spanisch,  das 
mein  Gastfreund  und  ich  in  gleichmäßig  bescheidener  Weise 
handhabten,  ermöglichte  die  Verständigung.  Der  junge  Mann 
stammte  aus  Azila,  das  eine  starke  jüdische  Bevölkerung  hat,  war 
aber  sehr  jung  nach  Brasilien  ausgewandert,  wie  sehr  viele  ma- 
rokkanische Juden,  wohl  wegen  ihrer  alten  Beziehungen  zu  Por- 
tugal —  die  in  der  brasilianischen  Einwandererstatistik  so  auffallende 
marokkanische  Einwanderung  setzt  sich  lediglich  aus  Juden  zu- 
sammen —  war  dort  in  Parä  Artillerieoffizier  gewesen  und  nun, 
offenbar  mit  einem  gewissen  Vermögen,  wieder  heimgekehrt.  Er 
hatte  Grundbesitz  erworben  bzw.  von  seinem  alten  Vater,  den  ich 
auch  kennen  lernte,  und  der  Azila  nie  verlassen  hatte,  über- 
nommen und  trieb  daneben  Ausfuhr  von  Vieh,  Fellen  u.  dgl. 
Ich  benutzte  den  folgenden  Tag,  um  die  Stadt  und  auf  längeren 
Ritten  die  Umgebung  kennen  zu  lernen. 

Azila  ist  ein  unsäglich  armseliges,  verkommenes  Nest  von 
kaum  looo  Einwohnern.  Von  außen  sieht  es,  namentlich  von 
fern,  recht  stattlich  aus,  denn  die  hohen,  von  den  Portugiesen 
errichteten  Mauern  und  Türme,  durch  die  nur  zwei  Tore,  eines 
an  der  See-  und  eines  an  der  Landseite,  führen,  sind  leidlich 
erhalten.  Einige  hohe  Dattelpalmen,  eine  weithin  leuchtende 
weiße  Kubba,  von  einer  Gruppe  hochstämmiger  Zwergpalmen 
umgeben,  die  in  Nordmarokko  nicht  selten  sind,  schaffen  nament- 
lich an  der  Nordseite  eine  außerordentlich  malerische  Szenerie. 
Aber  im  Innern  welch  ein  Gewirr  enger,  von  Schmutz,  Unrat  und 
Haufen  kostbaren  Düngers,  den  man  in  den  Gärten  so  gut 
brauchen  könnte,  gefüllter  Straßen  mit  niedrigen,  armseligen,  bau- 
fälligen Häusern,  überall  Zeichen  der  Verarmung!  Azila,  an 
deren  Stelle  schon  eine  phönikische  und  römische  Siedelung 
Zilis  • —  der  Name  ist  wohl  ursprünglich  berberisch  —  gestanden 
hat,  verdankt  seine  Bedeutung  dem  Umstände,  daß  hier  von 
Tanger  südwärts  zum  ersten  Male  eine  etwa  15  m  hohe  Fels- 
tafel jungtertiärer  Schichten,  wegen  größerer  Widerstandsfähigkeit 
von  der  Brandungswelle  zu  einem  stumpfen  Vorgebirge  heraus 
präpariert,  unmittelbar  gegen  das  Meer  vorspringt.  Eine  Klippen- 
reihe, gegen  welche  das  Meer  mächtig  brandet,  weist,  in  geringem 
Abstände  der  Küste  vorgelagert,  an  einer  Stelle   eine  Durchfahrt 


—     341     — 

auf  und  schafft  so  eine  kleinen  Fahrzeugen  zugängliche,  wenn 
auch  wenig  geräumige  Hafenbucht,  die  einzige  zwischen  Tanger 
und  Larasch.  Dies  und  die  fruchtbare,  jetzt  freilich  als  öde 
Zwergpalmensteppe  daliegende  Umgebung  machte  Azila  lange 
Zeit  zu  einem  der  wichtigsten  Stützpunkte  der  Portugiesen  in 
Marokko.  Als  Festung,  als  welche  es  noch  heute  gilt,  konnte 
es  allerdings  nie  zu  rechter  Blüte  gelangen  und  dadurch,  daß  es 
dem  Fremdhandel  verschlossen,  ist  sein  Schicksal  besiegelt.  Drei 
kleine  Fischerboote,  die  einzigen  auf  der  75  km  langen  Küsten- 
strecke zwischen  Tanger  und  Larasch,  unterhalten  heute  die  Be- 
ziehungen zum  Meere!  Etwas  Ackerbau,  etwas  Viehzucht,  ein 
wenig  Handel  und  Weberei  grober  Teppiche  und  Wollenstoife 
ernährt  die  Bewohner. 

Das  Haus  meines  Gastfreundes  zeigte  echt  arabische  Bauart, 
ganz  ähnlich  demjenigen,  welches  mir  später  in  Marrakesch  von 
einem  deutschen  Schutzbefohlenen  zur  Verfügung  gestellt  wurde. 
Ist  man  durch  die  sich  nur  auf  Klopfen  öffnende  Türe  ein- 
getreten, so  befindet  man  sich  in  einem  engen  Gange,  welcher  in 
geringer  Entfernung  von  der  Türe  im  rechten  Winkel  gebrochen 
ist.  Hier  befinden  sich  Sitze  für  die  Türhüter  und  Diener.  Dieser 
Gang  öffnet  sich  auch  noch  nicht  geradeaus,  sondern  nach  einer 
Seite  auf  den  inneren,  viereckigen  Hof.  In  meinem  Hause  in 
Marrakesch,  das  ganz  neu  gebaut  war,  konnte  dieser  Gang  vom 
Hofe  aus  durch  zwei  Schießscharten  unter  Feuer  genommen 
werden:  wie  eine  Festung  mitten  in  der  80000  Einwohner  zählen- 
den Hauptstadt!  Man  kann  von  der  Straße,  nach  welcher  auch 
außer  der  Türe  keine  andere  Öffnung  angebracht  ist,  nicht  in 
das  Haus  hineinsehen  und  nur  schwer  in  dasselbe  eindringen. 
Am  Ende  des  Ganges  oder  auch  vom  Hofe  führt  eine  durch 
eine  Tür  verschließbare,  enge,  steile  Treppe,  wiederum  im  rechten 
Winkel  gebrochen,  in  das  obere,  den  Frauen  vorbehaltene  Stock- 
werk. Inmitten  des  zementierten  Hofes  sammelt  sich  das  Regen- 
wasser in  einer  Zisterne,  bzw.  wird  es  in  dem  wasserreichen 
Marrakesch,  wo  jedes  Haus  in  der  Ecke  des  Hofes  einen  Brunnen 
besitzt,  in  die  Abzugskanäle  geführt.  Alle  Räume  des  Hauses 
öffnen  sich  nach  diesem  Hofe,  unten  durch  breite,  hohe  Türen, 
oben  durch  Fenster  oder  in  offenen  Terrassen.  Hier  zeigt 
sich  denn  auch  in  der  Ausschmückung  der  Räume,  namentlich 
durch  bunte  Arabesken  und   architektonische  Verzierungen,  Holz- 


—     342      — 

täfelungen  u.  dergl.,  noch  etwas  Luxus.  Vornehmere  Häuser,  wie 
ich  solche  in  Fäs  sah,  sind  sogar  noch  sehr  reich  ausgestattet, 
wenn  auch  nur  ärmlich  gegen  früher.  Alles  Leben  ist  so  nach 
innen  gekehrt.  Nach  der  kahlen,  oft  baufällig  erscheinenden 
Außenseite  der  Häuser  kann  man  nicht  auf  das  Innere  schließen; 
der  furchtbare  Despotismus  zwingt  jeden  Schein  von  Wohlstand 
zu  vermeiden. 

Der  Einblick,  welchen  ich  bei  meinem  Gastfreunde  in  das 
P'amilienleben  dieses  jungen,  allerdings  ,, europäisch"  beeinflußten 
Haushalts  erlangte,  war  nicht  uninteressant.  Das  Eltempaar  be- 
saß drei  kleine  Mädchen,  die  alle  in  Brasilien  geboren  waren. 
Trotz  der  ziemlich  kühlen  Witterung  liefen  sie  bloßfüßig  und  in 
sehr  leichter,  etwas  schmutziger  Gewandung  herum,  zeigten  sich 
aber  als  recht  wohlerzogen.  Die  junge  Hausfrau  kochte  und 
bediente  den  Gast  und  den  Gatten  beim  Essen  selbst,  obwohl 
eine  junge  schieläugige,  und  eine  alte,  korpulente  Dienerin,  über- 
dies ein  Araber  als  männliches  Faktotum  vorhanden  waren,  der 
die  Rolle  zu  spielen  schien  wie  bei  uns  ein  Dienstmädchen, 
andererseits  aber  zu  Fuß,  „als  Läufer",  seinen  Herrn  auf  Aus- 
flügen, das  Gewehr  tragend,  nach  Landessitte  begleitete.  Nur 
mit  Mühe  und  auf  die  liebenswürdigste  Aufforderung  hin  gelang 
es  mir,  die  Hausfrau  zu  bewegen,  sich  für  kurze  Zeit  mit  an 
den  Tisch  zu  setzen.  Die  Speisen  waren  alle  sauber  und  gut 
zubereitet,  bestanden  freilich,  da  Fleisch  in  dem  armen  Orte 
selten  zu  haben  ist,  nur  aus  .Geflügel  und  Fisch.  Aber  recht 
bezeichnend  wurde  alles  in  unglaublicher  Fülle  aufgetragen,  und 
eine  Mahlzeit  reihte  sich  an  die  andere. 

Es  lohnt  vielleicht,  im  unmittelbaren  Anschluß  daran  ein 
Gastmahl  zu  schildern,  welches  mir  ein  deutscher  Schutzbefohlener 
in  dem  22  km  südwestlich  von  Marrakesch  gegen  den  Fuß  des 
Atlas  hin  gelegenen  Oasenstädtchen  Tameslocht  gab.  Zum  Ver- 
ständnis sei  schon  hier  erwähnt,  daß  in  Marokko  nur  derjenige 
seines  Lebens  und  Eigentums  sicher  ist,  dem  es  gelingt,  sich  den 
Schutz  einer  europäischen  Macht  zu  erwerben.  Nachdem  lange  Zeit 
mit  dieser  Schutzverleihung  unerhörter  Mißbrauch  getrieben  worden 
war,  indem  die  Konsuln  einzelner  Mächte,  namentlich  solcher,  die 
ganz  und  gar  keine  wirklichen  Interessen  in  Marokko  haben  und 
auch  gar  nicht  in  der  Lage  sein  würden,  wirklichen  Schutz  zu  ge- 
währen, diesen  Schutz  jedem,  der  zahlen  konnte,  darunter  recht  vielen 


—     343     — 

unlauteren  Elementen,  verliehen,  ist  das  \"erhältnis  unter  Beseitigung 
der  schreiendsten  Mißbräuche  vertragsmäßig  mehr  oder  weniger  ein- 
heitlich dahin  geregelt,  daß  jedes  in  Marokko  ansässige  europäische 
Handelshaus  das  Recht  hat,  eine  gewisse  Anzahl  (bei  den  deut- 
schen vier)  Eingeborener  als  Semsare,  gewissermaßen  als  Ver- 
mittler des  Handels,  Einkäufer  u.  dgl.  als  Vertrauenspersonen 
anzunehmen  und  unter  den  Schutz  seines  Staates  zu  stellen.  Es 
erwachsen  dem  Betreffenden  natürlich  daraus  große  Vorteile,  aber 
das  Verhältnis  ist  kein  lebenslängliches,  der  Schutz  kann  wieder 
entzogen  werden.  Der  Schutzbefohlene  steht  in  einer  gewissen 
Abhängigkeit  von  der  Schutzmacht  und  dem  betreffenden  Handels- 
hause. Das  erklärt,  daß  die  Schutzbefohlenen ,  wie  ich  dankbar 
anerkenne,  gern  bereit  sind,  jeden  Angehörigen  der  Schutzmacht, 
namentlich  wenn  derselbe,  wie  in  meinem  Falle,  nachdrücklich 
empfohlen  ist,  in  jeder  Weise  zu  fördern.  Dadurch,  daß  nun 
deutsche  Handelshäuser  Niederlassungen  auch  in  Marrakesch  — 
meines  Wissens  189g  die  einzigen  europäischen  —  und  in  Fäs 
gegründet  haben,  gibt  es  auch  so  tief  im  Innern  deutsche 
Schutzbefohlene  und  deutsche  Interessen,  Viel  ausgedehnter 
und  der  Zahl  nach  nicht  begrenzt  ist  aber  das  Schutzverhältnis 
niedrigeren  Grades,  das  der  sogenannten  Mochallads.  Dies  hat 
sich  dadurch  ausgebildet,  daß  außer  in  und  um  Tanger  Eu- 
ropäer kein  Grundeigentum  erwerben  dürfen,  auch  eine  der  Maß- 
regeln, durch  welche  die  marokkanische  Regierung  europäische 
Einflüsse  fernzuhalten  bemüht  ist.  Diese  Bestimmung  wird  um- 
gangen dadurch,  daß  der  Mochallad  der  Scheineigentümer  von 
Grundstücken,  Herden  u.  dgl.  des  Europäers  ist  und  von  diesem 
demnach  einen  gewissen  Schutz  genießt.  Jedes  Handelshaus  darf 
jährlich  fünf  neue  Mochallads  bei  der  Gesandtschaft  zur  Auf- 
nahme vorsclilagen,  so  daß  die  Zahl  derselben  und  damit  natür- 
lich auch  die  Schwierigkeiten  für  die  marokkanische  Regierung 
beständig  wachsen.  Wenn  z.  B.  —  und  ich  habe  einen  be- 
stimmten Fall  im  Auge  —  der  Kaid,  der  Provinzgouverneur,  die 
Summen,  die  er,  sei  es  als  regelrechte  Steuern  aufbringen  muß, 
sei  es  um  sich  zu  bereichern  oder  durch  Bestechung  in  seiner 
Stellung  zu  behaupten,  nötig  hat,  sich  in  der  landesüblichen 
Weise  verschafft,  indem  er  irgend  einem  Untertanen  die  Herde 
wegnimmt,  um  sie  zu  verkaufen,  so  erklärt  der  Betreffende,  wenn 
er  Mochallad  ist,  die  Herde  sei  Eigentum  des  oder  des  Europäers, 


—     344     — 

der  natürlich  auch  seinerseits  mit  Nachdruck  auftritt:  der  Kaid 
muß  seine  Beute  fahren  lassen. 

Um  der  mir  persönlich  vorgetragenen  Einladung  des  er- 
wähnten deutschen  Schutzbefohlenen  zu  entsprechen,  ritt  ich  denn 
eines  Morgens  in  Begleitung  des  jungen  deutschen  Kaufmanns, 
der  als  einziger  Deutscher  neben  vielleicht  noch  acht  bis  neun 
anderen  Europäern  in  Marrakesch  wohnt,  aus  dem  Südwesttore, 
dem  Bab  Roab.  Mein  Schutzsoldat  und  der  Diener  meines  Be- 
gleiters durften  zum  Ausdruck  der  Würde  des  Europäers  nicht 
fehlen.  Der  Weg  durch  die  steinige,  tischgleiche  Steppe,  die 
sich  an  der  Südwestseite  unmittelbar  vor  den  Toren  ausbreitet, 
und  über  die  nur  einzelne,  aus  Olivenhainen  und  Dattelpalmen 
gebildete  Berieselungsanlagen  verstreut  sind,  wurde  selbstverständ- 
lich in  beiden  Richtungen  mit  Uhr  und  Kompaß  sorgsam  auf- 
genommen und  hat  für  den  Geographen  viel  Anziehendes.  Tames- 
locht  selbst,  von  welchem  ich  einige  wohlgelungene  photographische 
Aufnahmen  gemacht  habe,  ist  ein  verhältnismäßig  sauberes  Städt- 
chen mit  einer  schönen  Moschee  und  einigen  ansehnlichen  euro- 
päischen Schutzbefohlenen  gehörigen  Häusern.  Es  verdankt  sein 
Dasein  der  Fülle  von  Wasser,  welches  der  in  geringer  Entfernung 
aus  dem  Atlas  hervorbrechende  Tensiftzufluß  Rherhaya  zu  Be- 
rieselungszwecken spendet.  Die  Bevölkerung,  die  berberischen 
Ursprungs  ist,  ließ  keine  Spur  von  Fremdenhaß  erkennen,  so 
selten  der  Ort  auch  von  Europäern  besucht  wird. 

Wir  wurden  von  unserem  Gastfreunde  am  Tore  empfangen 
und  in  sein  Haus  geleitet;  hier,  in  einem  äußeren,  in  der  Mitte 
mit  einer  kleinen  Gartenanlage  gezierten  Hofe,  auf  welchen  die 
zum  Empfang  von  Männern  bestimmten  Räume  münden,  wurden 
uns  zunächst  zur  Erfrischung  nach  dem  fast  dreistündigen,  heißen 
Ritte  der  landesübliche,  durch  grüne  Pfefferminzblätter  gewürzte 
Tee  und  von  den  selbstverständlich  unsichtbar  bleibenden  Frauen 
fein  hergestellte  Honigkuchen  aus  Weizenmehl  dargeboten.  Den 
Tee  bereitete  der  Hausherr  selbst  über  einem  hübschen,  kupfer- 
nen Kohlenbecken  in  einem  schön  geformten  kupfernen  Kessel, 
die  beide  in  Mogador  in  altüberlieferter  Form  hergestellt  werden. 
Den  Tee,  möglichst  heiß  und  überaus  süß  —  der  Zuckerverbrauch 
ist  in  Marokko  ein  relativ  großer,  die  Einfuhr,  meist  aus  Frank- 
reich, bedeutend  —  trinkt  man  aus  kleinen,  bunten  Mokkatassen 
europäischen  Ursprungs,  jede  verschieden  von  der  anderen.     Zu- 


—     345      — 

gleich  wurde  ein  flacher  Korb  mit  Datteln,  Feigen  und  Walnüssen 
(ans  dem  Atlas)  herumgereicht.  Der  Tee  spielt  in  Marokko 
genau  die  Rolle  des  Kaffees  in  der  Türkei;  er  wird  überall  so- 
fort vorgesetzt,  und  man  hat  im  Lauf  des  Tages  Gelegenheit, 
ungezählte  Täßchen  zu  trinken.  Tee  ist  auch  auf  der  ganzen 
Reise  fast  mein  einziges  Getränk  gewesen,  da  ich  alkoholische 
Getränke  grundsätzlich  vermied,  und  das  Wasser  fast  überall  so 
schlecht  ist,  daß  ich  es  ebenfalls  grundsätzlich  niemals  unfiltriert 
und  ungekocht  getrunken  habe,  selbst  wenn  mir  die  Zunge  am 
Gaumen  klebte.  Im  schlimmsten  Falle  band  ich  mir  ein  feuchtes 
Tuch  vor  den  Mund.  Freilich  nützte  das  nicht  sehr  viel,  denn 
die  Lufttrockenheit  war  schon  im  Mai  so  groß,  daß  es  meist  in 
einer  halben  Stunde  wieder  völlig  trocken  war.  Der  Pfingst- 
sonntag  wird  mir  unvergeßlich  sein.  An  diesem  Tage  war  ich 
zwischen  Fäs  und  Tanger  in  der  Umgebung  des  Serhungebirges 
infolge  der  mangelnden  Ortskenntnis  meines  Führers  zehneinhalb 
Stunden  im  Sattel,  ohne  etwas  zu  essen  und  zu  trinken,  außer 
ein  wenig  saurer  Milch,  die  ich  in  einem  Nomadenlager  erlangte, 
bei  38,5°  C  im  Schatten!  Um  sechs  Uhr  abends  erreichte  ich 
endlich  meine  Karawane  und  konnte  mich  an  mehreren  Litern 
Tee  erquicken.  Dann  war  ich  aber  wieder  so  frisch,  daß  ich 
noch  einundeinhalbe  Stunde  in  der  Abendkühle  zu  Fuß  gehen 
konnte,  um  die  mit  den  Kameleu  vorausgeschickten  und  inzwischen 
schon  aufgeschlagenen  Zelte  zu  erreichen. 

Nachdem  wir  uns  so  in  dem  kühlen,  nur  mit  Polstern  und 
Matratzen  ausgestatteten  Räume,  der  zugleich  als  Schlafzimmer 
für  Gäste  diente,  erfrischt  und  ausgeruht  hatten,  folgte  ein  Spazier- 
gang, der  zu  verschiedenen  photographischen  Aufnahmen  benutzt 
ward  und  in  einem  Garten  unseres  Gastfreundes  endigte.  Dort 
waren  bereits  im  Schatten  blühender  Apfelsinen-  und  anderer 
südlicher  Fruchtbäume  mitten  im  üppigen  Grün  Teppiche  und 
Polster  gelegt,  auf  denen  wir  zwei  Europäer  uns  ausstreckten, 
während  der  Hausherr  das  nun  beginnende  Mahl  wiederum  mit 
Bereitung  und  Darreichung  von  Tee  begann.  Dann  wurde  von 
einem  Negersklaven,  wüe  sie  in  Marokko  außerordentlich  zahlreich 
sind,  Wasch wasser  aus  kupferner  Kanne  über  unsere  Hände  ge- 
schüttet, während  der  Hausherr  selbst  die  Gäste  ehrte,  indem  er 
eigenhändig  aus  schöngeformtem  silbernen  Gefäß,  das  in  eine 
offene  Spitze  auslief,  uns  Kopf  und  Schulter  reichlich  mit  Rosen- 


—     346      — 

Wasser  besprengte.  Diese  Ehrung  wiederholte  sich  während  der 
langen  Dauer  des  Mahles  abwechselnd  mit  Durchräucherung  mit 
duftigem  Sandelholz,  das  in  einem  silbernen  Gefäße  mit  durch- 
brochenem Deckel  entzündet  war.  Dieser  letzte  Genuß  wurde 
auch  meinem  Soldaten  und  Diener  gegönnt.  Auch  für  Tafel- 
musik war  gesorgt.  Drei  alte  Männer  mit  grauem  Bart  und  Haar 
bildeten  die  Hauskapelle.  Als  Instrument  zur  Begleitung  ihres 
Gesanges  diente  ihnen  die  Taricha,  ein  bunt  bemalter  Ton- 
zylinder, der  an  der  einen  etwas  breiteren  Öffnung  mit  einem 
Stück  Schaf-  oder  Ziegenfell  überspannt,  an  der  anderen  offen, 
in  der  Mitte  etwas  zusammengedrückt  ist.  Indem  man  mit  der 
flachen  Hand  auf  das  überzogene  Ende  schlägt,  erzeugt  man 
trommelähnliche  Töne.  Der  eine  der  drei  alten  Barden  begleitete 
lediglich  durch  Händeklatschen.  Der  Inhalt  der  Gesänge  entzieht 
sich  leider  meiner  Kenntnis;  er  war  aber  derartig,  daß  die  Ge- 
sichter der  greisen  Sänger,  namentlich  des  einen,  vor  Begeisterung 
strahlten.  Selbstverständlich  belohnten  wir  die  Sänger  und  die 
Dienerschaft  reichlich. 

Vielleicht  wünscht  der  Leser  auch  die  Speisenfolge  kennen 
zu  lernen?  Als  erster  Gang  erschien  in  einer  großen  Schüssel 
mit  konischem  Deckel  Taschin,  ein  Gericht,  das  aus  großen 
Brocken  gedünsteten  Hammelfleisches  besteht,  das  mit  Oliven 
und  Limonenschnitten  in  einer  stark  gepfefferten  Öltunke  liegt. 
Der  Hausherr  reichte  dazu  mit  der  Hand  abgerissene  Stücke 
frischen  Brotes,  wie  es  allgemein  in  Marokko  in  flachen,  etwa 
25  cm  im  Durchmesser  haltenden  Laiben  gebacken  wird.  Es 
ist  frisch  ganz  gut,  hält  sich  aber  nur  wenige  Tage.  Ich  hatte 
dies  Gericht  schon  vor  dreizehn  Jahren  in  Südtunesien  kennen 
gelernt,  wo  mir  ein  Schech  des  halbnomadischen  arabisierten 
Berberstammes  der  Freschisch  in  seinem  Zelte  ein  Gastmahl  gab. 
Es  sagt  dem  europäischen  Gaumen,  weil  zu  fett  und  zu  stark 
gewürzt,  nicht  recht  zu.  Als  zweiter  Gang  erschien  eine  mäch- 
tige Schüssel  Kuskussu,  das  nordafrikanisch-arabische  National- 
gericht, wieder  mit  Hammelfleisch.  Mit  frischer  Butter  zubereitet, 
wie  hier,  ist  es  ein  wundervolles  Gericht;  leider  aber  wird  es  in 
Marokko,  wo  man  nur  ranzig  gewordene  Butter  gut  tindet,  meist 
mit  solcher  bereitet  und  ist  dann  für  Europäer  ungenießbar.  Wie 
oft  habe  ich  meine  Gastfreunde  kränken  müssen,  indem  ich  es 
ablehnte,    den   vorgesetzten    Kuskussu    zu   essen.     Aber   wichtiger 


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als  die  Gesetze  der  Höflichkeit  ist  auf  einer  solchen  Reise  pein- 
lichstes Fernhalten  aller  gesundheitsstörenden  Einflüsse.  Kuskussu 
wird  aus  jeder  Sorte  Mehl,  am  besten  natürlich  aus  Weizenmehl 
hergestellt,  das,  ein  wenig  angefeuchtet,  von  den  Frauen  mit  der 
Hand  zu  griesähnlichen  Kömchen  gerollt  wird  und  dann,  an  der 
Sonne  getrocknet,  lange  haltbar  ist.  Um  daraus  das  Gericht 
herzustellen,  wird  dieser  Grundstoff  in  besonderen  eisernen  oder 
irdenen  Töpfen  mit  Butter  gedämpft  und  dann,  nicht  selten  mit 
einem  Saffranüberguß ,  mit  Stücken  von  Hammel-  oder  Hühner- 
fleisch überdeckt,  aufgetragen.  SelbstverständUch  ißt  man  mit 
den  Fingern,  und  es  gehört  eine  gewisse  Fertigkeit  dazu,  den 
Kuskussu  zu  Kugeln  zu  ballen.  Da  diese  dem  Europäer  abgeht, 
so  erfordert  es  die  arabische  Höflichkeit,  daß  der  Gastgeber  dies 
tut  und  dem  Gast  die  Kugeln  in  den  Mund  schiebt.  Mit  Staunen 
habe  ich  gesehen,  welche  unglaubliche  Mengen  Kuskussu  der 
Marokkaner  verzehren  kann.  Ich  hatte  namentlich  unter  meinen 
Leuten  einen  Neger,  der,  wenn  mir,  wie  es  oft  geschah,  eine 
reichliche  Muna  (Gastgeschenk)  geboten  wurde,  eine  Leistungs- 
fähigkeit im  Essen  besaß,  die  über  das  Menschliche  hinausging. 
Immerhin  hatte  er  sich  zweimal  krank  gegessen  und  konnte  der 
Karawane  nicht  folgen.  Da  seine  sonstigen  Leistungen  diesen 
nicht  entfernt  gleich  kamen,  so  war  ich  schnöde  genug,  ihn,  als 
ich  in  Casablanca  den  Ozean  wieder  erreichte,  unter  Abzug  einer 
Tageslöhnung  zu  entlassen. 

Als  weiterer  Gang  kamen  wieder  Datteln,  Feigen,  Walnüsse 
und  Apfelsinen,  die  zu  pflücken  man  nur  den  Arm  auszustrecken 
brauchte.  Den  letzten  Gang  bildete  ein  ganzes  Viertel  eines 
Hammels,  außerordentlich  saftig  und  wohlschmeckend,  über  off"e- 
nem  Feuer  am  Spieß  gebraten.  Der  Hausherr  riß  mit  der  Hand 
die  saftigsten  Stücke,  namentlich  knusperig  gebratene  Fetteile,  ab 
und  reichte  sie  den  Gästen.  So  wohlschmeckende  Braten  ver- 
mögen allerdings  nur  die  von  den  aromatischen  Pflanzen  der 
Mittelmeerflora  genährten  Hammel  zu  bieten. 

Als  Getränk  beim  Mahle  diente  in  großen,  tiefen  Schalen 
herumgereichte  süße  und  saure  Milch.  Einer  der  Tischgenossen 
nach  dem  anderen,  von  mir  angefangen,  trank  in  langen  Zügen 
und  reichte  die  Schale  dem  Nachbar. 

Jedes  Gericht  ging  von  uns,  den  zwei  Europäern  und  dem 
Hausherrn,    an    die   ,, Marschallstafel" ,    welche    mein    Soldat,    der 


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Diener  und  die  drei  Musikanten  bildeten,  von  dieser  an  die 
weiter  abseits  sitzende  Dienerschaft  des  Hauses.  Das  Mahl  hatte 
auf  meinen  Soldaten  einen  so  überwältigenden  Eindruck  gemacht, 
daß  meine  übrigen,  in  Marrakesch  zurückgelassenen  Leute,  den 
Dolmetscher  eingeschlossen,  von  Schmerz  erfüllt  waren,  nicht  dabei 
gewesen  zu  sein.  Händewaschen  deutete  den  Schluß  des  Mahles 
an.      Nachmals  Tee. 

Ins  Haus  unseres  Gastfreucdes  zurückgekehrt,  wurden  uns 
sehr  verlockend  aussehende  gebratene  junge  Hühner  zum  Ab- 
schiedsimbiß geboten.  Als  wir  die  gänzliche  Unfähigkeit  zu  wei- 
teren kulinarischen  Genüssen  darlegten,  ließ  der  Hausherr  frische 
Brote  kommen,  die  er  geschickt  aufschnitt  und  je  eins  als  Hülle 
eines  Huhnes  verwendete,  so  daß  sie  unsere  Diener  als  Weg- 
zehrung mitnehmen  konnten.  Zum  Glück  hatten  wir  einen  scharfen 
Ritt  vor  uns,  um  Marrakesch  vor  Torschluß  zu  erreichen.  So 
blieb  das  Gastmahl  von  Tameslocht  ohne  üble   Folgen. 

Doch  begeben  wir  uns  wieder  nach  Azila.  Im  Laufe  der 
zwei  Tage  waren  die  Flüsse  noch  mehr  angeschwollen,  die  Wege 
noch  grundloser  geworden.  Ein  Araber,  der  am  Tage  vor  meiner 
Rückkehr  nach  Tanger  auf  dem  kürzesten  Landwege  auf  gutem 
Pferde  von  dort  gekommen  war,  hatte  zwölf  Stunden  gebraucht. 
So  schlug  ich  denn  den  einzig  möglichen,  wenn  auch  sehr  viel 
längeren  Weg  längs  des  Meeres  bis  zum  Kap  Spartel  ein  und 
benutzte  von  da  die  Straße,  welche  die  internationale  Leucht- 
turmkommission angelegt  hat.  Sie  führt  von  diesem  Kap  mit 
dem  einzigen,  von  jener  Kommission  erbauten  und  unterhaltenen 
Leuchtturm  in  ganz  Marokko  nach  Tanger  über  die  Höhe  des 
Djebel.  Alle  Karawanen  von  Fäs  nach  Tanger  mußten  in  dieser 
Zeit  diesen  Umweg  machen  trotz  der  Kosten,  welche  das  Über- 
setzen über  den  Tahaddart  verursacht.  Mein  Gastfreund  geleitete 
mich  zu  Pferde  noch  bis  an  die  Mündung  des  Wed  Aischa 
und  ließ  durch  seinen  Diener  untersuchen,  ob  die  Barre  über- 
haupt gangbar  war.  Wäre  das  nicht  der  Fall  gewesen,  so  hätte 
ich  einfach  wie  Graf  Tattenbach  warten  müssen,  bis  sich  das 
Wasser  verlaufen  hatte. 

Endlich  waren  alle  Vorbereitungen  beendet,  ich  schiffte  mich 
in  Tanger  auf  einem  kleinen  französischen  Handelsdampfer  ein 
und  erreichte  auf  ungewöhnlich  günstiger  Fahrt  am  fünften  Tage 


—     349      — 

Mogador,  den  südlichsten  dem  auswärtigen  Handel  geöffneten 
Küstenplatz  von  Marokko.  Das  Einschiffen  auf  der  Reede  von 
Tanger  war  sehr  schwierig,  denn  es  tobte  ein  heftiger  Oststurm. 
Tanger  ist  wegen  seiner  im  Vergleich  zu  Gibraltar  ungeschützten 
Lage  an  der  Meerenge  ein  arges  Windnest,  was  im  Sommer 
allerdings  angenehm  ist.  Durch  die  Meerenge  nämlich  und  durch 
den  schmalen  Westzipfel  des  Mittelmeeres,  der  im  Norden  wie 
im  Süden  von  hohen  Gebirgen  begrenzt  wird,  vollzieht  sich  der 
Luftdruckausgleich  zwischen  dem  namentlich  im  Winter  große 
Gegensätze  der  Erwärmung  und  des  Luftdrucks  gegenüber  den 
gleichen  Breiten  des  Ozeans  aufweisenden  Mittelmeere  und  dem 
Ozean.  Die  Meerenge  wird  dadurch  zu  einem  der  greulichsten 
Zuglöcher  der  Erde.     Bald  bläst  es  aus  Westen,   bald  aus  Osten. 

Wenig  südlich  von  Kap  Spartel  trat  herrliches  Wetter  ein, 
so  daß  mein  Dampfer  alle  Küstenplätze  anlaufen  konnte,  und  es 
mir  sogar  möglich  war,  überall  zu  landen,  eine  seltene  Gunst  an 
dieser  gefürchteten,  beständig  von  heftiger  Brandung  bestürmten 
Küste.  Kaum  war  ich  in  Mogador  gelandet,  als  der  Sturm 
wieder  losbrach,  und  mein  Dampfer  schleunigst  das  hohe  Meer 
gewinnen  mußte,  um  nicht   an   die   Küste  geworfen  zu  werden. 

In  Mogador  rüstete  ich  meine  Karawane  aus,  da  inzwischen 
auch  mehi  großes  Gepäck  dort  eingetroffen  war.  Dank  der 
überaus  liebenswürdigen  und  tatkräftigen  Llilfe  unseres  dortigen 
Konsuls,  Herrn  von  Maur,  eines  ausgezeichnete^  Kenners  von 
Land  und  Leuten,  war  das  in  vier  Tagen  möglich.  Es  galt, 
Maultiere  und  Pferde  zu  kaufen,  was  sich  empfiehlt,  um  von  den 
Vermietern  unabhängig  zu  sein,  ferner  Leute  anzuwerben,  vor 
allem  einen  Soldaten,  der  vertragsmäßig  jeden  Reisenden  be- 
gleiten muß,  zum  Ausdruck,  daß  derselbe  mit  Erlaubnis  und 
unter  dem  Schutze  der  Regierung  reist.  Die  Menschenkenntnis 
unseres  Konsuls  verschaffte  mir  einen  relativ  so  tüchtigen  Sol- 
daten, daß  ich  denselben  auf  der  ganzen  Reise  behalten  und 
erst  in  Tanger  entlassen  habe.  Dann  galt  es  auch,  die  drei  von 
der  Gesellschaft  für  Erdkunde  in  Berlin,  der  ich  für  Förderung 
meiner  Reise  zu  großem  Danke  verpflichtet  bin,  mir  geliehenen 
Zelte  der  Landesnatur  anzupassen.  Sie  hatten  Dr.  von  Drygalski 
in  Grönland  gedient!  Mit  Rücksicht  auf  die  heftigen  Wirbel- 
stürme, die  schon  im  Frühling  im  Innern  gelegentlich  auftreten, 
und  die  mein  Dolmetscher  schon  hinreichend  kennen  gelernt  hatte, 


—     350     — 

mußten  die  Stricke  verstärkt  und  die  Zeltpflöcke  sorgsam  herge- 
richtet werden.  Zu  letzteren  wählte  ich,  des  Felsbodens  wegen, 
das  festeste  Holz,  das  im  Lande  vorkommt,  das  wirklich  eisen- 
feste Holz  von  Argania  sideroxylon,  einem  ölhaltige  Früchte  tra- 
genden Baume,  der  auf  der  ganzen  Erde  nur  in  Südwestraarokko 
vorkommt,  allerdings  —  wie  ich  nachgewiesen  habe  —  viel  weiter 
nach  Norden,  als  man  bisher  annahm,  nämlich  noch  nördlich  vom 
Um-er-Rbia,  dem  Strome  Mittelmarokkos,  Recht  bezeichnend 
war  es,  daß  ich,  um  die  Zeltpflöcke  rechtzeitig  zu  bekommen, 
einfach  meinen  Soldaten  in  die  Werkstätte  des  Schreiners  stellen 
mußte  mit  dem  Befehl,  denselben  keine  andere  Arbeit  anrühren 
zu  lassen,  bis  die  Zeltpflöcke  fertig  gehauen  waren.  Könnte  man 
doch  bei  den  Handwerkern  unserer  Kleinstädte  so  verfahren! 

Am  Morgen  des  Palmsonntags,  den  26.  März,  ritt  ich  aus 
dem  Tore  von  Mogador  gegen  Nordnordosten,  um  den  Tensift, 
den  Hauptfluß  von  Südmarokko,  zu  erreichen.  Das  nächste  Ziel 
war  das  Tal  von  A'in  el  Hadschar,  an  der  Südostseite  des  schmalen, 
nahe  der  Küste  steil  aufsteigenden  Dschebel  Hadid  (Eisengebirge). 
Ich  legte  diese  Strecke  in  Gesellschaft  der  Familie  und  des 
ganzen  Haushalts  unseres  Konsuls  zurück,  der,  wie  alljährlich  im 
Frühling  und  im  Herbst  an  diesem  lieblichen  Fleckchen  Erde 
ein  paar  Wochen  verbringt.  Zuweilen  schließen  sich  auch  andere 
Familien  an.  Mogador  ist  ein  weißer  Steinhaufen,  sozusagen  auf 
einer  Insel ,  an  der  Landseite  von  einem  breiten  Gürtel  vege- 
tationsloser hoher  Dünen  umgeben,  ohne  alles  Grün.  Ohne  eine 
solche  Abwechselung,  zumal  auch  gesellige  Zerstreuungen  bei  der 
geringen  Zahl  der  Europäer  kaum  geboten  werden,  würde  das 
Leben  dort  unerträglich  sein.  Der  sinnige  Deutsche  flüchtet 
sich  da  in  die  Natur.  Eine  herrliche  Quelle,  die  unter  Felsen 
hervorbricht,  daher  Ain  el  Hadschar,  die  Steinquelle,  genannt,  schafft 
hier,  25  km  von  Mogador,  nur  etwa  10  km  vom  Meere,  aber 
durch  einen  mit  Buschwald  bedeckten  Bergrücken  davon  ge- 
trennt, eine  Gartenoase,  die  freilich  heute  verwildert  daliegt.  Im 
Tale  selbst  findet  sich  keine  Siedelung,  nur  eine  malerische 
Kubba;  auf  den  umgebenden  Höhen  aber  erblickt  man  zahlreiche 
kleine  Berberndörfer.  Ich  schlug  meine  Zelte  neben  denjenigen 
unseres  Konsuls  auf  und  genoß  ein  paar  Tage  die  Gastfreund- 
schaft dieser  lieben  Menschen.  Die  Umgebung,  die  landschaft- 
lich,   geographisch    und    geologisch    äußerst   anziehend    ist,    zeigt 


—     351     — 

allenthalben  die  Spuren  eines  uralten,  wohl  auf  die  Karthager 
zurückgehenden  Eisenbergbaus.  A'in  el  Hadschar  ist  wie  ge- 
schaffen, um  einmal  ein  klimatischer  Winterkurort  ersten  Ranges 
zu   werden. 

Am  30.  März  brach  ich  von  Ain  el  Hadschar  auf  und  erreichte 
in  starkem  Tagemarsche  den  Tensift  bei  Sidi  A'issa  el  Bochabia, 
wo  derselbe  aus  engem  Felsentore,  etwa  18  km  vom  Meere,  in 
die  kleine  Küstenebene  El  Amr  eintritt.  Hier  lag  die  Grenze 
des  wissenschaftlich  Unbekannten.  Das  untere,  vielgewundene, 
felsige,  daher  wenig  wegsame  Tensifttal  war  bisher  so  gut  wie 
unbetreten.  Das  bestimmte  mich,  den  Versuch  zu  machen,  dem- 
selben zu  folgen  und  den  Lauf  des  Flusses  zu  erforschen  und 
aufzunehmen.  Es  gelang  allerdings  nur,  indem  ich  mich  andert- 
halb Tage  von  meiner  Karawane,  die  gebahnte  Wege  nördlich 
vom  Flusse  einschlug,  trennte  und  nur  von  meinem  Soldaten  und 
einem  Ortseingeborenen  als  Führer  und  Furtsucher  begleitet,  vor- 
drang. Ich  mußte  den  Fluß  bis  Marrakesch  nicht  weniger  als 
siebzehnmal  durchreiten,  was  nur  bei  dem  ungewöhnlich  niedrigen 
Wasserstande  möglich  war.  Die  Trennung  von  meiner  Karawane 
und  dem  Dolmetscher,  der  eben  zugleich  Karawanenführer  war, 
hatte  für  die  Erforschung,  abgesehen  von  anderen  Unbequemlich- 
keiten, den  Übelstand,  daß  ich,  zu  Sprachlosigkeit  verurteilt, 
keine  Erkundigungen  einziehen  konnte.  Der  Fluß  durchströmt 
zum  Teil  ein  furchtbar  ödes  Steppenland. 

Am  4.  April  traf  ich  in  Marrakesch  ein  und  fand,  wie 
schon  erwähnt,  dank  der  werktätigen  Hilfe  des  dort  wohnenden 
jungen  deutschen  Kaufmanns  Heinrich  Marx,  Vertreter  des  glei- 
chen Hauses  in  Mogador,  Unterkunft  in  dem  mir  zur  Verfügung 
gestellten  Hause  eines  deutschen  Schutzbefohlenen.  Das  liebens- 
würdige Entgegenkommen  seitens  der  Herren  Marx  und  aller  in 
Marokko  lebenden  Deutschen  wird  mir  immer  in  dankbarer  Er- 
innerung bleiben.  Hier  bewährte  sich  mein  Spahi  vorzugsweise 
als  Koch,  denn  ich  mußte,  ganz  wie  draußen  in  der  Steppe, 
eigenen  Haushalt  führen.  Da  der  Geleitsbrief  des  Sultans,  in 
dessen  Residenz  ich  mich  jetzt  befand,  noch  immer  nicht  aus- 
gefertigt war,  obwohl  er  schon  im  Februar,  sofort  nach  meiner 
Ankunft  von  selten  der  Gesandschaft  beantragt  worden,  so  ver- 
längerte sich  mein  Aufenthalt  in  Marrakesch  auf  siebzehn  Tage; 
denn  da  wenig  sichere  Gegenden  vor  mir   lagen,    so    konnte  ich 


—     352     — 

ohne  einen  solchen  Geleitsbrief  nicht  weiter.  Ich  nutzte  diese 
Zeit  gründlich  zur  Erforschung  der  näheren  und  weiteren  Um- 
gebung von  Marrakesch  aus.  Hier,  nach  zwei  Monaten,  stieß  nun 
endlich  auch  mein  von  vornherein  in  Aussicht  genommener  Be- 
gleiter, der  österreichische  Hauptmann  E.  Wimmer,  ein  naher 
Verwandter,  zu  mir.  Er  war  im  Augenblicke  der  Abreise  von 
Wien  erkrankt,  hat  mich  aber  in  der  zweiten  Hälfte  der  Reise 
in  überaus  dankenswerter  Weise  bei  meinen  vielseitigen  Arbeiten 
unterstützt.  Zugleich  mit  ihm  kam  ein  bekannter  deutscher  Welt- 
reisender an,  Herr  Graf  Joachim  Pfeil,  um  mit  uns  für  die  näch- 
sten drei  Wochen  Freude  und  Leid  zu  teilen.  Beide  Herren 
hatten  den  viel  begangenen  Weg  von  Mogador  her  benutzt. 

Der  wissenschaftlich  wichtigste,  schwierigste  und  anstrengendste 
Teil  der  Reise  folgte  nun.  Am  21,  April,  als  endlich  der  Sultans- 
brief in  meine  Hand  gelangt  war,  brachen  wir  von  Marrakesch 
auf.  Zunächst  ging  es  nach  Osten  durch  die  Hochebene  immer 
näher  ans  Gebirge  und  schließlich  in  eines  der  Atlastäler  hinein 
bis  Demnat,  Hier  fand  ich  eine  ausgesucht  unhöfliche  Aufnahme 
seitens  des  Stellvertreters  (Khalifa)  des  Gouverneurs,  der  selbst 
noch  in  Marrakesch  war,  das  einzige  Mal  auf  der  ganzen  Reise 
—  soweit  Beamte  des  Sultans  in  Frage  kamen.  Denn  Aus- 
spucken, Flüche  und  Verwünschungen  der  Bevölkerung  habe  ich 
oft  genossen.  Das  hat  mir  aber  keinen  Kummer  gemacht.  Auch 
das  ließ  sich  ertragen,  daß  man  gelegentlich  alle  Lebensmittel 
verweigerte,  da  ich  schon  einmal  mit  Konserven  auskommen 
konnte.  Schlimmer  war  es,  wenn  mir  Milch  verweigert  wurde, 
auf  die  ich  großes  Gewicht  legte.  Im  Winter  und  im  Frühling, 
wenn  die  Steppe  überall  grün  ist  und  Futter  reichlich  vorhanden, 
ist  auch  fast  überall  Milch  zu  erhalten.  Einmal,  allerdings  in 
der  Nähe  einer  Sauia  (etwa  eines  Klosters),  die  immer  Sitze  des 
mohammedanischen  Fanatismus  sind,  verhöhnte  man  mich  noch, 
indem  man  Kuhherden  mit  strotzenden  Eutern  an  meinem  Lager 
vorbeitrieb. 

Als  ich  in  Demnat  einritt,  erwartete  ich  vergebens,  daß  mir 
der  Khalifa  oder  wenigstens  ein  von  ihm  Beauftragter  entgegen- 
komme, um  mich  zu  begrüßen  und  den  Lagerplatz  anzuweisen, 
obwohl  ich  einen  Reiter  vorausgeschickt  hatte,  um  mich  anzu- 
melden. Ich  ritt  durch  die  Stadt  bis  vor  die  Kasbah,  keine 
amtliche   Persönlichkeit   ließ   sich    seilen,    trotzdem   uns   Hunderte 


—     353     — 

von  Menschen  umdrängten.  Da  riß  mir  die  Geduld,  und  ich 
ergriff,  wie  ich  wußte,  das  einzig  wirksame  Mittel:  ich  gab  mit 
dem  nötigen  Minenspiel,  das  alle  verstanden,  meiner  Empörung 
über  diese  Art,  einen  Europäer,  einen  Deutschen,  zu  empfangen, 
der  mit  einem  Geleitsbriefe  und  als  Gast  des  Sultans  reise, 
kräftigen  Ausdruck ;  ich  erklärte,  solch  ein  Empfang  sei  mir  noch 
nirgends  zuteil  geworden,  und  ich  würde  darüber  sofort  an  den 
Sultan  berichten.  Mein  Dolmetscher  mußte  dies  der  lauschenden 
Menge  übersetzen  und  ich  glaube,  er  hat  es  in  nicht  mißzuver- 
stehenden Ausdrücken  getan,  denn  er  wußte  wohl  noch  besser 
als  ich,  daß  es  schlimm  um  uns  stehen  werde,  werm  es  nicht 
gelänge,  den  Leuten  zu  imponieren.  Darauf  gab  ich  Befehl,  die 
ganze  Karawane  solle  umkehren  und  das  Lager  auf  einem  freien 
Platze  aufgeschlagen  werden,  den  ich  innerhalb  der  Stadtmauern, 
nahe  dem  Tore,  beim  Einreiten  gesehen  hatte.  So  geschah  es. 
Noch  waren  meine  Leute  nicht  mit  dem  Aufschlagen  der  Zelte 
fertig,  da  zeigte  sich  die  Wirkung:  der  Khalifa  mit  Gefolge  er- 
schien, um  sich  zu  entschuldigen  und  uns  einzuladen,  in  der 
Kasbah  abzusteigen.  Ich  wies  ihn  zurück  und  verharrte  dabei, 
ich  würde  dem  Sultan  berichten.  Nicht  lange  dauerte  es,  da 
kam  eine  Schar  von  Dienern  und  brachte  eine  reiche  Muna 
(Gastgeschenk),  wie  sie  allerdings  die  Gouverneure  denen  zu 
liefern  verpflichtet  sind,  die  mit  einem  Geleitsbriefe  des  Sultans 
reisen:  einen  Hammel,  ein  halb  Dutzend  Hühner,  einen  Korb 
mit  Eiern,  ein  halb  Dutzend  (kleiner)  Zuckerhüte,  einige  Packete 
Kerzen  und  reichlich  Gerste  für  die  Tiere,  Ich  wies  alles  mit 
Stolz  und  Verachtung  zurück,  wobei  ich  freilich  Mühe  hatte,  mir 
das  Lachen  über  die  Komödie  zu  verbeißen.  Erst  auf  dringendes 
Bitten  meiner  Leute,  denen  der  etwaige  Verlust  der  schönen 
Sachen  doch  nahe  ging,  ließ  ich  mich  herab,  sie  anzunehmen 
und  schließlich  dem  Khalifa  auf  nochmaliges  Bitten  zu  erklären, 
daß  ich  versöhnt  sei  und  keinen  Bericht  an  den  Sultan  machen 
werde.  Ein  derartiges  Auftreten  war  unerläßlich,  denn  der  Ma- 
rokkaner erkennt  nur  in  dem  den  Herrn,  der  auch  als  solcher 
auftritt.  Ich  wäre  auch  meinen  Leuten  gegenüber,  auf  die  ich, 
wenigstens  noch  für  den  vor  mir  liegenden  neuntägigen  an- 
strengenden Marsch  durch  zum  großen  Teil  unbekanntes  Gebiet 
angewiesen  war,  verloren  gewesen,  wenn  ich  mir  diese  umziem- 
liche Behandlung  hätte  gefallen  lassen. 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  23 


—     354     — 

Zum  Teil  erklärte  sich  allerdings  das  Benehmen  des  Khalifa. 
Der  arme  Mann  hatte  den  Kopf  verloren  und  war  selbst  in  einer 
sehr  gefährlichen  Lage.  Schon  am  frühen  Morgen,  beim  Auf- 
bruch aus  der  Kasbah  von  Tifsist,  wo  wir  die  letzte  Nacht  ver- 
bracht hatten,  kam  die  Nachricht,  zwanzig  Insassen  des  Gefäng- 
nisses von  Demnat  seien  ausgebrochen.  Auch  bei  uns  wäre  das 
keine  der  Bevölkerung  und  der  verantwortlichen  Behörde  ange- 
nehm klingende  Nachricht.  Nun  vollends  in  Marokko !  Wie  ein 
Gefängnis  in  Marokko  beschaffen,  ist  ja  oft  geschildert  worden, 
niemals  übertrieben,  so  haarsträubend  uns  auch  diese  Schilde- 
rungen erscheinen  mögen.  Dem  entspricht  die  Stimmung  der 
Gefangenen.  Diese  sind  entweder  tatsächlich  der  Abschaum  der 
Bevölkerung,  Räuber  und  Mörder,  oder  ganz  unschuldige,  biedere 
Leute,  die  nur  das  Unglück  haben,  dem  örtlichen  Machthaber  zu 
mißfallen  oder  im  Verdachte  stehen,  Geld  zu  besitzen.  Daß 
Leute  bloß  zu  Erpressungszwecken  ins  Gefängnis  geschickt  werden, 
ist  eine  alltägliche  Erscheinung,  selbst  in  Tanger  unter  den  Augen 
der  europäischen  Vertreter  soll  dies  vorkommen.  Die  Furcht 
des  Khalifa  war  also  eine  doppelte  und  wohlbegründete,  einmal 
vor  den  ausgebrochenen  Verbrechern,  andererseits  vor  seinem 
Kaid,  der  ihn  dafür  zur  Verantwortung  ziehen  würde.  Aber  auch 
die  Bevölkerung  selbst  war  in  Furcht  und  Aufregung,  namentlich 
die  zahlreiche  Judenschaft,  die  dort  in  sehr  gedrückter  Lage  ist 
und  bei  jedem  Aufstande  zuerst  geplündert  wird.  In  der  Tat 
ertönte  die  ganze  Nacht  hindurch  Geschrei  und  fielen  Schüsse, 
so  daß  von  Nachtruhe  kaum  die  Rede  war.  Man  sagte  mir,  es 
seien  die  Juden,  die  auf  diese  Weise  ihre  Wachsamkeit  be- 
kundeten. Meine  Lagerwache  war  in  dieser  Nacht  auch  beson- 
ders stark. 

Auf  der  ganzen  Reise  nämlich  wurde  jede  Nacht  eine  Wache, 
je  nachdem  zwei  bis  sechs  Mann,  um  die  Zelte  aufgestellt,  ganz 
abgesehen  davon,  daß  wir  mit  Revolvern,  zum  Teil  auch  mit 
Gewehren  bewaffnet  waren,  und  daß  ich  stets  den  schon  er- 
wähnten Soldaten  bei  mir  hatte.  Auf  dessen  Ansuchen  mußten 
die  Bewohner  des  Dorfes  oder  Zeltlagers,  bei  welchem  ich  näch- 
tigte, die  Wachen  stellen.  Ich  entschädigte  dieselben  in  der 
Regel  durch  ein  kleines  Geldgeschenk ,  wie  ich  auch  stets  den 
Leuten,  welche  die  Muna  brachten,  den  Wert  derselben  an- 
nähernd ersetzte,  obwohl  ich  wußte,  daß  die  armen  Bauern,  denen 


—     355     — 

man  einfach  wegnimmt,  was  als  Muna  geboten  werden  soll,  und 
meist  das  Doppelte  und  Dreifache,  nichts  davon  erhielten.  Um 
Wachen  zu  erlangen,  andererseits  auch  der  Sicherheit  im  allge- 
meinen wegen,  die  nachts  eine  sehr  geringe  ist,  mußte  ich  daher 
stets  entweder  inmitten  eines  Zeltlagers  das  meine  aufschlagen 
oder,  was  noch  schlimmer  war,  in  einer  Kasbah  übernachten. 
Da  galt  es  lange  Gespräche  mit  dem  Gastgeber  zu  führen,  wäh- 
rend ich  die  kostbare  Zeit  zur  Ergänzung  und  Lesbarmachung 
der  im  Laufe  des  Tages  im  Sattel  gemachten  Notizen  brauchte. 
Ja,  es  kam  wohl  vor,  daß  eigens  mir  zu  Ehren  Sänger  die  halbe 
Nacht  sangen.  Dazu  der  Lärm  der  Esel,  die  einer  nach  dem 
anderen  ihre  Stimme  erhoben,  das  Bellen  der  zahlreichen  bissigen 
Hunde,  das  Krähen  der  Hähne,  das  Geschwätz  und  Singen  der 
Wachen,  die  sich  so  munter  erhielten,  und  schließlich  die  Über- 
fülle von  Ungeziefer!  Wie  glücklich  war  ich,  wenn  ich  einmal 
außerhalb  eines  bewohnten  Ortes,  mitten  in  der  freien  Steppe 
mein  Lager  aufschlagen  konnte.  Ohne  Wache  bin  ich  nur 
einmal  gewesen.  Es  war  am  Ufer  des  Sebu,  den  ich  nach  einem 
heißen,  anstrengenden  Marsche  an  der  Meschera  Bab  el  Ksiri 
überschritten  hatte.  Das  ursprünglich  ins  Auge  gefaßte  Ziel 
sollte  nur  anderthalb  Reitstunden  entfernt  sein.  Aber  ich  miß- 
traute nach  vielfachen  Erfahrungen  dieser  Angabe  und  ließ  un- 
mittelbar am  Flusse,  weit  ab  von  jedem  bewohnten  Orte,  Halt 
machen.  Mein  Soldat  und  der  Dolmetscher  mußten  in  der  Nacht 
wachen,  da  in  dieser  Gegend  nur  Versuche,  unsere  Tiere  zu 
stehlen,  zu  befürchten  waren.  Die  Futterfrage  war  leicht  gelöst: 
ein  Feld  mit  reifer  Gerste,  dicht  neben  dem  Lager,  nährte  Ka- 
mele, Pferde  und  Maultiere. 

Von  Demnat  ging  der  Marsch  in  zunächst  nördlicher  Rich- 
tung durch  die  subatlantische  Hochebene  an  den  Um-er-Rbia, 
den  wir  an  der  Meschera  bu  Challü  überschritten ;  dann  am 
rechten  Ufer  des  Stromes,  dessen  Lauf  dort  noch  ganz  unbekannt 
war,  durch  die  öde  Steppe  der  Beni  Meskin  nach  Nordwesten 
und  schließlich,  als  es  nicht  mehr  möglich  war,  dem  Strome,  der 
dort  in  eine  wilde  Felslandschaft  eintritt,  zu  folgen,  in  ziemlich 
nördlicher  Richtung  über  die  fruchtbare  Hochebene  von  Schauia 
an  die  Küste,  die  wir  bei  Casablanca  erreichten.  Auf  diesem 
Marsche  wurde  also  das  Atlasvorland  in  seiner  größten  Breite 
gequert.     Das    hat,    wie    die    zusammenfassende    Darstellung    der 

23* 


—     356     — 

wissenschaftlichen  Ergebnisse  der  Reise  zeigen  wird,  unsere  Vor- 
stellungen über  die  wichtigsten  geographischen  Verhältnisse  des 
Landes  vielfach  berichtigt  und  geklärt. 

Auch  die  weitere  Reise,  von  Casablanca  zunächst  in  zwei- 
tägigem Marsch  an  der  Küste  entlang  nach  Rabat,  von  da 
wiederum  in  östlicher  Richtung  ins  Innere  nach  Meknäs  und  Fäs, 
der  nördlichen  Hauptstadt,  und  von  da  auf  oft  begangenen 
Wegen  nach  Tanger  war  an  Ergebnissen  reich. 

Wenn  ich  zum  Schluß  die  über  Marokko  im  ganzen  emp- 
fangenen Eindrücke  in  einige  Sätze  zusammenfassen  darf,  so  kann 
ich  nur  sagen,  daß  dasselbe  als  ein  von  der  Natur  reich  ausge- 
stattetes, nach  Lage  und  Weltstellung  außerordentHch  bevorzugtes 
Land  erscheint,  das  aber  durch  eine  grauenvolle  Willkürherrschaft 
verödet  und  entvölkert  ist.  Kein  Mensch  ist  seines  Lebens  und 
Eigentums  sicher.  Der  Dorfschech  schindet  seine  Bauern,  um 
sich  zu  bereichern;  hat  er  sich  vollgesogen,  so  fällt  er  dem  Kaid 
zum  Opfer,  der  seinerseits  über  kurz  oder  lang,  wenn  ein  anderer 
für  seine  Stelle  mehr  bietet  oder  die  freiwilligen  Geschenke,  die 
er  dem  Sultan  und  seiner  Umgebung  alljährlich  bringen  muß, 
nicht  groß  genug  erscheinen,  unter  irgend  einem  Vorwande  an 
den  Hof  befohlen,  seiner  Schätze  beraubt  wird  und  im  Kerker 
verschwindet.  Die  Sultane  ihrerseits  endigen  meist  durch  Gift. 
Nur  derjenige,  der  gar  nichts  hat,  ist  einigermaßen  sicher.  Jedes 
Streben  nach  Erwerb  wird  durch  dies  System  erstickt.  Kunst 
und  Handwerk,  von  deren  Blüte  in  früheren  Jahrhunderten  man 
noch  hie  und  da  Spuren  sieht,  sind  in  den  tiefsten  Verfall  ge- 
raten. Einem  geschickten  Handwerker  wird  seine  Geschicklich- 
keit zum  Fluch:  er  muß  gegen  schlechten  Lohn  für  den  Kaid 
oder  den  Sultan  arbeiten.  Alte  Familien  mit  ererbtem  Reichtum 
gibt  es  kaum  noch.  Jeder  sucht  zu  verstecken,  was  er  besitzt; 
der  Reiche  vergräbt  sein  Geld,  der  Bauer  verbirgt  seine  Getreide- 
vorräte und  was  er  sonst  an  wertvoller  Habe  besitzt,  in  Mata- 
moren,  unterirdischen  Behältern,  die  er  in  dunklen  Nächten  her- 
stellt, und  deren  Spuren  er  so  sorgsam  verwischt,  daß  kein  an- 
derer sie  auffinden  kann.  Aufstände  der  gequälten,  bis  aufs 
Mark  ausgesogenen  Bewohner  der  einzelnen  Provinzen  gegen 
ihren  Gouverneur  oder  den  Sultan  sind  an  der  Tagesordnung. 
Um  sie  zu  verhindern,  wird  geflissentlich  der  Haß  und  die  Eifer- 
sucht von  Stamm  zu  Stamm,  von  Provinz  zu  Provinz  genährt  und 


—     357      — 

gelegentlich  eine  Provinz  der  anderen  zum  „Aufessen",  wie  der 
Kunstausdruck  lautet,  überlassen.  Grauenvolle  Szenen  sind  mir 
von  einem  zuverlässigen  Gewährsmanne  aus  dem  Aufstande  der 
südöstlich  von  Rabat  im  Innern  wohnenden  Berbernstämme  im 
Jahre  1897  berichtet  worden.  Der  Sultan  selbst  zog  gegen  sie 
zu  Felde.  Anfangs  wurde  zur  Anfeuerung  der  Soldaten  für  jeden 
eingelieferten  Kopf  eines  Aufständigen  i  Duro  (5  Francs)  gezahlt. 
Als  aber  zu  viele  Köpfe  eingingen  —  die  Soldaten  zogen  es 
natürhch  vor,  friedlichen  Kameltreibern  und  ähnlichen  Leuten  die 
Köpfe  abzuschneiden  — ,  setzte  man  den  Preis  herab  und  zahlte 
schließlich  gar  nichts  mehr.  Das  hatte  aber  zur  Folge,  daß  sofort 
Massendesertionen  im  Heere  eintraten,  da  die  Soldaten  mit  etwa 
40  Pfennigen,  die  sie  täglich  als  Sold  erhielten,  um  so  weniger 
leben  konnten,  als  bald  Hungersnot  im  Lager  ausbrach,  da  es 
niemand  der  Unsicherheit  wegen  wagte,  Getreide  aus  den  Küsten- 
plätzen, wo  reiche  Vorräte  vorhanden  waren,  ins  Innere  zu 
bringen.  Die  Tausende  von  Gefangenen,  die  man  gemacht  hatte, 
wurden  zu  Hunderten,  jeder  mit  einem  Ringe  um  den  Hals,  an 
Ketten  zusammengeschlossen.  Fast  ohne  Nahrung  ließ  man  sie 
im  Freien  —  es  war  im  Winter,  wo  in  dieser  Gegend  Nacht- 
fröste vorkommen  —  in  einem  Sumpfe  liegen,  so  daß  täglich, 
wenn  sie  sich  am  Morgen  erheben  durften,  fünfundzwanzig  bis 
dreißig  Tote  zwischen  den  Lebenden  hingen.  Die  Gefangenen, 
die  nach  Marrakesch  und  nach  Mogador  in  das  große,  als  Ge- 
fängnis dienende  Mauerviereck  auf  der  vor  der  Stadt  liegenden 
Insel  gebracht  wurden,  starben  bei  solcher  Behandlung  zu  Tau- 
senden. Im  Marrakesch  ließ  man  einmal  vier  Tage  lang  die 
Toten  unter  den  Lebenden  liegen. 

Wenn  sich  diese  Szenen  unter  den  Augen  des  Herrschers 
und  des  Großveziers  vollzogen,  so  möge  noch  ein  anderes  Bild 
das  väterliche  Walten  eines  Provinzgouverneurs  veranschaulichen. 
Diese  Tatsachen  reichen  allerdings  ins  Jahr  1871  zurück,  sind 
aber  heute  noch  gerade  so  mögUch.  Gewährsmann  ist  der  be- 
rühmte englische  Botaniker  Sir  Joseph  Hooker,  der  1872  das 
fragliche  Gebiet  bereiste.  Einer  der  furchtbarsten  Blutsauger 
war  der  Kaid  von  Haha,  einer  Landschaft  südwestlich  von  Mo- 
gador. Da  er  aber  einen  großen  Teil  seiner  Erpressungen  an 
den  Sultan  ablieferte,  konnte  er  sich  lange  behaupten.  Sich 
stetig   erneuernde  Aufstände   wurden   mit   unerhörter  Grausamkeit 


-     358     - 

unterdrückt.  Einmal  wurden  Hunderte  von  Aufständischen  mit 
dem  sogenannten  „Lederhandschuh"  bestraft.  Schon  das  Vor- 
handensein eines  solchen  Kunstausdrucks  ist  bezeichnend.  Es 
wird  dabei  dem  beklagenswerten  Opfer  die  eine  Hand  mit  einer 
Kette  auf  dem  Rücken  befestigt,  in  die  andere  gibt  man  ein 
Stück  ungelöschten  Kalk,  schließt  sie,  umwickelt  sie  fest  mit 
einem  Stück  rohen  Leders  und  taucht  sie  in  Wasser.  Nach  neun 
Tagen  wird  die  gefesselte  Hand  frei  gegeben.  Ist  inzwischen 
noch  nicht  der  Brand  eingetreten,  und  befreit  der  Tod  nicht 
den  Unglücklichen  von  seinen  Qualen,  so  ist  er  für  sein  Leben 
ein  Krüppel.  Endlich,  1871,  zwang  ein  Aufstand  den  zugleich 
in  eine  Fehde  mit  dem  Kaid  der  Nachbarprovinz  Mtuga  ver- 
wickelten Biedermann  zur  Flucht.  Aber  mit  Hilfe  des  Kaids  der 
anderen  Nachbarprovinz  Schedma  gelang  es  ihm,  nicht  nur  sich 
selbst  und  seinen  Harem,  sondern  auch  seine  Schätze,  einund- 
zwanzig Maultierladungen,  in  Sicherheit  zu  bringen.  Er  kam 
glücklich  nach  Marrakesch,  opferte  dem  Sultan  die  Hälfte  seines 
Blutgeldes  und  verbrachte  den  Rest  seiner  Tage  in  Frieden. 
Bei  der  Erstürmung  seiner  Kasbah  fand  man  zwei  eingemauerte 
Skelette,  in  denen  man  die  Reste  zweier  Neffen  des  Scheusals 
erkannte,  die  vor  einigen  Jahren  spurlos  verschwunden  waren. 
Neben  der  Beute,  welche  die  Aufständischen  machten,  befanden 
sich  auch  große  Vorräte  von  Butter  und  Honig,  die  zu  ver- 
schmausen sie  sich  sofort  angelegen  sein  ließen.  Bald  zeigten 
sich  die  Folgen:  in  Voraussicht  dessen,  was  kommen  werde, 
hatte  der  fürsorgliche  Herrscher  vor  Antritt  der  Flucht  noch  Zeit 
gefunden,  diese  Vorräte  zu  vergiften! 

Durch  und  durch  verfault  und  verrottet,  wie  er  ist,  würde 
dieser  Staat,  dessen  Zustände  eine  Schmach  für  das  christliche 
Europa  sind,  dem  ersten  Stoß  von  außen  erliegen.  Daß  ein  sol- 
cher nicht  erfolgt,  dafür  sorgt  die  Eifersucht  der  Mächte. 

4.  Marokko.     Eine  länderkundliche  Skizze.') 

Auch  bei  uns  in  Deutschland  verbindet  der  allgemein  Ge- 
bildete mit  dem  Worte  Marokko   einen  ganz    vagen  Begriff  eines 

l)  Im  Jahre  1903  in  der  Geogi-aphischen  Zeitschrilt  9.  Jahrg.  2.  Heft 
im  Verlage  von  B.  G.  Teubner,  1905  in  englischer  Übersetzung  im  Report 
des  Smithonian  Institution  in  Washington  erschienen. 


—     359     — 

Staatengebildes  an  der  Nordwestecke  Afrikas.  Aber  selbst  unter 
Fachgenossen  dürfte  keine  volle  Klarheit  darüber  herrschen,  daß 
wir  unter  dem  Namen  Marokko  eine  ganze  Gruppe  von  Ländern 
und  Landschaften  zusammenfassen,  die  nur  durch  religiöse  Be- 
ziehungen ganz  lose  geeint  sind,  von  denen  aber  nur  ein  Bruch- 
teil und  in  unablässig  wechselnden  Grenzen  eine  Art  staatlichen 
Verbandes,  dank  dem  Vorhandensein  einer  beherrschenden  Land- 
schaft, dem  Atlasvorlande,  bilden.  Darin  kommt  schon  unsere 
geringe  Kenntnis  dieses  Teiles  von  Afrika  zum  Ausdruck.  Staats- 
gewalt und  Bewohner  sind,  wenn  auch  aus  verschiedenen  Grün- 
den, in  der  möglichsten  Fernhaltung  der  Europäer  von  jeher 
einig  gewesen. 

Erst  in  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  ist  es  gelungen,  auch 
diesen  letzten  Teil  des  dunkeln  Erdteils  wenigstens  in  den  großen 
Zügen  aufzuhellen,  wobei  politische  Bestrebungen  eine  große  Rolle 
gespielt  haben.  Dem  entspricht  es,  daß  französische  Forscher, 
fast  ausnahmslos  aktive  oder  inaktive  Offiziere,  in  dieser  Hinsicht 
das  größte  Verdienst  haben.  Was  der  Vicomte  de  Foucauld 
und  der  Marquis  de  Segonzac  hier  geleistet  haben,  gehört  zu 
den  höchsten  Forscherleistungen  auf  afrikanischem  Boden.  Viel 
wertvolles,  namentlich  kartographisches  Material,  das  französische 
Offiziere,  besonders  der  Mission  militaire,  auf  ihren  Reisen  durch 
das  Land  gesammelt  haben,  dürfte  noch  in  den  Mappen  des 
französischen  Kriegsministeriums  schlummern.  Von  anderen  mögen 
nur  die  Engländer  Hooker,  Maw,  Ball,  Harris,  die  Deutschen 
v.  Fritsch  und  Rein  genannt  werden.  Ich  selbst  schenke  Ma- 
rokko seit  Jahrzehnten  besondere  Aufmerksamkeit  und  habe  das 
Land    18^8,    1899  und   1901    zu  Forschungszwecken   bereist. 

Eine  irgendwie  wissenschaftlich-geographischen  Anforderungen 
genügende  Darstellung  ist  nicht  vorhanden.  Die  beste  Karte  ist 
die  von  R.  de  Flotte  Roquevaire  in  i  :  1 000000,  der  eine 
sichere  Unterlage  in  dem  mit  ungewöhnlichem  Fleiße  und  Scharf- 
sinn geschaffenen  Werke  von  P.  Schnell^)  und  der  von  ihm 
entworfenen  Karte  in    i   :   i  750000  gegeben  war. 

Die  Grenzen  von  „Marokko"  sind  nach  Südosten  ganz  un- 
bestimmt, dem  entsprechend  auch  die  Größe.     Nach  einer  rohen 


i)  Das    marokkanische   Atlasgebirge.     Ergänzungsheft   Nr.  103    zu  Pet. 
Mitt.  Gotha,  J.  Perthes    1892. 


—     36o     — 

Schätzung  schreibe  ich  dieser  Ländergruppe  einen  Flächeninhalt 
von  600000  qkm  zu.  Tuat  schließe  ich  dabei  natürlich  aus, 
Tafilalet,  das  ganze  Draagebiet,  die  Landschaft  Tekna  und  die 
Gebiete  südwärts  bis  zur  Sakiet-el-Hamra  dagegen  ein.  Denn 
tatsächlich  übt  der  Sultan  heute  einen  gewissen  Einfluß  bis  süd- 
lich vom  Kap  Juby  aus,  seit  er  die  dort  gegründete  englische 
Handelsniederlassung  für  schweres  Geld  angekauft,  mit  einer  Be- 
satzung von  etwa  60  Mann  belegt  und  den  wirklichen  Herrn  des 
Landes,  den  Scheik  El  Maleynin,  durch  alljährlich  sich  erneuernde 
Geschenke  veranlaßt  hat,  sich  äußerlich  seiner  Oberhoheit  zu  unter- 
stellen. Bezüglich  der  Bevölkerung  begnüge  ich  mich  zunächst  mit 
der  Bemerkung,  daß  dieselbe  etwa  8  Millionen   betragen  mag. 

Wir  sehen  also  hier  ein  Ländergebiet  vor  uns,  dem  schon 
nach  Größe  und  Bevölkerung  eine  große  Wichtigkeit  innewohnt. 
Gesteigert  wird  dieselbe  aber  noch  durch  Lage  und  Weltstellung, 
wie  durch  die  außerordentlichen  inneren  Hilfsquellen.  Marokko 
ist  das  bei  weitem  wichtigste  der  drei  Atlasländer.  Durch  seine 
Ecklage  vermag  es  sowohl  zum  Mittelmeere  wie  zum  Ozeane 
Beziehungen  zu  unterhalten  und  vor  allem  an  der  Beherrschung 
der  Straße  von  Gibraltar,  der  wichtigsten  Straße  des  Weltverkehrs, 
teilzunehmen.  Mehrere  seiner  ohne  großen  Kosten  zu  vortrefflichen 
Häfen  auszubauenden  Seeplätze  am  Ozean  können  zu  Stützpunkten 
des  Weltverkehrs  nach  Westafrika  wie  nach  Süd-  und  Mittelamerika, 
ja  selbst  ins  Mittelmeer  werden.  Larasch  liegt  zur  Straße  von 
Gibraltar  genau  so  günstig  wie  Cadiz.  Andererseits  ermöglichen 
Oasen  und  Brunnen  so  lebhaften  Verkehr  durch  die  große  Wüste 
mit  dem  Nigergebiet,  daß  stets,  bis  auf  die  allerneueste  Zeit,  wo 
die  Franzosen  diese  Wege  unterbunden  haben,  Erzeugnisse  des 
Sudan  in  Menge  nach  Marokko  und  über  Marokko  abgeflossen 
sind,  als  Sklaven  eingeführte  Neger  einen  bedeutenden  Prozent- 
satz der  Bevölkerung  von  Marokko  ausmachen  und  Timbuktu  ein 
Jahrhundert  hindurch  dem  Sultan  von  Marokko  gehorchte.  Er- 
klärten doch  noch  1887  die  Bewohner  von  Timbuktu,  freilich 
nur  um  sich  der  Franzosen  zu  erwehren,  dem  Schiff"sleutnant 
Caron,  daß  sie  von  Marokko  abhängig  seien.  Seine  inneren 
Hilfsquellen  nach  Klima,  Boden  und  Erzvorkommen  können  nicht 
leicht  überschätzt  werden.  Die  Küstenprovinzen  am  Ozean  ge- 
hören dank  ihrer  Schwarzerdedecke  zu  den  reichsten  Ackerbau- 
gebieten der  Erde. 


—     301     — 

Die  großen  Züge  der  wagrechten  und  senkrechten  Gliede- 
rung, die  Bedingungen,  die  hier  eine  Ländergruppe  von  einer 
gewissen,  wenn  auch  losen  Zusammengehörigkeit  geschaffen  haben, 
entwickelungsgeschichtlich  herzuleiten,  ist  jetzt  noch  nicht  mög- 
lich. Immerhin  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  wir  ein  Stück  des 
großen  eurasischen  Faltensystems  vor  uns  haben,  dessen  eines 
südwestlich  streichendes  Faltenbündel,  der  marokkanische  Atlas, 
am  Kap  Ghir  an  einem  Querbruche  endigt,  während  das  andere, 
das  Rifgebirge,  als  Fortsetzung  des  Tellatlas  von  Algerien  nach 
Norden  umbiegend  ebenfalls  an  einem  Querbruche  endigt,  bzw. 
vom  andalusischen  Faltensysteme  getrennt  wird,  der  durch  noch 
heute  fortschreitende  Meereserosion  zur  Straße  von  Gibraltar  aus- 
gearbeitet worden  ist.  Das  Rifgebirge  ist  ein  ganz  junges 
Faltengebirge  und  wesentlich  wie  der  Tellatlas  Algeriens  in  der 
Eozän-  und  Miozänzeit,  ja,  nach  dem  andalusischen  Faltensystem 
zu  schließen,  bis  in  die  Pliozänzeit  emporgefaltet  und  vermutlich 
vorwiegend  aus  Jura  und  Kreide,  gegen  die  Meerenge  hin  aus 
älteren  Schichten  aufgebaut.  In  mehreren  Parallelketten  steil  vom 
Mittelmeere,  der  Abbruchsseite,  mit  Gipfeln  von  mehr  als  2000  m 
Höhe  aufsteigend,  bildet  das  Rifgebirge  mit  seinen  engen  Durch- 
bruchstälern ein  abgeschlossenes,  schwer  zugängliches  Gebirgs- 
land,  das  zu  allen  Zeiten  seinen  berberischen  Bewohnern  es  er- 
möglicht hat,  sich  vom  Joche  fremder  Eroberer  frei  zu  halten. 
Marquis  de  Segonzac  ist  überhaupt  der  erste  Forscher  gewesen, 
der  es  zu  durchqueren  vermocht  hat,  aber  auch  nur  die  mittleren 
und  östlichen  Gegenden,  nicht  die  westlichsten,  das  Gebiet  der 
Djebala.  Eine  echte  Längs-  und  Abschließungsküste  hat  die  an 
kleinen  meist  halbkreisförmigen  Buchten,  Erzeugnisse  der  Bran- 
dungswoge, kleinen  felsigen  Inseln  und  Schlupfwinkeln  reiche  Rif- 
küste  bei  ihrer  Lage  an  der  größten  Welthandelsstraße  bis  in 
die  Gegenwart  die  Rolle  einer  Seeräuberküste  gespielt,  den  spa- 
nischen Presidios  zum  Hohn.  Diese  aus  einer  besseren  Ver- 
gangenheit noch  festgehaltenen  Festungen  liegen  teils  auf  Insel- 
felsen dicht  an  der  Küste  (Penon  de  Velez  de  la  Gomera,  Pehon 
de  Alhucemas,  Las  Zafarinas)  oder  auf  felsigen,  natürlich  festen 
Vorgebirgen  (Genta  und  Melilla).  Die  spanischen  Besatzungen 
werden  aber  hinter  ihren  Mauern  und  Blockhäusern  von  den 
Eingeborenen  dauernd  in  Belagerungszustand  gehalten  und  müssen 
nicht  nur  mit  Lebensmitteln,  sondern  z.  T.  selbst  mit  Trinkwasser  von 


—       3^2       — 

Spanien  aus  versehen  werden.  Nach  innen  ist  die  Grenze  des  Rif- 
gebiets  gegen  den  Atlas  in  einer  hydrographisch  gut  ausgeprägten 
Hohlform  gegeben,  welcher  von  dem  neuerdings  viel  genannten, 
strategisch  äußerst  wichtigen,  daher  Fum  el  R'arb  (Tor  des  Westens) 
genannten  Thasa  nach  Westen  hin  der  Innauen,  ein  rechter 
Nebenfluß  des  Sebu,  des  Hauptflusses  von  Nordmarokko,  nach 
Osten  zur  Muluja  der  kleinere  Msun  folgt,  dann  die  windungs- 
reiche Muluja  selbst  und  ihr  rechter  Nebenfluß  Wed-el-Kseb  bis 
nahe  an  die  Grenzstadt  Udjda.  Diese  auf  der  Wasserscheide 
zwischen  Ozean  und  Mittelmeer  wohl  noch  nicht  looo  m  Meeres- 
höhe erreichende  Tiefen-  und  geologische  Grenzlinie  ist  als  ur- 
alter Verkehrsweg  von  größter  Bedeutung.  Er  knüpft  die  atlan- 
tische Abdachung  der  Atlasländer,  Maghreb-el-Aksa,  den  äußersten 
Westen  der  Eingeborenen,  an  das  mediterrane  Gebiet  und  hält 
noch  heute  das  Mulujagebiet ,  für  Marokko  eine  ausgeprägte 
Sonderlandschaft,  ein  Stück  des  inneren  Steppengürtels  von  Al- 
gerien bzw.  Oran,  bei  Marokko  fest.  Seit  langem  ist  es  das 
Streben  der  Franzosen,  durch  eine  Eisenbahn,  deren  Verlauf  in 
dieser  Tiefenlinie  vorgezeichnet  ist,  Fäs,  die  nördliche  Hauptstadt 
von  Marokko,  mit  Tlemcen  und  damit  Marokko  wie  mit  einer 
eisernen  Klammer  mit  Algerien  zu  verbinden.  Wenn  es  erlaubt 
ist.  Kleines  mit  Großem  zu  vergleichen,  so  erinnert  diese  Tiefen- 
linie an  die  Arlberglinie,  durch  welche  das  schwäbische  Vorarl- 
berg an  das  bayerische  Tirol  und  Österreich  geknüpft  wurde. 
Westlich  von  Fäs  öffnet  sich  diese  Tiefenlinie  zur  miozänen  Tief- 
landsbucht des  unteren  Sebu,  das  genaue  Gegenstück  der  Gua- 
dalquivirbucht  drüben  in  Spanien  an  der  Außenseite  des  anda- 
lusischen  Faltengebirges.  Larasch  am  Nord-  oder  Rabat-Sla  am 
Südrande  dieser  Bucht  oder  noch  besser  Mehedia  an  der  Mün- 
dung des  Stromes  selbst  würde  so  das  ozeanische  Ende  der 
großen  von  der  Natur  scharf  vorgezeichneten  inneratlantischen 
Verkehrslinie  sein,  an  deren  mediterranem  Ende  Tunis  liegt. 
Längs  dieser  Tiefenlinie,  bald  näher  an  Thasa,  bald  näher  an 
Fäs  bewegt  sich  bis  jetzt  der  Aufstand,  dessen  Träger  die 
nördlich  und  südlich  anwohnenden  Berberstämme  der  Hiaina  und 
Rhiata  zu  sein  scheinen. 

Nach  Westen  hin  sind  die  Landschaften  Djebala  und  And- 
jera,  nördlich  von  der  Tieflandsbucht  des  Sebu,  letztere  die 
nördlichste    von    Marokko,    deren    Hauptort    die   Meerengenstadt 


-     363     - 

Tanger  ist,  das  Aus-  und  Eingangstor  von  Marokko  von  Europa 
aus,  vom  Rifgebirge  erfüllt,  das  hier  seine  Austönungsseite  in 
flach  gelagerten,  kleine,  von  Abdachungsflüssen  ausgesonderte 
Hochflächen  bildenden  Tertiärschichten  dem  Ozean  zukehrt. 

Über  die  Geschichte  des  marokkanischen  Atlas  und 
seine  Beziehungen  zum  algerischen  Saharaatlas  sind  wir  noch 
wenig  aufgeklärt.  Von  letzterem  wissen  wir,  daß  seine  Richtung 
S\V — NO  ist,  daß  seine  Hauptfaltung  in  die  Eozän-  und  Miozän- 
zeit fällt,  daß  er  im  wesentlichen  aus  drei  auch  orographisch  gut 
gesonderten  großen  Faltenbündeln  besteht,  deren  einzelne  meist 
nur  schwach  gefaltete  Falten  von  der  südwestlichen  mehr  zu 
meridionaler  Richtung  abweichen,  so  daß,  da  namentlich  auch 
seit  Eintritt  einer  trockenen  Zeit  die  ungeheuren  Schuttmassen 
nicht  von  rinnendem  Wasser  davongeführt  werden  konnten,  der 
Gebirgscharakter  meist  nur  wenig  ausgeprägt  ist.  Aufgebaut  ist 
er  vorwiegend  aus  Kalksteinen,  Sandsteinen,  hier  und  da  auch 
Mergeln  der  Jura-  und  Kreideformation,  unter  denen  allerdings 
je  weiter  nach  Südwesten,  gegen  den  marokkanischen  Atlas  hin, 
im  Gebiet  des  Wed  Ghir  und  Susfana,  Devon  und  Carbon  hervor- 
tritt. Dem  gegenüber  zeigt  der  marokkanische  Atlas,  abgesehen 
von  der  gleichen  Richtung,  wesentlich  verschiedene  Züge.  Nament- 
lich nehmen  an  seinem  Aufbau  im  Saharaatlas  von  Algerien  an- 
scheinend durchaus  fehlende  ältere  Eruptivgesteine,  Porphyre, 
Diorite  und  Granite  im  nördlichen  mittleren  Atlas  auch  jüngere 
hervorragenden  Anteil,  wie  das  im  Gebirge  selbst  bezeugt  ist 
und  man  auch  aus  der  Zusammensetzung  der  gewaltigen  Schutt- 
kegel am  Ausgange  der  Täler  schließen  kann.  Das  erinnert 
also  an  das  alte  abgetragene  Faltengebirge  der  iberischen  Meseta. 
Auch  scheinen  die  faltenden  Bewegungen  hier  früher  begonnen 
und  früher  geendigt  zu  haben,  als  im  übrigen  atlantischen  Falten- 
lande, nämlich  mit  Abschluß  der  Kreidezeit.^)  Nach  J.  Thomson 
nehmen  dieselben  Kreideschichten,  die  im  Vorlande  ungestört 
lagern,  steil  emporgefaltet  wesentlichen  Anteil  am  Aufbau  des 
marokkanischen  Atlas.  Derselbe  wäre  also  als  Gebirge  älter  als 
das  Rifgebirge,  der  Teil-  und  der  Saharaatlas  Algeriens.  Auch 
dürften   paläozoische   Gesteine   großen   Anteil    an   seinem  Aufbau 


i)  Die  noch  nicht  veröffentlichten  Forschungen  Gentils  und  de  Sengon- 
zacs,  durch  de  Lemoines  ergänzt,  werden  einen   klareren  Einblick  gewähren. 


—    364    — 

haben.  Die  Faltung  ist  weit  intensiver  gewesen,  so  daß  noch 
heute  weit  bedeutendere  Kamm-  (3000 — 4000  m)  und  Gipfel- 
höhen bis  4300,  ja  4500  m  hier  auftreten  als  in  den  jüngeren 
Faltengürteln,  Auch  die  Breite  des  zahlreiche  Einzelfalten  in 
drei  parallelen  Gürteln,  dem  hohen  Atlas,  dem  Antiatlas  und 
dem  mittleren  Atlas,  aufweisenden  Gebirges  (etwa  200  km)  ist 
weit  bedeutender.  Die  Kammhöhe  ist  überall  ansehnlich,  tiefere 
Einschartungen  fehlen.  Südlich  von  Marrakesch  liegen  die  Pässe 
in  3 — 4000  m  Höhe,  von  da  nach  NO  in  2500  m,  nach  SW, 
gegen  den  Ozean  in  1000 — 2000  m.  Das  Gebirge  bildet  also 
einen  hohen,  schwer  zu  übersteigenden  Wall  von  etwa  1000  km 
Länge,  welcher  das  Vorland  gegen  den  Ozean  von  der  Wüste 
trennt  und  nach  allen  seinen  Erstreckungen  unsern  Alpen  nicht 
allzusehr  nachsteht.  Obwohl  im  allgemeinen  und  nicht  bloß  an 
der  saharischen  Abdachung,  der  geographischen  Breite  und  der 
Lage  in  einem  trockenen  Erdgürtel  entsprechend  im  ganzen  Ge- 
birge die  Spuren  verhältnismäßiger  Trockenheit  hervortreten, 
empfängt  es  doch  so  reichliche,  vorwiegend  winterliche  Nieder- 
schläge, daß  seine  Höhen  bis  in  den  Spätsommer  schneebedeckt 
auf  die  von  Sonnenglut  und  Dürre  verzehrte  Hochebene  an  seinem 
Nordwestfuße  herableuchten  und  die  Flüsse  im  Frühling  und  Früh- 
sommer durch  die  Schneeschmelze  anschwellen  und  eine  Fülle 
von  Wasser  zu  Berieselungszwecken  darbieten. 

Die  herrschende  Trockenheit,  die  durch  eine  fast  bis  zur 
Vernichtung  gesteigerte  Waldverwüstung  noch  erhöht  worden  ist, 
die  winterliche  Kälte  und  Schneebedeckung,  die  Seltenheit  weiter 
Talebenen,  außer  im  Nordosten  und  besonders  im  mittleren  Atlas, 
die  auch  nur  unter  künstlicher  Berieselung  im  Sommer  Anbau 
ermöglichen,  machen  den  marokkanischen  Atlas  zur  Bewohnung 
weniger  geeignet,  als  man  erwarten  sollte.  Die  Bevölkerung  ist 
auf  die  Haupttäler  bis  zu  geringer  Höhe  hinauf  beschränkt.  Auch 
für  Viehzucht  und  Almwirtschaft  sind  die  Bedingungen  nicht  ge- 
geben. Lockmittel  für  Eroberer  scheinen  zu  fehlen.  So  hat  sich 
die  berberische  Gebirgsbevölkerung,  deren  Unterwerfung  schwierig 
war,  zu  allen  Zeiten  unabhängig  erhalten,  kaum  daß  die  Herren 
des  Vorlands  sich  einige  Querverbindungen  zu  sichern  vermocht 
haben.  Sie  zogen  es  vor  die  Talausgänge  durch  Kastelle  zu 
sperren  und  da  auch  die  Berberdörfer  meist  auf  steilen  Höhen 
liegen  und  die  echt  berberische,  vom  tunesischen  Südlande,  süd- 


—     365     - 

lieh  der  Kleinen  Syrte,  im  Auresgebirge  und  bis  an  den  Ozean 
herrschende  Sitte,  die  Vorräte  und  sonstige  kostbare  Habe  in  von 
einer  Dorfschaft  oder  einem  Stamme  gemeinsam  auf  sicheren 
Höhen  errichteten  Kastellen,  hier  Tirremt  genannt,  unterzubringen, 
in  gewissen  Gegenden  auffallend  hervortritt,  so  bietet  der  Gebirgs- 
rand  hier  und  da  mit  seinen  zahlreichen  Burgen  und  Burgen- 
trümmern einen  eigenartigen  Anblick. 

Wir  dürfen,  streng  genommen,  wie  J.  Thomson  nachgewiesen 
hat,  das  Faltengebirge  des  hohen  Atlas  nicht  bis  an  den  Ozean 
ausdehnen,  sondern  nur  bis  an  die  Asif  Ig  Schlucht,  einige 
50  km  von  der  Küste.  Was  westlich  von  ihr  liegt,  ist  Tafelland, 
die  Landschaften  Mtuga  und  Haha  und  nur  unter  diesem  Vor- 
behalte kann  man  den  hohen  Atlas  am  Kap  Ghir  endigen  lassen. 
Südlich  davon,  zwischen  dem  hohen  und  dem  Antiatlas,  sich  weit 
zum  Ozean  öffnend,  liegt  eine  der  ausgeprägtesten,  zugleich  eine 
der  nach  ihrer  natürUchen  Ausstattung  reichsten,  Sonderlandschaften 
von  Marokko,  nach  dem  sie  bewässernden  Längsflusse  des  Atlas, 
dem  Wed  Sus,  benannt.  Reich  an  Erzvorkommen,  namentUch 
Kupfer,  reich  an  Wasser  und  fruchtbarem  Boden  könnte  das  Sus, 
das  schon  heute  vorwiegend  den  Handel  von  Mogador  belebt, 
unter  guter  Verwaltung  eine  reiche  Kulturlandschaft,  die  Oasen- 
stadt Tarudant  ein  Brennpunkt  des  Verkehrs  mit  dem  Süden, 
Agadir,  die  beste  Reede  an  der  ganzen  Ozeanküste,  aber  dem 
Fremdhandel  verschlossen,  eine  blühende   Seestadt  werden. 

In  dem  durch  die  Divergenz  des  Rifgebirges  und  des 
marokkanischen  Atlas  gebildeten  Dreiecke  liegt  nun  die  größte 
und  wichtigste  marokkanische  Landschaft,  zu  allen  Zeiten  das 
Herzland  dieser  Ländergruppe,  der  Kern  der  Staatenbildung, 
das  marokkanische  Atlasvorland.  Einen  in  allen  wesentlichen 
Zügen  seitdem  durch  die  Forschungen  des  französischen  Geo- 
logen Brives  bestätigten  EinbUck  in  ihre  Geschichte  erlangte  ich 
auf  meinen  beiden  letzten  Reisen.  Danach  läßt  sich  die  ge- 
schichtliche Entwicklung  der  heutigen  Oberflächenformen  etwa 
in  nachfolgender  Weise  erklären.  Es  erhob  sich  hier  ein  ver- 
mutlich gegen  Ende  der  paläozoischen  Zeit  steil  emporgefaltetes 
Gebirge,  vorwiegend  aufgebaut  aus  paläozoischen  Schiefern,  Grau- 
wacken,  Quarziten,  Tonsandsteinen,  von  granitischen,  porphyrischen 
und  ähnlichen  alten  Eruptivgesteinen  durchsetzt.  Wo  die  Rich- 
tung der  Falten  noch  zu   erkennen  ist,  war  diese  dem  marokka- 


—     306     — 

nischen  Atlas  annähernd  parallel.  Dies  Gebirge  wurde  gegen 
Ende  des  mesozoischen  Zeitalters  von  dem  übergreifenden  Meere 
abgetragen.  Wie  mit  dem  Rasiermesser  durchschnitten  bilden 
die  fast  saigeren  Schieferschichten  hier  und  da  fast  wagrechte 
Ebenen,  aus  denen  aber  festere  Grauwackenschichten  zum  Beleg 
der  noch  fortschreitenden  äolischen  Denudation  mauerartig  auf- 
ragen oder  Quarzite,  gelegentlich,  wie  im  Dj.  Ghilis  bei  Marra- 
kesch,  auch  kompakte  Kalksteine,  wahre  Klippenzüge  bilden.  Ja 
im  Djebilet,  einem  kahlen,  felsigen  Gebirge,  das  den  nördlichen 
Horizont  von  Marrakesch  begrenzt,  im  Dj.  Achdar,  Dj.  Karra  und 
ähnlichen  kleinen  Bergzügen  haben  wir  Erscheinungen  vor  uns, 
die  an  den  Taunus  oder  die  Sierra  de  Alcudia  und  ähnliche 
der  iberischen  Meseta  erinnern.  Die  Ähnlichkeit  dieses  alten 
Grundgebirges  mit  letzterer  ist  überhaupt  sehr  groß.  Namentlich 
auch  insofern,  als  durch  das  übergreifende  Meer,  allerdings  in 
viel  größerer  Ausdehnung  als  dort,  das  alte  Grundgebirge  durch 
ein  jüngeres  Deckgebirge  noch  heute  völlig  wagrechter  und  un- 
gestörter, nur  gehobener  Schichten  verhüllt  wurde.  Nur  wo 
widerstandsfähigere  Felsarten  des  Grundgebirges  Aufragungen  be- 
dingten oder  das  Deckgebirge  der  in  der  Pluvialzeit  energischen 
Erosion  und  Denudation  des  rinnenden  Wassers,  seitdem  der 
heute  fast  allein  wirksamen  äolischen  Denudation  erlegen  ist,  tritt 
jenes  zutage.  Namentlich  ist  die  Bildung  von  Tafelbergen,  die 
besonders  in  dem  mittleren  Steppengürtel  häufig  sind  und  oft  in 
Gruppen  beieinander  stehen,  auf  äolische  Denudation  zurück- 
zuführen. Die  Mächtigkeit  dieses  Deckgebirges  ist  gering.  So- 
weit meine  Beobachtungen  reichen,  dürfte  sie  jetzt  lOO  m  nirgends 
überschreiten.  Über  seine  Formationszugehörigkeit  fehlt  es  noch 
an  hinreichenden  paläontologischen  Belegen.  Fossilien,  die  ich 
von  der  letzten  Reise  aus  Schedma  mitbrachte,  also  aus  dem 
äußersten  Südwesten,  wo  mit  der  Emporfaltung  des  Atlas  zu- 
sammenhängende Störungen  noch  eine  große  Rolle  spielen,  schrieb 
E.  Ficheur,  wohl  der  beste  Kenner  des  geologischen  Aufbaus 
von  Algerien,  cretaceisches  Alter  zu.  Und  ich  nehme  danach  an, 
daß  das  von  mir  1899  fast  von  der  Mündung  bis  auf  die  sub- 
atlantische Hochebene  bei  Marrakesch  verfolgte  windungsreiche 
Tal  des  Tensift  in  diese  Schichten  eingeschnitten  ist.  Nach  den 
bisher  bekannt  gewordenen  Forschungen  des  algerischen  Landes- 
geologen   A.   Brives,    der,    als    erster    Geologe,    einen   Teil    des 


—    367     - 

Atlasvorlands  im  Winter  190 1/2  bereist  hat,  hätten  wir  das  Deck- 
gebirge zwischen  Tensift  und  Um-er-Rbia  und  nördlich  von  dieser 
bei  weitem  überwiegend  dem  Miozän  zuzurechnen.  Er  glaubt 
auch  in  dem  paläozoischen  Grundgebirge  einzelne  Formationen 
unterscheiden  zu  können. 

Demnach  trägt  das  Atlasvorland  vorwiegend  den  Charakter 
des  Schichtungstafellandes,  die  Form  der  Ebene  herrscht  vor  und 
zwar  der  Hochebene,  die  nur  örtlich  beschränkt  durch  aufragende 
Inselberge  und  Inselgebirge  des  Grundgebirges,  fast  alle  kahl  und 
felsig,  unterbrochen  wird.  Soweit  unsere  Kenntnis  heute  reicht, 
ist  man  berechtigt  zwei  Perioden  der  Hebung  anzunehmen,  eine 
miozäne  und  eine  ganz  junge,  wohl  quartäre.  Dadurch  entstehen  zwei 
Stufen,  eine  Küstenebene,  deren  Verhältnisse  ich  auf  der  letzten 
Reise  (igoi)  klarlegen  konnte,  und  eine  innere,  den  bei  weitem 
größten  Teil  des  Atlasvorlands  umfassende  Hochebene,  Jene 
beginnt  am  Kap  Hadid  20  km  nördlich  von  Mogador  in  schma- 
lem Zipfel,  erreicht  in  Dukkala  bis  zum  Fuße  des  Dj.  Achdär, 
der  ganz  Mittelmarokko  beherrschenden  Landmarke,  bei  Sidi  Rehal, 
wo  die  vielbegangene  Karawanenstraße  von  Mazagan  nach  Marra- 
kesch  im  Tale  von  Mtal  auf  die  obere  Stufe  emporsteigt,  eine 
größte  Breite  von  80  km,  die  sich  weiter  nordwärts  an  der  Um- 
er-Rbia  auf  70,  in  Schauia  auf  60  km  verringert.  Schließlich 
verschwindet  sie  bei  Rabat  fast  völlig,  um  in  der  Tiefebene  des 
unteren  Sebu  bis  zur  Schlucht  von  Sidi  Kassem,  in  welcher  der 
Rdem  sich  von  der  oberen  Stufe  herabstürzt,  noch  einmal  eine 
Breite  von  70  km  zu  erreichen.  Nördlich  von  dieser  Tieflands- 
bucht verschmälert  sie  sich  rasch  wieder,  man  wird  sie  aber  wohl 
bis  an  die  Meerenge  bei  Tanger  verfolgen  können.  Bei  Arzila 
fand  ich  sie  noch  deutlich  ausgeprägt,  wenn  auch  nur  etwa 
10  km    breit,    dem   westlichen    Fuße   des   Rifgebirges   vorgelagert. 

Diese  unterste  Stufe  dehnt  sich  also  in  einer  Länge  von 
Ö50  km  längs  dem  Meere  aus,  von  dem  sie  aber  meist  steil,  im 
Süden  bis  zu  100  m,  aufsteigt.  Die  Ozeanküste  von  Marokko 
ist  also  vorwiegend  als  eine  neutrale  Schollenküste  aufzufassen, 
deren  felsiger  Charakter  örtlich  noch  dadurch  erhöht  wird,  daß 
das  alte  Grundgebirge  ansteht  und  die  steil  aufgerichteten  Schich- 
ten von  der  Brandungswoge  wie  mit  dem  Rasiermesser  durch- 
schnitten, eine  bei  Ebbe  zum  Teil  trocken  laufende  felsige  Strand- 
terrasse bilden.    Die  Erdbeben,   die  schon  wiederholt  die  Küsten- 


-     368     - 

Städte  heimgesucht  haben,  lassen  auf  längs  der  Küste  verlaufende 
und  sie  bedingende  Bruchlinien  schließen.  Die  Küste  entbehrt 
daher  der  Gliederung  fast  ganz,  nur  ausnahmsweise  bietet  eine 
flache  Bucht,  als  Erzeugnis  der  Brandungswoge  wie  bei  Mazagan, 
oder  eine  kleine  Erosionsinsel,  wie  bei  Mogador  etwas  Schutz, 
oder  es  ist  ein  kleines  Flußtal  wie  bei  Saffi  oder  ein  System 
weicherer  Schichten  wie  bei  Casablanca  von  Brandung  und  Ge- 
zeiten zu  einer  wenig  sicheren  Bucht  ausgearbeitet.  Wirkliche 
Häfen  bieten  nur  die  Flußmündungen,  der  Um-er-Rbia:  Azemur, 
des  Bu  Regreg:  Rabat,  des  Sebu:  Mehediya,  des  Lukkos:  La- 
rasch.  Leider  aber  sind  alle  diese  Flußmündungen  bei  der  an 
der  ganzen  Küste  fast  jahraus  jahrein  herrschenden  starken  Dü- 
nung durch  Barren  geschlossen,  die  in  der  Regel  nur  kleine 
Schifte  überwinden  können  und  die  nur  selten  durch  Hochwasser 
vorübergehend  weggefegt  werden.  Auch  hier  wie  vor  allen  ma- 
rokkanischen Seestädten  müssen  daher  die  Dampfer  auf  offener 
Reede  Anker  werfen,  stets  unter  Dampf  und  jeden  Augenblick 
bereit  das  off"ene  Meer  zu  gewinnen.  Azemur  und  Mehediya, 
obwohl  an  den  Mündungen  der  größten  Ströme  gelegen,  die 
beide  eine  Strecke  weit  schiff"bar  sind,  sind  außerdem  dem  Fremd- 
handel geschlossen  und  daher  ganz  bedeutungslos.  Auch  da,  wo 
jüngere  Anlagerungen,  wie  vor  der  Tieflandsbucht  des  Sebu  und 
in  Dukkala  südlich  von  Mazagan,  einen  Saum  von  Dünen  und 
Haffen,  also  Flachküste  geschaffen  haben,  sind  dadurch  keine 
verkehrsgeographisch  günstigeren  Verhältnisse  entstanden.  Doch 
scheint  es,  als  könnte  das  Haff"  von  Walidiya,  nördlich  von  dem 
als  Landmarke  und  Wetterscheide  bekannten  Kap  Kantin,  leicht 
zu  einem  ausgezeichneten  Hafen  ausgestaltet  werden. 

Von  diesem  zwischen  30  und  100  m  hohen  Steilrande,  mit 
dem  sie  zum  Meere  abbricht,  erhebt  sich  diese  Küstenebene, 
der  ich  eine  mittlere  Höhe  von  1 50  ra  zuschreiben  möchte,  ganz 
unmerkhch  landeinwärts  auf  etwa  250  m  bis  zum  Fuße  der 
zweiten  Stufe,  die  sich  auch  ihrerseits  mit  etwa  100  m  hohem 
Steilanstiege,  der  ganz  den  Eindruck  eines  ehemaligen  Meeres- 
ufers hervorruft,  ganz  unvermittelt  über  der  unteren  Stufe  erhebt. 
Diese  Küstenebene  trägt  fast  überall  den  Charakter  der  Ebene, 
ja  in  großer  Ausdehnung  erscheint  sie  als  tischgleiche  Ebene. 
Die  für  weite  Flächen  in  Marokko  charakteristische  und  ver- 
hängnisvolle Kalkkruste,    die  im  wesentlichen  als   klimatische  Er- 


—    369    — 

scheinung  zu  erklären  ist,  und  die  Denudation  bedingen  nur  hier 
und  da  Hügel  und  flache  Bodenwellen.  Nur  in  Schauia  tritt 
das  Grundgebirge,  vereinzelte  Klippenzüge  bildend,  auf  dieser 
Stufe,  ja  hier  und  da  nahe  dem  Meere  zutage.  Rinnendes  Wasser 
fehlt  ganz,  abgesehen  von  den  aus  dem  Atlas  kommenden  großen 
Strömen.  Kleinere  Flüsse  und  Bäche,  die  von  der  oberen  Stufe 
herabkommen,  versiegen  meist  sehr  bald,  haben  aber  in  ihren 
Tälern  bequeme  Aufstiege  auf  jene,  selten  flache  Schuttkegel  vor 
dem  Steilrande  geschaffen.  Nur  der  Steilrand  am  Ozeane  ent- 
lang in  der  Breite  von  10 — 20  km  und  ein  schmaler  Gürtel  zu 
beiden  Seiten  der  in  tiefem  Erosionstale  fließenden  Um-er-Rbia 
ist  durch  das  rinnende  Wasser  etvi^as  gegliedert.  Quellen  sind 
daher  auf  dieser  Landstufe  äußerst  selten,  sie  dürften  überhaupt 
wohl  nur  in  Schauia,  durch  das  undurchlässige  Grundgebirge 
bedingt,  und  in  dem  Gürtel  längs  der  Um-er-Rbia  vorkommen. 
Im  größten  Teile  dieser  Küstenlandschaften,  abseits  der  großen 
Ströme,  die  zwar  fast  immer  trübes,  aber  doch  gutes  Trinkwasser 
bieten,  sind  also  die  Bewohner  auf  künstliche  Wasserbeschaffung 
angewiesen.  Zunächst  wurden  sie  wohl  durch  natürliche  Wasser- 
ansammlungen auf  der  Kalkkruste,  oder  in  flachen  Becken  dazu 
geführt,  künstliche  Sammelteiche  für  Regenwasser  anzulegen. 
Solche  finden  sich  in  dem  ganzen  Gebiete  in  großer  Zahl,  nament- 
lich in  Dukkala  sind  viele  Hunderte  in  Kreisform  mit  niederen 
Ringwällen,  nicht  selten  mit  einem  kleinen  Hügel  in  der  Mitte, 
vorhanden,  an  kleine  JMaare  erinnernd.  Man  hat  ihnen  auch 
vulkanischen  Ursprung  zuschreiben  wollen.  Sie  sind  aber  sicher 
Erzeugnisse  menschlicher  Arbeit.  Ich  habe  ganz  neu  angelegte 
gesehen.  Weiter  schuf  man  Zisternen,  namentlich  am  Rande  der 
Kalkkruste,  die  das  Wasser  nicht  in  den  Boden  dringen  ließ. 
Wo  diese  Mittel  nicht  genügten,  um  namentlich  in  der  8 — 9  Mo- 
nate umfassenden  Trockenzeit  Wasser  zu  beschaffen,  bohrte  man 
Brunnen,  eine  sehr  schwierige  Arbeit,  da  diese  in  große  Tiefe, 
ich  vermute  bis  auf  das  undurchlässige  Grundgebirge,  hinabgeführt 
werden  mußten  und  Steine  zum  Ausmauern  meist  fehlten.  Ich 
habe  Brunnen  von  60  m  Tiefe  gemessen.  Ihr  Wasser  ist  warm 
und  häufig  mit  Salzen  derartig  angereichert,  daß  selbst  die 
Tiere  es  zunächst  nicht  saufen  wollten  und  damit  bereiteter 
Tee  ungenießbar  war.  Und  doch  ist  mancher  dieser  Brunnen, 
die    dann    stets    innerhalb    der    Kasbas    der  Kaids^    als  Mittel   die 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  24 


—     370     — 

Bevölkerung  in  Untertänigkeit  zu  erhalten,  angelegt  sind,  die 
einzige  Wasserquelle  für  eine  ganze  Landschaft.  Ein  Zugtier, 
Kamel,  Pferd,  Maultier  ist  daher  den  ganzen  Tag  beschäftigt, 
Wasser  in  einem  großen  Schlauche  an  die  Oberfläche  zu  be- 
fördern. Nicht  selten  sieht  man  Frauen  eingespannt!  Hier  werden 
Windmotoren,  denen  es  fast  nie  an  Triebkraft  fehlen  würde, 
recht  am  Platze  sein. 

Der  hohe  Grad  der  seßhaften  Bewohnbarkeit,  der  diesen 
Landschaften  heute  eignet,  ist  daher  als  ein  Erzeugnis  der  Kultur, 
langwieriger  menschlicher  Arbeit  zu  bezeichnen. 

Er  ist  aber,  ebenso  wie  die  Form  der  Ebene,  auch  durch 
die  erstaunliche  Fruchtbarkeit  des  Bodens  bedingt.  Diese  unterste 
Stufe  des  Atlasvorlands  besitzt  nämlich  vorzugsweise  in  großer 
Ausdehnung  eine  Decke  von  Schwarzerde  oder  Tirs,  wie  sie  im 
Lande  selbst  genannt  wird,  deren  Vorhandensein  ich  zuerst  iSgg 
nachweisen,  1901  weiter  verfolgen  und  begründen  konnte.  Von 
zuständigsten  Fachmännern  durchgeführte  chemische  und  minera- 
logische Analysen  von  beiden  Reisen  mitgebrachter  Proben  haben 
einerseits  die  außerordentliche  Fruchtbarkeit  dieser  Bodenart  er- 
klärt, andrerseits  mich  in  meiner  Theorie  ihrer  Entstehung  im 
wesentlichen  aus  Staubablagerungen  aus  dem  Innern  bestärkt. 
Die  Mächtigkeit  der  Schwarzerdedecke  ist  meist  gering.  Ihre 
Verbreitung  ist  lückenhaft,  die  größten  Flächen  einer  geschlosse- 
nen Schwarzerdedecke  dürften  in  Abda  vorkommen.  Doch  gilt 
Dukkala  als  die  fruchtbarste  der  Küstenlandschaften.  Ich  selbst 
habe  Schwarzerde  auch  auf  der  oberen  Stufe  von  Schauia,  aber 
nahe  dem  Rande,  und  im  Gebiet  des  oberen  Wed  Rdem  in  EI 
Gharb  beobachtet  und  ihr  Vorkommen  in  Tedla ,  der  innersten 
Bucht  des  Atlasvorlandes,  dem  marokkanischen  Ferghana,  wie  ich 
es  nennen  möchte,   durch  Erkundungen  festgestellt. 

Dieser  Schwarzerdegürtel  kennzeichnet  also  vorzugsweise  die 
Küstenebene,  wo  die  reichlicheren  winterlichen  Niederschläge  und 
eine  üppigere  Pflanzendecke  in  Verbindung  mit  der  spülendes 
Wasser  ausschHeßenden  Ebenflächigkeit  die  aus  den  inneren 
Steppen  herkommenden  Staubfälle  festhielt.  In  jenem  geglie- 
derten Landsaume  längs  der  Küste  und  längs  der  Um-er-Rbia 
fehlt  daher  Schwarzerde  durchaus.  Die  durch  die  Analyse  er- 
wiesene außerordentliche  Wasserkapazität  ermöglicht  das  Fest- 
halten   der   winterlichen   Feuchtigkeit,    die  bis  zu    einem  gewissen 


—     371      — 

Grade  immer  wieder  durch  die  diesem  Küstengebiet  eigenen 
reichlichen  Taufälle  ergänzt  wird.  So  gedeihen  hier  nicht  nur 
eigentliche  Winterfrüchte,  sondern  Frühlingsfrüchte,  wie  Mais,  dem 
nach  Ansicht  der  Bauern  Regen  geradezu  schädlich  ist  und  der 
mit  der  winterlichen  Bodenfeuchtigkeit  und  Tau  (Minsla)  gut 
auskommt.  Es  wird  eine  nur  drei  Monate  erfordernde  Spielart 
gegen  den  i .  April,  also  nach  dem  Ende  der  Winterregen,  gesäet 
und  gegen  Ende  Juni  geerntet.  jNIais  ohne  künstHche  Beriese- 
lung gezogen  ist  eine  in  den  südlichen  Mittelmeerländem  unbe- 
kannte Erscheinung. 

So  ist  diese  unterste  Landstufe  des  Atlasvorlands  die  Korn- 
kammer von  Marokko,  die  in  ihr  gelegenen  Landschaften  Abda, 
Dukkala,  Schauia  und  Gharb  die  reichsten  und  dichtest  besie- 
delten des  Landes.  Dies  erklärt  das  Vorhandensein  und  die 
Bedeutung  der  oben  genannten,  verhältnismäßig  zahlreichen,  na- 
mentlich im  Vergleich  zu  dem  städtearmen  Innern,  Küstenstädte. 
Staunenden  Auges  sieht  man  von  der  höheren  Stufe  und  aus 
dem  Steppenlande  herabsteigend  unabsehbar  die  tischgleiche 
Ebene  von  Abda  zu  seinen  Füßen  ausgebreitet,  dunkelgrün  von 
wogenden  Feldern  von  Weizen,  Gerste,  Saubohnen,  Kichererbsen, 
Mais,  Kanariensamen,  Koriander,  Fenugrek  (die  Leguminose  Tri- 
gonella  foenum  graecum  L.,  arabisch  Holba),  Linsen,  Erbsen 
und  dergleichen,  hie  und  da,  aber  erst  seit  den  letzten  Jahren, 
von  den  Europäern  eingeführt,  blaue  Teppiche  blühenden  Flachses 
dazwischen  gespannt,  darüber  gestreut  einzelne  weithin  leuchtende 
weiße  Kubbas  und  zahlreiche  kleine  aus  Tabia  erbaute  Duars,  aber 
kein  Baum,  kein  Strauch!  Holzgewächse  sind  der  Schwarzerde 
fremd,  kaum  daß  man  hie  und  da  einige  kümmerliche  Feigen- 
bäume oder  eine  Dattelpalme  angepflanzt  sieht. 

Der  bei  weitem  größte  Teil  des  Atlasvorlands  gehört  so  der 
oberen  Stufe  an,  die  auch  ihrerseits  sanft  gegen  den  Fuß  des 
den  ganzen  Horizont  beherrschenden  Gebirges,  von  etwa  400  m 
auf  600 — 700  m  ansteigt.  Auch  hier  herrscht  die  Form  der 
Ebene  vor,  aber  nicht  in  dem  Maße  wie  auf  der  unteren  Stufe. 
Die  ganze  kleine  Gebirge,  wie  der  Djebilet  oder  der  Dj.  Achdär, 
bildenden  Aufragungen  des  Grundgebirges,  echte  afrikanische 
Inselberge  und  Inselgebirge,  die  Tafelberge  mildem  die  Ein- 
förmigkeit, und  die  großen  das  ganze  Vorland  querenden  Sammel- 
ströme,   besonders    der  Tensift    und    die    Um-er-Rbia    haben   mit 

24* 


—     372     — 

ihrem  bedeutenden  Gefäll,  in  starker  Strömung,  ja  selbst  häufig 
Stromschnellen  bildend,  tiefe,  vielgewundene,  oft  canonartige  Täler 
in  das  Hochland  eingeschnitten,  die,  selbst  ungangbar,  ja  auch 
als  Tränkstellen  nur  an  einzelnen  Punkten  zugänglich,  schwere 
Hindernisse  des  Verkehrs  bilden.  In  großartiger,  wilder  Land- 
schaft, auf  dem  Isthmus  einer  Flußschlinge  der  Um-er-Rbia,  ähn- 
lich der  Marienburg  an  der  Mosel,  liegt  so  an  der  Grenze  beider 
Stufen  und  somit  zugleich  des  Steppen-  und  des  Kulturlands  das 
mächtige  Kastell  Bu-el-Awän,  das,  fast  sagenhaft,  bisher,  wie  mir 
auch  die  Eingeborenen  versicherten,  von  keinem  Europäer  er- 
reicht worden  war. 

Diese  ganze  obere  Stufe  empfängt,  schon  meerferner,  nur  ge- 
ringe Niederschläge,  es  fehlt  ihr  die  Schwarzerdedecke;  das  durch- 
lässige Deckgebirge,  wie  das  einer  Verwitterungsdecke,  weil  alle 
gelockerten  Feststoffe  vom  Winde  davon  getragen  werden,  ent- 
behrende Grundgebirge  bedingen  große  Trockenheit,  daher  haben 
wir  da  Steppenland  vor  uns,  das  allerdings  Anbau  von  Gerste, 
hie  und  da  auch  Weizen  in  regeru-eichen  Wintern  in  Hohlformen  und 
auf  besserem,  feuchterem  Boden  nicht  ganz  ausschließt.  Nach  wich- 
tigen geographischen  Zügen,  namentlich  nach  Boden plastik,  Be- 
wässerung und  Anbaufähigkeit  läßt  sich  aber  dies  Steppengebiet 
in  zwei  wesentlich  verschiedene  Gürtel  zerlegen:  den  eigentlichen 
Steppengürtel  und  den  Gürtel  der  subatlantischen  Be- 
rieselungsoasen. Ersterer  in  einer  Breite  von  80 — loo  km 
enthält  zwar  einige  kleine  Oasen,  namentlich  in  einem  Gürtel 
längs  der  Um-er-Rbia,  auf  Quellen  begründet,  ist  aber  im  wesent- 
lichen Weideland,  von  Nomaden  und  Halbnomaden  bewohnt. 
Immerhin  ist  der  Bestand  an  Herden  von  Rindern,  Schafen,  Ka- 
melen bedeutend,  namentlich  da  auch  noch  im  Sommer,  wenn  die 
Vegetation  der  Steppe,  die  im  Spätwinter  und  im  Frühling  einem 
herrlichen  Blumenteppich  gleicht,  von  der  Sonne  verbrannt  ist, 
die  Herden,  sei  es  im  Gebirge,  sei  es  im  Kulturlande  der  Küsten- 
ebene Nahrung  finden. 

Der  innerste  Gürtel  fällt  mit  dem  zusammen,  was  ich  boden- 
plastisch subatlantische  Hochebene  genannt  habe.  Diese 
dehnt  sich  in  einer  Länge  von  etwa  330  km  und  einer  Breite 
von  30 — 40  km  längs  dem  Gebirgsfuße  aus.  Alle  aus  dem  Ge- 
birge heraustretenden  Flüsse  queren  sie,  lagern,  somit  eine  schiefe 
vom    Gebirgsfuße    sanft    abfallende   Ebene    bildend,    ihre    Schutt- 


—      373     — 

massen  ab,  bis  sie  auf  die  Inselgebirge  des  Vorlands,  namentlich 
den  auf  etwa  loo  km  von  Südwest  nach  Nordost  streichenden 
Djebilet  stoßend  durch  diese  teils  nach  Westen,  teils  nach 
Norden  abgelenkt  werden,  und  so  die  zwei  großen  Sammel- 
rinnen des  Tensift,  ein  typischer  Saumfluß,  und  der  Um-er-Rbia 
entstehen,  deren  Wasserscheide  auf  der  subatlantischen  Hoch- 
ebene selbst,  nur  durch  Schuttkegel  gebildet,  kaum  erkennbar  ist 
und  wohl  in  der  Pluvialzeit  wesentliche  Verschiebungen  erfahren 
hat.  Die  Schuttkegel  der  Atlasflüsse,  wohl  vorzugsweise  in  der 
Pluvialzeit  aufgeschüttet,  aber  noch  heute  in  der  Weiterentwicklung 
begriffen,  bilden  überwiegend  den  Boden  dieses  zwischen  dem 
Atlas  und  den  niedrigen  Inselgebirgen  des  Vorlands  eingeschalteten 
Gürtels,  der  insofern  etwas  an  die  Poebene,  namentlich  in  Piemont, 
erinnert.  Alle  diese  Flüsse  bieten  ungeheure  Wasservorräte  zu  Be- 
rieselungszwecken, die  schon  heute,  wenn  auch  nur  zu  einem  Bruch- 
teil des  ]\Iöglichen,  verwertet  werden.  Sie  werden  noch  vermehrt 
durch  die  Wasserschätze  des  Untergrunds,  die  durch  die  sog.  Chat- 
taras,  unterirdische  Sammelkanäle  ähnlich  den  Kanat  und  Kariz  von 
Iran,  den  Sahrig  von  Jemen,  den  Feggagir  (sing.  Foggara)  einzel- 
ner Saharaoasen,  gesammelt  und  an  die  Oberfläche  geführt 
werden.  So  ist  hier  die  gelbe  Steppe  längs  der  Flüsse  und 
namentlich  am  unteren  Saume  der  Hochebene  mit  den  dunkeln 
Flecken  der  Oasen  übersäet,  in  deren  größter  die  Hauptstadt 
Marrakesch  als  wahre  Oasenstadt  in  einem  Haine  von  Dattel- 
palmen liegt,  deren  Früchte  hier  in  einer  Meereshöhe  von  fast  500  m 
noch  reifen.  Fruchtbäume  sind  es,  neben  der  Dattelpalme  der 
Ölbaum,  der  Feigenbaum,  der  Granatbaum,  Apfelsinen  und  Li- 
monen,  Aprikosen  und  Pfirsiche,  jNIandelbäume  und  dergleichen 
mehr,  die  diesen  Oasen  ihren  Charakter  geben  und  diesen  Land- 
gürtel zum  wenigst  baumarmen  des  ganzen  baumarmen  Atlas- 
vorlandes machen.  Im  Schutze  der  Fruchtbäume  und  in  der 
Umgebung  der  Fruchthaine,  wo  nur  während  des  Winters  be- 
wässert werden  kann,  wird  auch  Getreide,  Gemüse  und  dergleichen 
gebaut.  So  könnte  dieser  Landgürtel  in  großer  Ausdehnung  in 
Kulturland,  in  eine  weite  Gartenlandschaft  verwandelt  werden. 
Wasserkräfte  für  elektrische  Kraftübertragung  sind  reichlich  vor- 
handen und  durch  Stauwerke  am  Ausgange  der  Atlastäler  größter 
Vermehrung  fähig.  In  glücklicher  Weise  vermöchten  sich  alle 
drei   Gürtel  des  Atlasvorlands  zu  ergänzen:   der  eine  liefert  Brot- 


—     374     — 

Stoffe  in  Fülle,  der  zweite  Vieh,  der  dritte  vorzugsweise  Baum- 
früchte. Die  Gebirgsbewohner  sind  so  für  ihre  Ernährung,  ähn- 
lich wie  in  Algerien  die  Bewohner  der  Wüste  auf  das  Teil,  auf 
das  Vorland  angewiesen  und  so  haben  sich  hier,  wo  Seßhaftig- 
keit von  der  Natur  geboten  ist,  am  Ausgange  der  Atlastäler  kleine 
Randstädte  wie  Demnat,  Sidi  Rehal,  Amsmis  u.  a.  m.  entwickelt. 
Die  namengebende  Hauptstadt  Marrakesch ,  der  Hauptort  des 
Tensiftgebiets,  wenn  auch  nicht  unmittelbar  am  Tensift,  aber  so- 
zusagen im  Wipfel  des  Tensift  gelegen,  ist  dagegen  eine  Oasen- 
stadt in  der  freien  Hochebene,  zunächst  wohl  zur  Entwicklung 
gekommen  durch  den  Wasserreichtum,  dann  aber  durch  die 
günstige  Verkehrslage.  Wie  in  Mailand,  das  ähnlich  vor  dem 
Alpenwalle  liegt,  radienförmig  die  Alpenstraßen  zusammenlaufen, 
so  die  Atlaswege  und  die  nach  dem  Sus  und  dem  Gebiet  des 
Wed  Draa,  in  Marrakesch,  um  auf  der  anderen  Seite  ebenfalls 
nach  den  nächsten  Küstenplätzen  Mogador,  Saffi,  Mazagan,  Casa- 
blanca  und  Rabat  auseinander  zu  streben.  So  ist  Marrakesch 
die  natürliche  Hauptstadt  von  ganz  Südmarokko. 

Für  Nordmarokko  spielt  die  gleiche  Rolle  Fäs,  der  Hauptort 
des  Sebugebiets,  das  auch  seinerseits,  wenn  auch  nur  in  etwa 
300  m  Meereshöhe,  auf  der  oberen  Stufe  liegt,  die  freilich  hier 
näher  dem  Gebirge  und  zwischen  dem  Rifgebirge  und  dem  Atlas 
teilweise  in  Hügelland  gegliedert  ist,  in  dem  aber  immer  wieder 
die  Form  der  Hochebene  hervortritt.  Aber  auch  Fäs  verdankt 
seine  Entwicklung  dem  Wasserreichtum,  der  die  Stadt  mit  einem 
Saume  üppiger  Gärten  geschmückt  hat,  und  der  Eigenschaft  als 
Knoten  naturbedingter  Verkehrswege.  Es  vermittelt  den  Verkehr 
zwischen  dem  Gebirge  und  den  Oasen  jenseits  desselben,  nament- 
lich Tafilalet  auf  der  einen,  der  Tieflandsbucht  des  Gharb  und 
dem  Meere  auf  der  anderen  Seite;  ja,  dank  der  schon  hervor- 
gehobenen westöstlichen  Tiefenlinie  zwischen  Atlas  und  Rifgebirge 
ist  es  der  Brennpunkt  des  Verkehrs  des  ganzen  Maghreb  el  Aksa 
mit  den  übrigen  nach  Osten  hin  gelegenen  Atlasländern,  in 
strategischer  Hinsicht  der  Schlüssel  wenigstens  des  nördlichen 
Marokko  für  jeden  von  Osten  kommenden  Feind.  Nach  Westen 
hin  strahlen  von  hier  radienförmig  Verkehrswege  zum  Ozean  aus, 
von  der  Meerengenstadt  Tanger  im  Norden  bis  Rabat,  dem 
Bindeglied  zwischen  Nord-  und  Südmarokko.  Aber  noch  mehr: 
Fäs  ist  in  Luftlinie  nur   1 2  5  km  vom  nächsten  Punkte  der  Mittel- 


—     375     — 

meerküste  entfernt  und  es  wird  nicht  schwer  sein  durch  den  ge- 
falteten Gürtel  des  Rifgebirges  den  Flußtälern  folgend  eine  Eisen- 
bahn nach  Bades  zu  bauen,  das  früher  eine  gewisse  Verkehrs- 
bedeutung hatte,  in  der  kleinen  Bucht,  in  welcher  die  noch  von 
den  Spaniern  besetzte  kleine  Felseninsel  des  Penon  de  Velez  de 
la  Gomera  liegt.  Vielleicht  auch  etwas  weiter  nach  der  größeren 
halbkreisförmigen  Brandungsbucht  der  auch  von  Spanien  besetzten 
Gruppe  kleiner  felsiger  küstennaher  Inseln  von  Alhucemas 
gegenüber. 

Selbst  das  Atlasvorland  zerfällt  somit  bodenplastisch  und 
verkehrsgeographisch,  demnach  auch  politisch  in  zwei  Teile,  die 
auch  die  Einwohner  streng  unterscheiden  und  nur  als  in  der 
Person  des  Sultans  geeinigt  ansehen:  Nordmarokko,  el  Gharb, 
abgesehen  von  der  Tertiärbucht  des  Sebu,  Tiefebene,  vorwiegend 
Berg-  und  Hügelland,  wegen  der  nördlicheren  Lage  reicher  be- 
netzt und  fast  überall  anbaufähig,  und  Südmarokko,  el  Haus, 
vorwiegend  Hochebene  und  bis  zur  Steppenbildung  niederschlags- 
arm. Gelegentlich  stellt  man  es  Sus,  den  Süden  als  dritten 
gleichwertigen  Teil  auf.  Die  Grenzscheide  zwischen  den  Sulta- 
naten von  Fäs  und  Marrakesch  gehört  heute  noch  zu  den  wenigst 
bekannten  Gegenden  des  Landes,  weil  die  sie  bewohnenden 
auch  meist  noch  Tamazirt  sprechenden  Berberstämme  der  Zem- 
mur,  Zair,  Zaian,  Beni  Mgild  und  Beni  Mtir  unbedingt  jeden 
Forschungsreisenden  fernhalten,  wie  sie  auch  den  Sultansheeren 
und  allen  Eroberen  das  Eindringen  oder  wenigstens  das  Festsetzen 
zu  verwehren  vermocht  haben.  Auch  die  Römerherrschaft  reichte 
nur  bis  zu  dieser  Grenzscheide.  Diese  wird  zwar  durch  die 
nördlichen  und  nordwestlichen  Vorlagen  des  mittleren  Atlas,  die 
sich  wie  ein  Keil  gegen  den  Ozean  vorschieben,  das  Sammel- 
gebiet des  Bu  Regreg  und  des  zum  Sebu  gehenden  Wed  Beht, 
aber  nicht  durch  hohe  Gebirge  gebildet.  Es  handelt  sich  viel- 
mehr, soweit  ich  habe  feststellen  können,  auch  hier  um  Stufen- 
land, mit  vereinzelten  Höhen  von  wenig  über  looo  m,  deren 
Kern  das  alte  Grundgebirge  bildet,  das  in  großer  Ausdehnung 
durch  Abtragung  des  Deckgebirges  bloßgelegt  ist.  Die  steilen 
Terrassenanstiege,  das  wild  zerrissene,  felsige,  durchschluchtete, 
vielfach  mit  dichtem  Gestrüpp,  im  höheren  Gebirge  noch  von 
Urwäldern  zum  Teil  gewaltiger  Zedern  bedeckte  Gelände  ist  es, 
welches  das  Eindringen  so  erschwert,  während  die  Bewohner  von 


—     376      — 

der  Landesnatur  zu  Halbnomaden  gemacht  in  der  Lage  sind, 
sich  und  ihre  Herden  im  Notfalle  durch  Zurückweichen  in  die 
höheren  Gebirge,  die  sie  ohnehin  im  Sommer  meist  aufsuchen, 
in  Sicherheit  zu  bringen. 

Durch  dieses  ungangbare  Gebiet  wird  aller  Verkehr  von 
Nord-  und  Südmarokko  auf  den  einen  Weg  am  Ufer  des  Ozeans 
entlang  gedrängt  und  muß  selbst  der  Sultan  an  der  Spitze  eines 
Heeres,  wenn  er  seinen  Sitz  von  der  südlichen  Hauptstadt  Marra- 
kesch  nach  der  nördlichen  Fäs  verlegt,  diesen  Weg  einschlagen. 
Diese  unabhängigen  Stämme,  nicht  die  Geländeschwierigkeiten 
sind  es,  welche  bewirken,  daß  heute  eine  in  gerader  Linie  beide 
Hauptstädte  verbindende  Verkehrslinie  nicht  besteht.  Darauf  in 
erster  Linie  beruht  die  große  strategische  und  verkehrsgeographische 
Bedeutung  von  Rabat.  Rabat  ist  das  Bindeglied  zwischen  Nord 
imd  Süd,  eine  große  Festung,  in  marokkanischem  Sinne,  ja  fast 
eine  ummauerte  Landschaft,  die  aber  fast  beständig  durch  Zem- 
mur  und  Zair  in  latentem  Belagerungszustande  gehalten  wird. 
Ein  äußerer  Feind,  der  Rabat  besetzt,  trennt  den  Norden  vom 
Süden.  Aus  diesen  Erwägungen  heraus  bzw.  entsprechenden 
Ratschlägen  folgend  hat  der  Vater  des  jetzigen  Sultans  durch 
einen  ehemaligen  preußischen  Genieoffizier  ein  die  Reede  von 
Rabat  mit  seinen  gewaltigen  Kruppschen  Geschützen  beherrschen- 
des Fort  bauen  lassen. 

Die  klimatischen  Verhältnisse,  zu  deren  Erforschung 
jetzt  sechs  deutsche  meteorologische  Stationen,  zwei  ältere  von 
der  deutschen  Seewarte  eingerichtete  in  Mogador  und  Saffi,  zwei 
neuere  von  mir  eingerichtete  in  Casablanca  und  Marrakesch  und 
zwei  noch  neuere  in  Mazagan  und  Rabat  beitragen,  nicht  nur  des 
Atlasvorlandes,  sondern  der  ganzen  Ländergruppe  sind  als  günstig 
zu  bezeichnen.  Namentlich  spielt  Malaria,  diese  Pest  der  übrigen 
Atlasländer,  eine  geringe  Rolle.  Nur  jenseits  des  Atlas  tritt  die 
Form  der  Wüste  auf  und  ist  aller  Anbau  auf  einige  wenige 
Oasen  und  Oasengruppen  beschränkt,  die,  wie  das  Stammland  der 
Dynastie,  Tafilalet  vom  Wed  Sis ,  von  den  Atlasflüssen  genährt 
werden.  In  dem  Küstengebiet  am  Ozean  südlich  vom  Sus  bis 
zum  Kap  Juby  fallen  die  winterlichen  Niederschläge  noch  so 
reichlich,  daß  in  großer  Ausdehnung  gutes  Weideland  vorhanden 
ist,  ja  außerhalb  der  Berieselungsoasen  in  regenreichen  Wintern 
noch  Gerste  gebaut  werden  kann.     Mag  doch  am  Kap  Juby  die 


—     377     — 

mittlere  Regenhöhe  noch  200  mm  betragen.  Schon  in  Mogador 
und  vermutlich  weit  südlich  davon  ist  sie  auf  400  mm  gestiegen, 
ein  Betrag,  bei  welchem  nach  den  Beobachtungen  in  Tunesien 
Ackerbau  möglich  ist,  um  so  mehr  als  nach  meinen  Beobach- 
tungen im  ganzen  Küstengebiet  auf  die  ablandigen  Winde  und 
das  kühle  Auftriebwasser  zurückzuführende  reichliche  Taufälle 
vorkommen.  In  Casablanca  übersteigt  die  Niederschlagshöhe  400  min, 
am  Kap  Spartel  sind  es  nahe  an  800  mm,  in  Tanger  über 
800  mm.  Dementsprechend  ist  das  ganze  Küstengebiet  und 
ganz  Nordmarokko  anbaufähig,  ja  es  bedecken  im  Küstengürtel 
im  Hinterlande  von  Wogador,  in  den  Landschaften  Schedma, 
Haha  und  Mtuga  lichte  immergrüne  Wälder,  namentlich  von 
Arganbäumen,  freilich  oft  mehr  Buschwald,  weite  Flächen  bis 
etwa  70  km  landeinwärts,  wo  die  Steppe  beginnt.  Daß  aber  auch 
im  Steppengürtel,  wo  die  Niederschlagshöhe  beträchtlich  unter 
400  mm  bleiben  dürfte,  Anbau  nicht  ganz  ausgeschlossen  ist, 
sahen  wir  bereits.  Am  Fuße  des  Atlas  sah  ich  wieder  Weizen- 
und  Gerstenfelder  auf  unbewässertem  Boden  als  Beweis  wieder 
bis  auf  etwa  400  mm  gesteigerter  Niederschläge.  In  Marrakesch 
dürfte  die  Regenhöhe,  soweit  zweijährige  Messungen  ein  Urteil 
erlauben,   etwa   250  mm  im  Jahresmittel  betragen. 

Die  Bevölkerung  von  Marokko  ist  ethnisch  noch  nicht  ge- 
nügend erforscht.  Ich  habe  mir  die  Anschauung  gebildet,  daß 
das  berberische  Element  weit  mehr  verbreitet  ist,  als  man  ge- 
wöhnlich annimmt,  und  sich  selbst  in  den  Ebenen  und  offenen 
Landschaften  gegenüber  dem  arabischen  zu  behaupten  vermocht 
hat,  wenn  es  auch  vielfach  äußerlich  arabisiert  ist  und  arabische 
Sprache  angenommen  hat.  Aber  selbst  auf  der  Hochebene 
fand  ich  einen  Tagemarsch  östlich  von  Marrakesch  Berbern,  die 
ihre  Sprache  bewahrt  haben.  In  ganz  Nordmarokko,  selbst  in 
der  Umgebung  von  Tanger  wohnen  reine  Berbern,  Amazirghen, 
ebenso  im  Südwesten  des  Atlasvorlandes  Schluh,  in  Schedma, 
Haha  und  Mtuga  und  im  ganzen  marokkanischen  Atlas,  Das 
arabische  Element  ist  überwiegend  nomadisch  und  vorzugsweise 
auf  die  Ebenen  von  Mittelmarokko  beschränkt,  doch  ist  der 
unter  Berbern  sitzende  arabische  Stamm  der  Howara  im  Sus  auch 
seßhaft.  Sofort  beim  Eintritt  in  bewegtes  Gelände  erkennt  man, 
daß  man  sich  inmitten  berberischer  Bevölkerung  befindet.  Die 
Städtebevölkerung    ist    gemischt,     aber    auch    wohl    überwiegend 


—     37«     - 

berberisch.  Auch  in  Marokko  sind  die  Berbern  seßhaft,  Acker- 
und  Gartenbauer,  Baumzüchter,  eifrig  auf  Erwerb  bedacht,  an 
der  Scholle  hängend.  Im  Gebirge  haben  sie  sorgsame  Terrassen- 
kultur und  künstliche  Bewässerung  eingeführt.  Selbst  die  rein 
berberischen  Stämme  der  oben  geschilderten  Grenzscheide  zwi- 
schen el  Gharb  und  el  Haus  haben  im  Gebirge  feste  Dörfer,  die 
sie  allerdings  nur  im  Sommer  bewohnen.  Auch  die  völlig 
arabisierten  Beni  Ahsen  der  Tiefebene  des  Sebu  sind  seßhaft, 
wenn  auch  in  kreisförmigen  Zeltdörfern.  Im  Zeltringe  werden 
allnächtlich  die  Herden  untergebracht.  Die  Zahl  der  Neger,  die 
ursprünglich  als  Sklaven  aus  dem  Sudan  gekommen  sind,  ist 
sehr  groß  im  Marokko,  je  weiter  nach  Süden,  um  so  größer.  Doch 
dürfte  sich  dieses  Bevölkerungselement  jetzt  bald  verwischen, 
nachdem  die  Zufuhr  mit  der  Besetzung  des  Sudan  durch  die 
Franzosen  unterbunden  ist. 

Juden  sind  über  ganz  Marokko  verbreitet,  tief  im  Inneren, 
in  den  Dörfern  des  Atlas,  überall  findet  man  einzelne  Familien 
und  Gruppen  solcher.  Ähnlich  dem  polnischen  Edelmann  früherer 
Zeiten  scheint  kein  Kaid  ohne  einen  Hofjuden  auskommen  zu 
können.  Am  zahlreichsten  sind  sie  in  den  Städten,  namentlich 
an  der  Küste,  wo  sie  am  meisten  Schutz  genießen.  Dorthin  wan- 
dern sie  jetzt  auch  vielfach  aus  dem  Inneren.  In  Handel,  aber 
auch  im  Handwerk  spielen  sie  eine  große  Rolle. 

Marrokko  ist  lediglich  ein  Land  des  Ackerbaus  und  der 
Viehzucht.  Bergbau  ist  heute  unbekannt,  wird  aber  gewiß  einmal, 
wie  zahlreiche  mir  bekannt  gewordene  Erzvorkommen,  nament- 
lich reiche  Kupfererze  im  Sus,  aber  auch  sonst  im  Atlasvorlande 
zu  schließen  erlauben,  eine  große  Rolle  spielen.  In  früherer 
Zeit  hat  Bergbau  und  Metallverarbeitung  geblüht.  Die  einst 
blühende  Gewerbtätigkeit  ist  in  tiefem  Verfalle.  Sie  erzeugt 
kaum  noch  die  unentbehrlichsten  Gebrauchsgegenstände.  Mehr 
und  mehr  werden  selbst  Bekleidungsstoffe,  Metall  waren  und 
dergleichen  aus  Europa  eingeführt.  Da  aber  die  breitesten 
Schichten  der  Bevölkerung  infolge  der  unglaublichen  Mißverwal- 
tung verarmt  sind,  der  Unternehmungsgeist  ertötet,  der  Erwerbs- 
sinn geschwächt,  die  Ausfuhr  von  Getreide,  Vieh,  Pferden  und 
anderen  wichtigen  Gegenständen  verboten ,  Wege-  und  Brücken- 
bau unbekannt  ist,  so  ist  auch  die  Handelsbewegung  eine 
geringe.     Man  kann  den  Wert  der  Aus-  und  Einfuhr,  freilich  auf 


—     379     — 

sehr  unsicherer  Unterlage,  auf  etwa  80  Millionen  Mark  jährlich 
schätzen.  In  ersterer  spielen  Deutsche,  von  denen  die  ersten 
vor  kaum  zwei  Jahrzehnten  nach  Marokko  gekommen  sind,  eine 
große  Rolle,  in  letzterer  treten  sie  neben  Engländern  und  Fran- 
zosen zurück.  Doch  dürfte  der  deutsche  Handel  sich  in  Marokko 
heute  bereits  die  zweite  Stelle  nach  den  Engländern  erobert 
haben,  trotz  der  Ansprüche  der  Franzosen,  die  zum  Teil  auf 
künstlicher  Werterhöhung  des  zu  Lande  nach  Algerien  ausge- 
führten  Viehes  beruhen. 

Infolge  der  Mißregierung,  welche  bei  Dürre  und  Heuschrecken- 
plage, trotz  aller  Ausfuhrverbote  Hungersnöte  nicht  hintanzuhalten 
vermag,  aber  so  häufige  Aufstände,  bei  denen  ganze  Landschaften 
systematisch  ausgemordet  und  verwüstet  werden,  hervorruft,  daß 
man  sagen  kann,  irgendwo  sei  jederzeit  ein  Aufstand,  ist  die 
Volksdichte  auch  in  den  reichst  gesegneten  Landschaften  ge- 
ring. Ich  glaube,  selbst  in  dem  verhältnismäßig  dicht  bevölkerten 
Abda,  wo  man  alle  Viertelstunden  auf  einen  allerdings  meist 
kleinen  Duar  stößt,  dürften  nicht  mehr  als  50  Köpfe  auf  i  qkm 
kommen.  Ich  glaube,  daß  diejenige  Schätzung,  welche  der  ganzen 
Ländergruppe  etwa  acht  Millionen  Bewohner  zuschreibt,  der 
Wahrheit  ziemlich  nahe  kommen  dürfte.  Sicher  ist  das  aber  eine 
Höchstzahl.  Davon  ist  aber  nur  ein  Teil  staatlich  geeinigt  und 
dem  Sultan  unterworfen.  Von  den  etwa  600 000  qkm,  die  ich 
dieser  Ländergruppe  zuschreibe,  gehört  der  bei  weitem  größte 
Teil  zu  dem  im  Lande  selbst  so  genannten  Beled-es-Ssiba,  dem 
unabhängigen  Gebiet,  auf  das  der  Sultan  höchstens  als  religiöses 
Oberhaupt  einen  gewissen  Einfluß  ausübt,  nur  etwa  180000  qkm 
zum  Beled-el  Makhzen,  dem  Land  der  Kanzlei,  den  wirklich  dem 
Sultan  gehorchenden  Landschaften.  Den  Kern  dieser  letzteren 
bildet  das  Atlasvorland  mit  etwa  85000  qkm  und  3  Millionen 
Einwohnern,   also   35   Köpfe  auf  i  qkm. 

In  den  Händen  einer  europäischen  Macht,  die  die  reichen 
und  mannigfaltigen  Hilfsquellen  des  heute  noch  in  mittelalterlichen 
Zuständen  verharrenden  Landes  zu  entwickeln,  Lage  und  Welt- 
stellung zur  Geltung  zu  bringen  vermag,  kann  Marokko  zu  einem 
Machtfaktor  ersten  Ranges  werden,  der  imstande  wäre,  geradezu 
eine  Verschiebung  der  Machtverhältnisse  der  europäischen  Staaten 
hervorzurufen.  Allerdings  ist  nicht  außer  acht  zu  lassen,  daß 
eine  Eroberung   des  Landes  eine  schwierige  und  langwierige  Auf- 


—     38o     - 

gäbe  wäre,  weniger  die  des  Atlasvorlandes,  durchweg  offenen 
vom  Ozean  aus  leicht  zugänglichen  Landes,  um  so  mehr  die  des 
ziemlich  dicht  besiedelten  Rifgebiets  und  des  Gebirgslandes  des 
Atlas ,  dessen  Unterwerfung  eine  Vorbedingung  der  Eisenbahn- 
verbindung von  Fäs  mit  Algerien  wie  mit  dem  Mittelmeere  ist. 
Die  Zersplitterung  der  Gebirgsvölker  in  viele  kleine  sich  meist 
demokratisch  selbst  regierende,  untereinander  in  Fehde  und  Blut- 
rache liegende  Stämme  würde  bei  ihrer  unbändigen  Freiheitsliebe 
und  den  Geländeschwierigkeiten  nur  wenig  Erleichterung  bieten. 
Namentlich  der  natürliche  Weg ,  durch  welchen  Frankreich  Ma- 
rokko an  sich  ketten  könnte,  die  oben  besprochene  Tiefenlinie, 
auf  der  sich  in  diesem  Augenblicke  die  Kriegsoperationen  be- 
wegen, wird  erst  sicher  sein,  wenn  die  Gebirgsvölker  im  Norden 
und  im  Süden  davon,  die  mächtigen  Stämme  der  Rhiata, 
Hiaina  u.  a.  völlig  besiegt  sein  werden.  Und  gerade  diese  nord- 
marokkanischen Berbern  sind  jetzt  mit  den  besten  europäischen 
Hinterladern  bewaffnet,  die  ihnen  der  Schmuggel  von  Spanien 
und  Gibraltar,  vielleicht  neuerdings  auch  von  Algerien  her  zuge- 
führt hat.  Es  will  scheinen,  als  wollten  die  europäischen  Mächte 
im  klaren  Bewußtsein  der  furchtbaren  Gefahr,  die  die  Aufrollung 
der  marokkanischen  Frage  für  den  Weltfrieden  in  sich  birgt,  auch 
jetzt  unbedingt  dieses  europäischer  Gesittung  hohnsprechende 
Staatswesen  aufrecht  erhalten.  Für  Frankreich  handelte  es  sich 
bei  Erregung  oder  Förderung  des  Aufstandes  des  Bu  Hamara 
zunächst  wohl  nur  darum,  den  übergroß  gewordenen  englischen 
Einfluß  am  Hofe  zu  brechen.  Die  großen  Erfolge,  welche  es 
durch  die  Unklugheit  des  Sultans  und  seiner  englischen  Ratgeber 
erzielte,  ermöglichten  dann  den  Vertrag  vom  8.  April  1904, 
welcher  scheinbar  Marokko  Frankreich  völlig  überließ.  Freilich 
hat  sich  seitdem  gezeigt,  was  jeder  Kenner  schon  voraussah,  daß 
die  friedliche  Eroberung  ein  schöner  Traum  war.  Will  Frankreich 
Marokko  besitzen,  so  muß  es  es  erobern,  mag  es  wollen  oder 
nicht:  eine  Aufgabe,  die  für  Frankreich,  das  schon  6  Millionen 
haßerfüllte  Eingeborene  in  Algerien  und  Tunesien  niederzuhalten 
hat,  geradezu  verhängnisvoll  werden  kann.  Merkwürdig  mutet  es 
dabei  an,  daß  für  das  Deutsche  Reich  in  Marokko  überhaupt 
keine  politischen  Interessen  vorhanden  sein  sollen,  während  an 
der  Meerengenfrage  alle  Handelsvölker  beteiligt  sind  und  wir 
doch  in  bezug  auf  die  wirtschaftlichen  Interessen  dort  in  zweiter 


-     38r      - 

Stelle  stehen.  Diese  wären  dem  Untergange  geweiht,  unsere 
Stellung  als  Welt-  und  Welthandelsmacht  wäre  aufs  äußerste  ge- 
fährdet, wenn  Marokko  in  irgend  einer  Form  in  die  Hände 
Frankreichs  fiele.  Für  das  Deutsche  Reich  ist  Aufrechterhaltung 
Marokkos  als  unabhängiger  Staat  geboten,  allerdings  unter  wirt- 
schaftlicher Erschließung  mit  gleichem  Licht  und  gleicher  Sonne 
für  alle  Völker.  Wird  einmal  eine  Veränderung  der  politischen 
Karte  dieses  Teils  von  Afrika  unvermeidlich,  so  muß  das  Deutsche 
Reich  sein  Teil  erhalten:  el  Haus  und  Sus.  Unser  Interesse 
an  der  Meerenge  ist  zur  Not  gewahrt,  wenn  sich  dort  zwei 
Mächte,  Spanien  selbstverständlich  nicht  als  Macht  gerechnet,  die 
Wage  halten.  Jedenfalls  sind  die  geographischen  Verhältnisse 
der  von  jeher  latent  vorhanden  gewesenen  politischen  Zerteilung 
dieser  Ländergruppe  günstig. 


5.  Französische  Kolonialpolitik  in  Nordwestafrika.^) 

Der  Abschluß  des  deutsch-französischen  Kamerunvertrages 
vom  15.  März  1894  legt  es  nahe,  einmal  einen  zusammenfassen- 
den Blick  auf  die  Vorgänge  und  Bestrebungen  zu  werfen,  welche 
in  diesem  Vertrage  mit  einem  glänzenden  Erfolge  Frankreichs 
nunmehr  einen  äußeren  Abschluß  erhalten  haben. 

Ein  Triumph  Frankreichs  ist  dieser  Vertrag  unzweifelhaft, 
seine  Bedeutung  wird  noch  dadurch  erhöht,  daß  er  dem  ver- 
haßten Feinde,  dem  Deutschen  Reiche,  abgekämpft  ist.  Durch 
Glück  und  die  Gunst  der  geographischen  Verhältnisse  mit  herbei- 
geführt, ist  er  doch  als  ein  wohlverdienter  zu  bezeichnen.  Es  hat 
lediglich  hier  zielbewußtes,  opferbereites,  durch  keinen  Mißerfolg 
zu  erschütterndes  Streben  seinen  Lohn  gefunden.  Dieser  Aus- 
gang des  Kampfes  um  das  Hinterland  von  Kamerun  war  bereits 
vorauszusehen  in  dem  Augenblicke  (1885),  wo  die  Regierung, 
sich  den  nur  auf  den  augenblicklichen  Nutzen  gerichteten,  eng- 
herzig eigensüchtigen  x\uschaungen  der  Hamburger  Kaufleute  an- 
schließend, trotz  Drängens  von  anderer  Seite  grundsätzlich  darauf 
verzichtete,  durch  größere  Unternehmungen  auf  den  eben  er- 
schlossenen Wasserstraßen  des  Ubangi,  dem  sich    1 890  der  noch 


l)  Preuß.  Jahrbücher.    Bd.  76.    Heft  2.     1894. 


—     382      - 

günstigere  Sanga  anreihte,  vom  Kongo  aus  das  weitere  Hinterland 
von  Kamerun  zu  sichern.  Der  Mangel  an  Wagemut  und  weitem 
Blick  trat  da  recht  bedauerlich  auf  unserer  Seite  hervor.  Frei- 
lich, der  deutsche  Philister  nennt  das,  was  Engländer  und  Fran- 
zosen im  letzten  Jahrzehnt  in  Afrika  getrieben  haben,  abenteuer- 
liche Politik  und  vollberechtigtes,  starkes  Nationalbewußtsein  ist 
ihm  Chauvinismus.  Jener  erste  Mißgriff  der  Regierung  findet 
zum  Teil  wenigstens  eine  Entschuldigung  darin,  daß  es  in  den 
breiten  Schichten  des  deutschen  Volkes  und  vollends  in  unserer 
Volksvertretung  an  Verständnis  und  an  Opferwilligkeit  für  diese 
überseeischen  Dinge  fehlt,  während  beide  in  Frankreich  in  hohem 
Maße  vorhanden  sind.  Wenn  man  mitten  in  diesen  Dingen  drin 
steht  und  sieht,  wie  klein  die  Zahl  derjenigen  bei  uns  ist,  die 
überhaupt  eine  Ahnung  davon  haben,  daß  es  sich  in  der  Kolo- 
nialpolitik um  nichts  Geringeres  als  um  die  Sicherung  der  Zu- 
kunft unseres  Volkes  handelt,  und  daß  diese  wenigen  zum  großen 
Teil  nicht  zu  den  mit  Glücksgütern  gesegneten  gehören,  vermag 
man  sich  tiefer  Entmutigung  nicht  zu  erwehren.  Welche  Mühe 
kostet  es  bei  uns,  um  die  kleinen  Summen  zusammenzubetteln! 
In  letzter  Stunde  noch  werden  50  000  Mark  zusammengebracht 
zur  Ausrüstung  der  Uechtritzschen  Expedition,  die  doch  dazu 
beigetragen  hat,  einiges  zu  retten,  während  die  Franzosen  in 
wenigen  Wochen  1892  130000  Francs  und  bis  Ende  des  Jahres 
257000  Frcs.  zur  Ausrüstung  der  Maistreschen  Expedition  zu- 
sammen hatten.  Die  Opferwilligkeit  würde  allerdings  auch  bei 
uns  größer  sein,  wenn  ein  zielbewußtes  weitausschauendes  Vor- 
gehen der  Regierung  dazu  ermutigte.  Während  unsere  Sendlinge 
sich  mit  ihren  schwachen  Kräften  und  Mitteln  durch  die  feuchten 
Urwaldgehölze  und  feindliche  Völker  zu  Lande  von  Kamerun 
aus  vorzudringen  abmühten,  sozusagen  den  Stier  bei  den  Hörnern 
packten,  kamen  uns  die  Franzosen  auf  den  bequemen  Wasser- 
straßen vom  Kongo,  ja  selbst  vom  Binue  aus  zuvor,  schlössen 
Verträge  und  gründeten  Stationen  an  Orten,  die  wir  unserem 
Machtbereich  bereits  für  gesichert  hielten.  Daß  wir  noch  so  viel, 
eine  Ausdehnung  unseres  Machtbereiches  bis  zum  Schari  und 
zum  Tschadsee,  erreicht  haben,  also .  über  Gebiete,  auf  die  wir 
tatsächlich  keine  anderen  Rechtsansprüche  erworben  haben,  als 
diejenigen,  die  jemand  aus  der  rein  wissenschaftlichen  Tätigkeit 
deutscher  Forscher    früherer  Zeiten   herleiten   möchte,   das  beruht 


—     383      — 

wohl  im  wesentlichen  darauf,  daß  die  Franzosen,  abgesehen  von 
der  Uechtritzschen  Expedition,  mit  Rücksicht  auf  die  Engländer 
und  namentlich  wegen  der  Zusammenstöße  mit  denselben  im 
Innern  von  Oberguinea  zu  einem  Abschlüsse  und  einer  Regelung 
der   Grenze   uns  gegenüber  zu   kommen  wünschten. 

Da  jetzt  nur  noch  in  Togoland  ähnliche  Fragen,  aber  von 
untergeordneter  Bedeutung,  zu  regeln  sind,  so  bildet  dieser  Ver- 
trag den  wirkUchen  Abschluß  der  Aufteilung  Afrikas  und  unserer 
an  derartigen  traurigen  Episoden  nicht  gerade  armen  Geschichte 
der  Gründung  unseres  Kolonialreiches;  für  Frankreich  bezeichnet 
er  die  Erreichung  eines  großen  mit  bewundernswerter  Opfer- 
freudigkeit und  Tatkraft,  erst  unsicher  und  tastend,  bald  aber 
immer  sichereren  Schrittes  angestrebten  Zieles.  Da  die  Franzosen 
schon  vorher,  in  ähnUcher  Weise  wie  uns,  dem  Kongostaat  ein 
gewaltiges  Ländergebiet  vorweg  genommen  hatten,  reicht  ihr 
Machtbereich,  teils  durch  internationale  Verträge  anerkannt,  teils 
von  niemand  bestritten,  von  5°  südlich  vom  Äquator  bis  37*^  Nord, 
vom  Kongo  bis  zum  Mittelmeere,  dessen  Südgestade  in  Klein- 
afrika in  etwa  25  stündiger  Fahrt  der  Südküste  Frankreichs  gegen- 
über liegt.  Sehr  rasch  hat  somit  das  Ende  1890  erst  gegründete 
Comite  de  l'Afrique  fran^aise,  eine  große,  alle  Stände  und 
Berufsarten  umfassende  Gesellschaft,  ihr  Ziel,  alle  Besitzungen 
Nord-  und  Westafrikas  durch  Erschließung  des  Iimem  unter 
sich  zu  verbinden  und  zunächst  das  französische  Kongogebiet 
nordwärts  bis  zum  Tschadsee  auszudehnen,  äußerlich  wenigstens 
erreicht.  Nur  die  (bekanntlich  seitdem  auch  erreichte)  Ver- 
bindung des  Sudan  mit  Algerien  fehlt  noch.  Im  Süden  bildet 
somit  heute  der  Kongo  von  unterhalb  des  Stanleypool  bis  zur 
Mündung  des  Ubangi,  seines  großen  rechten  Zuflusses,  dann 
dieser  selbst  bis  zur  Mündung  seines  rechten  Zuflusses  Mbomu 
{2^°  ö.  L.  V.  Gr.)  die  anerkannte  Grenze  des  französischen  Ge- 
bietes gegen  den  Kongostaat,  östlich  von  unserem  Kamerun- 
gebiet, das  immerhin  noch  ungefähr  495  000  qkm  umfaßt,  also 
dem  Deutschen  Reiche  selbst  wenig  nachsteht,  ist  fast  das  ganze 
Scharibecken,  also  namentlich  die  große  von  G.  Nachtigal  er- 
forschte Landschaft  Bagirmi  Frankreich  überantwortet.  Das  gleiche 
gilt  vom  größeren  Teile  des  mehr  einem  flachen,  sich  periodisch 
ausdehnenden  und  verkleinernden  Sumpfe  ähnelnden  Tschadsees, 
da,  von  dem  kleinen  uns  jetzt  zugesprochenen  südlichen  Uferstück 


—  384   - 

abgesehen,  der  englisch-französische  Vertrag  vom  5.  August  1890 
nur  das  allerdings  wertvollste,  vom  Golf  von  Guinea  am  leich- 
testen zu  erreichende  Südwestufer  des  Sees  im  Reiche  Bomu, 
England  zusprach.  Dieser  Vertrag  erkannte  ausdrücklich  die 
Freiheit  des  weiteren  Hinterlandes  von  Kamerun  an  und  gab  so 
den  Franzosen  den  sofort  benutzten  Anstoß  vom  Kongo  aus  in 
diese  Länder  vorzudringen,  wie  der  uns  verhältnismäßig  günstige 
englisch-deutsche  Vertrag  vom  15.  November  1893,  der  uns  den 
Zugang  zum  Tschadsee  sicherte,  sofort  die  nunmehr  befriedigten 
Ansprüche  Frankreichs  hervorrief.  Die  englisch-französische  Grenze 
im  mittleren  Sudan  verläuft  im  allgemeinen  von  Barrua  am  Tschad- 
see in  westUcher  Richtung  nach  Say  am  Niger,  so  daß  also,  wie 
schon  seit  längerer  Zeit  das  Senegalgebiet,  so  jetzt  auch  das 
ganze  obere  Nigergel)iet  als  französischer  Einflußbereich  anerkannt 
und  in  der  Tat  auch  schon  zum  Teil  französisches  Schutzgebiet 
ist.  Auch  hier  haben  die  Franzosen  sofort  nach  Abschluß  des 
Vertrages  durch  Major  Monteil,  der  vom  Senegal  ausgehend 
(Oktober  1890),  über  Segu  und  Say  am  Niger,  Sokoto  und  Kano 
den  ganzen  westlichen  Sudan  bis  Kuka  am  Tschadsee  (April  1892) 
durchquert  hat,  die  Grenzlandschaften  gegen  den  englischen 
Machtbereich  zwischen  Niger  und  Tschad  in  ihrem  Interesse 
durchreisen  und  bearbeiten  lassen.  Doch  ist  der  wirkliche  Ver- 
lauf der  Grenze  hier  noch  sehr  zweifelhaft,  da  die  Engländer, 
besonders  die  englische  Nigergesellschaft,  als  Schutzherren  der 
wichtigen  Fellatahstaaten,  alles  in  Anspruch  nehmen,  was  irgend- 
wie zum  Reiche  Sokoto  gehören  könnte,  selbst  die  Landschaft 
Damergu,  ja  sogar  die  bereits  in  der  Sahara  gelegene  Oasen- 
landschaft Agades  und  A'ir.^) 


I)  Nach  Vertrag  vom  14.  Juni  1898  mit  England  verläuft  die  Nord- 
grenze des  englischen  Nigeria  zwischen  Tschadsee  und  Niger  ungefähr  unter 
14"  n.  Br.  Was  nördlich  davon  liegt,  so  namentlich  der  größte  Teil  der 
mittleren  und  der  westlichen  Sahara,  abgesehen  von  dem  spanischen  Gebiet 
des  Rio  de  Oro  am  Ozean,  ist  als  französisches  Einflußgebiet  anerkannt. 
Im  Jahre  1900  wurde  die  wichtige  Oasengruppe  von  Tuat,  der  Knoten- 
punkt der  Handelswege  vom  Nigerbogen  und  dem  französischen  Timbuktu 
her  nach  den  Atlasländern  erobert.  Wird  die  Herstellung  einer  regel- 
mäßigen Verbindung,  die  viel  erörterte  Transsaharaeisenbahn  zwischen  Al- 
gerien und  dem  Niger  auch  noch  lange  auf  sich  warten  lassen,  so  ist  es 
doch    endlich    nach    jahrzehntelangem    Bemühen    und    großen    Verlusten    dem 


-     385     - 

Mit  einem  gewissen  Rechte  können  die  Franzosen  somit 
heute  ganz  Nordwestafrika  bis  zu  einer  Linie  von  der  Kleinen 
Syrte  zum  Tschadsee  und  Kongo  als  französischen  Machtbereich 
ansehen,  innerhalb  welches  zerstückt  deutsche,  englische,  portu- 
gisische,  spanische  Gebiete  und  Marokko,  alle  rings  von  fran- 
zösischem Gebiet  umschlossen,  liegen.  Vielleicht  träumt  man 
schon  davon,  daß  eine  Aufsaugung  dieser  fremden  Einschlüsse 
nur  eine  Frage  der  Zeit  ist.  Jedenfalls  wird  eine  endgültige, 
den  geographischen  Verhältnissen  mehr  Rechnung  tragende  Auf- 
teilung Afrikas  erst  durch  einen  europäischen  Krieg  herbeigeführt 
werden.  Hoffen  wir,  daß  bis  dahin  auch  bei  uns  die  nötige 
Einsicht  durchgedrungen  ist,  die  das  ganze  Afrika  nicht  mehr  als 
eine  Last  ansieht,  die  man  lieber  abschütteln  als  weiter  ver- 
mehren möchte. 

Man  kann  dies  französische  Nordwestafrika  auf  9,6  Mill.  qkm, 
so  viel  wie  ganz  Europa,  fast  y^  von  Afrika,  das  18 fache  von 
Frankreich,  mit  sSYg  Mill.  Bewohnern  schätzen.  Wie  schon  letz- 
tere Zahl  erkennen  läßt,  ist  ein  sehr  großer  Teil  dieser  ungeheuren 
Landmasse  überhaupt  unbewohnbar,  der  Rest  sehr  dünn  bevölkert, 
wenn  auch  einer  großen  Verdichtung  der  Bevölkerung  zugänglich. 
Vor  allem  gilt  dies  vom  Nordrande  von  Kleinafrika,  der  viele 
Millionen  europäischer  Ansiedler  aufzunehmen  fähig  ist.  Den  bei 
weitem  besten  Teil  des  tropischen  Nordwestafrika  haben  aller- 
dings die  Engländer  an  sich  gerissen,  das  untere  Nigergebiet 
und  den  Zentralsudan  bis  zum  Tschadsee,  Länder,  die  schon 
heute  dicht  bevölkert,  reich  an  großen  Städten  als  Sitzen  des 
Handels  und  der  Gewerbtätigkeit  mit  wohlgeordneten  Staatswesen 
sich  rasch  zu  einem  wichtigen  Absatzgebiete  britischer  Erzeug- 
nisse zu  entwickeln  vermögen,  um  so  rascher,  da  hier  allein 
Innerafrika  durch  große  Wasserstraßen,  wie  sie  der  Niger  und 
sein  großer  linker  Zufluß  Binue  bilden,  von  der  tiefen  Ein- 
buchtung von  Guinea  aus  zugänglich  ist.  Immerhin  sind  aber 
auch  das  französische  obere  Nigergebiet  und  das  Senegalgebiet 
sehr   zukunftsreich.      Sie    bergen    Sitze   tief   ins  Mittelalter  hinein- 


Reisenden  Foureau  1898  gelungen,  von  Algerien  aus  die  Sahara  nach  dem 
Sudan  zu  durchqueren,  ja  1904  begegneten  sich  zwei  französische  militä- 
rische Forschungsgesellschaften,  die  eine  unter  Laperrine  von  Tuat,  die  andere 
unter  Thevoniant  von  Timbuktu  ausgegangen,  mitten  in  der  Wüste  in  Ti- 
missao  unter  22  *  n.  Br. 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  25 


—     386     - 

reichender  Gesittung,  alte  Staatenbildungen  und  sind  durch  die 
Wasserstraße  des  oberen  Niger,  welche  sich  freilich  sehr  unvoll- 
kommen im  Senegal  fortsetzt,  beide  zwischen  Kayes  am  Senegal 
und  Bammako  am  Niger  durch  eine  Eisenbahn  verbunden,  vom 
Ozean  aus  zugängUch.  Hier  liegt  eine,  wohl  die  wichtigste  Zu- 
gangsstraße Frankreichs  zu  Innerafrika.  Dakar,  der  Haupthafen 
der  Senegalkolonie,  dicht  unter  dem  Grünen  Vorgebirge,  ist  in 
elf  Tagen  von  Marseille  erreichbar.^)  Bedeutungsvoll  ist  dabei, 
daß  die  Senegalkolonie  zugleich  eine  der  ältesten  französischen 
Kolonien  überhaupt  ist,  der  einzige  vor  der  unersättlichen  Länder- 
gier Englands  gerettete  größere  Rest  des  ersten  französischen 
Kolonialreiches.  Seit  vollen  zwei  Jahrhunderten  herrschen  hier 
die  Franzosen,  aber  sehr  langsam  hat  sich  ihr  Einfluß  nach  dem 
Innern,  selbst  längs  dem  Senegal  ausgedehnt,  etwas  rascher 
eigentlich  erst  seit  1880;  erst  1883  setzten  sie  sich  unter  Oberst 
Desbordes  in  Bammako  am  oberen  Niger  fest  und  drangen  von 
da,  Stationen  gründend  und  Schutzverträge  schließend,  nicht  ohne 
heftige,  Wechsel-  und  verlustvolle  Kämpfe,  die  bei  uns  die  Kurz- 
sichtigkeit und  Parteiwut  wahre  Orgien  hätten  feiern  machen, 
sowohl  stromauf,  wie  stromab  weiter  vor.  Namentlich  gelang  es 
auch  durch  Schutzverträge  die  französische  Elfenbeinküste  mit 
dem  oberen  Nigergebiet  in  Verbindung  zu  bringen,  so  daß  dort 
jede  Ausdehung  der  englischen  und  portugiesischen  Besitzungen 
wie  der  Republik  Liberia  nach  dem  Innern  unterbunden  ist. 
Überall  rückt  die  unmittelbare  Herrschaft  Frankreichs  der  Schutz- 
herrschaft rasch  nach.  Den  äußersten  Punkt  französischer  Herr- 
schaft bildet  das  heute  wieder  einmal  vielgenannte  Timbuktu, 
das  am  10.  Januar  1894  besetzt  wurde,  nachdem  französische 
Kanonenboote  schon  seit  April  1893  in  Kabara,  dem  Flußhafen 
von  Timbuktu  am  Niger,  stationiert  gewesen  waren.  Damit  ist, 
wenn  auch  mit  Rücksicht  auf  Anbahnung  besserer  Beziehungen 
zu  den  Tuareg  vielleicht  zu  früh,  ein  hochbedeutungsvoller  Schritt 
geschehen.  Denn  behaupten  wird  Frankreich  Timbuktu  unter 
allen  Umständen,  wie  die  neuesten  Nachrichten  tatsächlich  auch 
bereits  von  in  Ausführung  begriffenen  Festungsanlagen  dort 
melden. 


l)  Es  wird  jetzt  zu  einem  großen  Seekriegshafen  und  Flottenstützpunkte 
ausgebaut. 


-      38?      - 

Die  augenblickliche  Bedeutung  von  Timbuktu  ist  eine  ge- 
ringe, es  ist  durch  Lahmlegung  des  Handels  infolge  der  unauf- 
hörlichen, sich  meist  um  den  Besitz  dieses  wichtigen  Punktes 
drehenden  Kämpfe  zwischen  den  Bewohnern  der  Wüste,  heute 
den  Tuareg,  und  den  Bewohnern  des  Kulturlandes,  heute  der 
Fulbe,  ziemlich  entvölkert  und  verödet.  Schon  H.  Barth,  durch 
den  wir  es  zuerst  kennen  gelernt  haben,  fand  es  1853  gesunken 
und  schätzte  seine  kennzeichnend  für  die  Handelsstadt  außer- 
ordentlich bunt  gemischten  Bewohner  nur  auf  13000,  O.  Lenz 
1880  auf  etwa  20000,  seitdem  scheint  aber  ein  rascher  Rück- 
gang stattgefunden  zu  haben  und  der  Handel  arg  darnieder  zu 
liegen.  Die  Lagenverhältnisse  von  Timbuktu  sind  aber  so  aus- 
gezeichnete, daß  es  in  den  Händen  einer  starken  Macht  rasch 
wieder  die  Bedeutung  erlangen  muß,  die  es  in  früheren  Jahr- 
hunderten gehabt  hat.  Die  Stadt  liegt  15  km  nördlich  vom  Niger, 
der  aber  bei  Hochwasser  noch  die  Umgebung  überflutet,  in 
wüstenhafter  Umgebung,  nur  durch  den  Flußhafen  Kabara,  der 
aber  auch  an  einem  Seitenarme  liegt,  mit  dem  Strome  verkehrend. 
Dieser  bildet  hier  ein  auffälliges  Knie  und  ändert  seine  bisherige 
Nordostrichtung,  also  in  die  große  Wüste  hinein,  erst  in  Ost, 
weiterhin  in  Südost.  Um  diese  Lage,  die  die  Stadt  als  gegen 
die  Wüste  vorgeschoben,  aber  durch  die  beiden  schiffbaren 
Schenkel  des  Stromes  mit  dem  Sudan  verbunden  erscheinen  läßt, 
noch  bedeutungsvoller  zu  machen,  wird  hier  der  oberhalb  mehr- 
fach geteilte,  große  Zuflüsse  aufnehmende  Strom,  also  ein  Bündel 
von  Wasserstraßen,  in  eine  einzige  Rinne  zusammengedrängt. 
Timbuktu  ist  also  ein  zum  Austausch  der  Erzeugnisse  völlig  ver- 
schieden ausgestatteter  Gebiete,  des  Sudan  und  der  Sahara  und, 
da  Wasserplätze  und  Oasen  sowohl  von  Südwestmarokko,  wie 
von  Tuat  und  Tripolitanien  her  die  Wüstenstraßen  auf  diesen 
Punkt  lenken,  auch  der  Mittelmeerländer  und  Europas  wie  ge- 
schaffener Punkt.  Sind  doch  die  Beziehungen  zu  den  zissaha- 
rischen  Ländern  so  enge,  daß  man  nicht  nur  zahlreiche  Vertreter 
aller  nordafrikanischen  Völker  in  Timbuktu  findet,  sondern  ein 
marokkanisches  Heer  1588  die  Stadt  eroberte,  die  auf  ein  Jahr- 
hundert Marokko  Untertan  blieb.  Als  Handelsstadt  war  Timbuktu 
namentlich  im  Mittelalter,  aber  auch  noch  später,  obwohl  oft  er- 
obert und  verwüstet,  ein  Sitz  des  Reichtums,  wenn  auch  nicht  in 
dem  Maße  wie    es  wohl   geschildert  worden   ist,  eine  Stätte  mo- 

25* 


-     388     - 

hammedanischer  Gesittung  und  Gelehrsamkeit,  die  wohl  von  hier 
aus  zuerst  in  den  Sudan  kulturfördernd  eingedrungen  ist.  Wer 
will  behaupten,  daß  es  in  nicht  ferner  Zukunft,  wenn  es  den 
Franzosen  gelingt  die  Verbindung  mit  dem  Mittelmeere  her- 
zustellen, in  ähnlicher  Weise  der  Ausgangspunkt  europäischer 
Gesittung  für  den  Sudan  wird?  Das  Klima  scheint  derartig  zu 
sein,  daß  Europäer  in  großer  Zahl  und  andauernd  als  Kultur- 
träger dort  wohnen  können.  Die  geographischen  Bedingungen 
zu  einem  neuen  Aufblühen  Timbuktus  sind  nur  in  geringem 
Maße  dadurch  geändert,  daß  der  zentrale  Sudan  durch  Niger 
und  Binue  einen  bequemeren  Weg  zum  Meere  und  nach  Europa 
erhalten  hat,  aber  die  Erzeugnisse  der  Sahara,  das  für  den  Sudan 
überaus  wichtige  Salz,  Datteln,  Lederarbeiten  u.  dgl.  sind  noch 
die  gleichen,  ebenso  die  des  Sudan,  die  unter  europäischen  Ein- 
flüssen nur  in  weit  größeren  Mengen  hervorgebracht  werden  und 
für  welche  die  sich  mehrende  Bevölkerung  immer  größere  Mengen 
europäischer  Waren  wird  aufnehmen  können. 

Verfrüht  kann  die  Besetzung  von  Timbuktu  namentlich  in- 
sofern erscheinen,  als  die  Anbahnung  friedlicher  Beziehungen  zu 
den  Tuareg,  die  sich  nun  sozusagen  zwischen  zwei  Feuer  ge- 
nommen sehen,  abgesehen  von  dem  Verluste  von  Timbuktu  zu- 
gleich als  Einnahmequelle,  immer  schwieriger  werden  muß.  Und 
solche  herzustellen,  da  Gewalt  anzuwenden  sehr  schwierig  ist, 
schien  gerade  in  letzter  Zeit  das  eifrige  Streben  der  französischen 
Kolonialpolitiker  zu  sein.  -  Denn  seit  langem  ist  es  eines  der 
Hauptziele  derselben  von  Algerien  aus  den  Verkehr  mit  dem 
Sudan,  der  seit  der  Eroberung  Algeriens  durch  die  Franzosen 
ganz  aufgehört  hat,  neu  zu  beleben,  ja  Timbuktu  und  den  Sudan 
durch  eine  Eisenbahn  (le  Transsaharien)  an  Algerien  und  Frank- 
reich zu  knüpfen.  Seit  etwa  anderthalb  Jahrzehnt  steht  diese 
Eisenbahn  in  Frankreich  im  Vordergrunde  der  Erörterung  und 
mit  zähester  Folgerichtigkeit,  durch  keinen  Mißerfolg  entmutigt, 
arbeiten  die  Regierung  und  weite  Kreise  der  Nation  an  der  Vor- 
bereitung und  Weiterführung  dieses  großen  Planes.  Man  ist 
sogar  so  weit  gegangen,  sich  um  die  friedliche  Mitwirkung  der 
Herren  der  Wüste,  der  Tuareg,  zu  bemühen,  obwohl  der  schwerste 
Mißerfolg,  den  Frankreich  hier  erfahren  hat,  die  Ermordung  des 
Obersten  Flatters  mit  fast  seiner  ganzen  Begleitung,  gegen 
150  Mann,   durch  die  Tuareg  in  der  Sahara  zwischen  Assiu  und 


-     389     — 

Air,    etwa   unter    dem   20.  Parallel   im  Februar   1881    noch  heute 
ungerächt  ist. 

Es  lohnt  einen  Augenblick  bei  den  Bestrebungen  der  Fran- 
zosen zu  verweilen,  denen  schon  viele  Millionen  und  Hunderte 
von  Menschenleben  geopfert  worden  sind  und  die,  trotzdem  die 
damit  erzielten  Erfolge  gleich  Null  sind,  mit  einer  Zähigkeit,  ge- 
rade in  den  letzten  Jahren,  weitergeführt  werden,  der  schließlich 
der  Erfolg  nicht  fehlen  wird.  Es  ist  eben  dieses  Vorgehen  der 
Franzosen  in  Afrika  zurückzuführen  auf  den  wohlberechtigten 
Nationalstolz  dieses  Volkes.  Wie  derselbe  in  Europa  zur  Wieder- 
erlangung der  verlorenen  Vorherrschaft  den  letzten  Mann,  der 
nur  eben  Waffen  tragen  kann,  in  das  Heer  einreiht  und  dafür 
die  drückendsten  Geldopfer  bringt,  so  ist  er  gleichzeitig  bemüht 
über  See  dem  gewaltig  anschwellenden  Angelsachsen-  und 
Slawentum  gegenüber,  die  schon  heute,  und  nächst  ihnen  die 
Deutschen,  an  Kopfzahl  die  Franzosen  weit  in  Schatten  gestellt 
haben,  die  größten  Ländergebiete  dem  französischen  Einflüsse, 
dem  französischen  Handel  zu  sichern.  Ein  so  unentwegt  folge- 
richtiges Vorgehen,  trotz  der  unablässig  wechselnden  Ministerien, 
wäre  nicht  möghch,  wenn  nicht  die  breitesten  Schichten  der  Nation, 
wie  Regierung  und  Volksvertretung  von  der  Überzeugung  durch- 
drungen wären,  daß  die  äußere  Machtstellung  eines  Volkes  sich  auch 
in  der  Anerkennung  wiederspiegelt,  welche  seine  Erzeugnisse  auf 
dem  Weltmarkte  finden,  und  daß  es  sich  in  dem  gewaltigen 
wirtschaftlichen  Ringen  der  Völker  darum  handelt,  über  See 
Frankreich  ein  großes  geschlossenes  W^irtschaftsgebiet  zu  sichern, 
in  welchem  sich  seine  reichen  Geldmittel  und  seine  Kulturkräfte 
unter  dem  Schutze  des  eigenen  Staates  nutzbringend  betätigen 
können;  Länder  zu  erwerben,  welche  Frankreich  für  den  Bezug 
von  Roh-  und  Nährstoffen,  für  den  Absatz  der  Erzeugnisse  des 
eigenen  Gewerbefleißes  vom  Auslande  mehr  und  mehr  unab- 
hängig zu  machen  imstande  sind.  Wie  weit  sind  wir  Deutschen, 
Hoch  und  Niedrig,  noch  von  dieser  Erkenntnis  entfernt,  wie 
kläglich  ist  das  Schauspiel,  welches  unsere  Volksvertretung  und 
unser  Volk  bietet,  wenn  es  sich  um  Sicherung  unserer  Zukunft 
auf  dem  Wege  der  Kolonialpolitik  oder  um  die  Vermehrung  un- 
serer Streitkräfte  und  Aufbringung  der  Mittel  für  dieselben  han- 
delt. Trotzdem  wir  mit  unserem  Heere  und  mit  den  geringen 
Mitteln,   die  uns  zur  Erwerbung  und  Entwickelung  unserer  Schutz- 


—     390     — 

gebiete  zur  Verfügung  standen,  Großes  geleistet  haben!  Trotzdem 
wir  Geschick  und  Kulturkräfte,  an  denen,  wie  wir  sehen  werden, 
Frankreich  gewiß  keinen  Überfluß  hat,  ja  selbst  Geld  in  Fülle 
besitzen!  Ungeheuere  Verzinsung  suchende  Summen  haben  unsere 
in  allen  überseeischen  Dingen  kläglich  unwissenden,  mißleiteten 
Sparer  an  so  vertrauenerweckende  Völker  wie  Griechen  und 
Portugiesen  verloren,  die  sie  auf  mindestens  ebenso  gewagte 
Unternehmungen  verwendet  haben,  wie  in  unseren  Kolonien,  nur 
ohne  daß  unsere  redliche  Verwaltung  die  Verwendung  überwachen 
konnte.  Wenn  nur  ein  Bruchteil  derselben  in  Eisenbahnen,  Pflan- 
zungen und  dergleichen  in  unseren  Schutzgebieten,  wo  wenig- 
stens gegen  Rechtsanschauungen,  wie  sie  jene  Völker  zeigen, 
Gewähr  geleistet  M'äre  und  wir  selbst  die  Verzinsung  in  der 
Hand  hätten,  angelegt  worden  wäre,  wieviel  weiter  wären  wir 
schon  heute! 

Die  Katastrophe  der  Flattersschen  Expedition  hat  die  Ver- 
suche der  Franzosen,  durch  die  Sahara  ihren  den  Niger  abwärts 
vordringenden  Streitkräften  die  Hand  zu  reichen,  nur  für  kurze 
Zeit  unterbrochen.  Namentlich  hat  auch  die  Wissenschaft  durch 
dieselben  und  die  Vorarbeiten  für  die  Eisenbahn  wesentliche 
Förderung  erfahren.  Die  Oberflächenformen,  den  geologischen 
Aufbau  der  großen  Wüste,  die  Lage  der  so  wichtigen  wasser- 
führenden Schichten  kennen  wir  heute,  namentlich  durch  die  er- 
folgreiche Tätigkeit  des  Geologen  G.  Rolland,  der  die  Vorarbeiten 
für  die  Eisenbahn  leitet,  wesentlich  besser.  Es  scheint  trotz  des 
Wettbewerbs  der  anderen  Provinzen  doch  der  von  Constantine 
und  Philippeville  am  Mittelmeere  ausgehenden  Linie  der  Vorzug 
zu  geben  zu  sein,  da  diese  nicht  nur  seit  mehreren  Jahren  bis 
Biskra,  am  Rande  der  Wüste,  in  Betrieb,  sondern  bereits  darüber 
hinaus  bis  Tuggurt  im  Bau  und  bis  Wargla  vorbereitet  ist.  Wie 
schon  von  Biskra  an  die  Schwierigkeiten  nur  in  dem  Mangel  an 
Wasser  und  drohenden  Sandverwehungen  liegen,  so  scheint  auch 
von  Wargla  nach  den  Forschungen  von  M.  G.  Mery  im  Jahre 
1893  das  Gelände  unter  Benutzung  des  12  — 13  km  breiten 
sandfreien  Bettes  des  Wadi  Jgharghar  auf  volle  neun  Tagereisen 
keine  Schwierigkeiten  zu  bieten.  Freilich  bleibt  auch  dann 
noch  eine  ungeheuere  Strecke  unerforscht  und  die  Entfernung 
des  äußersten  von  den  Franzosen  besetzten  Postens,  Hassi  Inifei, 
von  Timbuktu  beträgt  noch  i  700  km,   d.  i.  so  viel  wie  von  Berlin 


—     391      — 

nach  Konstantinopel.  Und  wenn  wirklich  alle  Schwierigkeiten, 
welche  Natur  und  Menschen  entgegenstellen,  überwunden  würden, 
so  würde  die  Ertragsfähigkeit  der  Eisenbahn  noch  lange  eine  so 
mangelhafte  sein,  daß  nur  ihre  große  politische  Wichtigkeit  einen 
Ausgleich  gewähren  könnte.  In  jeder  Hinsicht  würde  die  Be- 
deutung derselben  aber  eine  gewaltige  Einbuße  erleiden  in  dem 
Augenblicke,  wo  diejenige  Linie  gebaut  würde,  welche  die  Natur 
selbst  vorgezeichnet  hat:  von  Tripoli  zum  Tschadsee.  So  sehr 
die  Franzosen  die  Vorzüge  dieser  Linie  zu  leugnen  bemüht  sind, 
so  deutlich  verraten  ihre  auch  auf  Tripolitanien ,  im  Wettbewerb 
mit  Italien,  gerichteten  begehrlichen  Blicke,  daß  sie  innerlich  von 
denselben  vollauf  überzeugt  sind. 

Seit  einer  Reihe  von  Jahren  rücken  die  Franzosen  planmäßig 
in  der  Sahara  vor,  indem  sie  einerseits  ihre  festen  Posten  immer 
weiter  vorschieben,  die  älteren  verstärken  und  besser  nach  rück- 
wärts verbinden,  andererseits  die  Tuareg  zu  gewinnen  suchen. 
In  letzterer  Hinsicht  ist  die  Reise  eines  Abgesandten  der  Eisen- 
bahngesellschaft, des  eben  erwähnten  M.  G.  Mery,  im  Jahre  1893 
zu  erwähnen,  der  am  jetzt  trockenen  Menkhoughsee  mit  den 
Häuptern  der  Tuareg  Asdscher  eine  Zusammenkunft  hatte.  Die- 
selben gaben  die  Erklärung  ab,  daß  sie  friedlichen  Verkehr  der 
Franzosen  nicht  hindern  würden,  einem  bewaffneten  Vordringen 
jedoch  allen  Widerstand  entgegensetzen  würden.  Um  dieselbe 
Zeit  verhandelte  F.  Foureau,  einer  der  unerschrockensten  und 
erfolgreichsten  neueren  Saharaforscher,  dessen  Bekanntschaft  ich 
1886  in  Biskra  machen  konnte,  in  der  Nähe  von  Ghadames 
mit  anderen  Häuptern  der  Tuareg.  Ihm  kam  es  namentlich 
darauf  an,  die  Tuareg  zur  Anerkennung  des  von  den  Franzosen 
immer  wieder  hervorgezogenen  Vertrages  zu  bringen,  welchen 
Oberst  Mircher  1862  in  Ghadames  im  Namen  des  Marschall 
Pelissier  mit  den  Tuareg  abgeschlossen  hatte  und  der  nach  fran- 
zösischer Auffassung  allen  französischen  Kaufleuten  im  ganzen 
Machtbereiche  der  Tuareg  vollkommene  Sicherheit  gewähren  sollte. 
Foureau  ist  soeben  von  einer  letzten,  in  diesem  Winter  zu  ähn- 
lichen Zwecken  nach  Ghadames  unternommenen  Reise  nach 
Algerien  zurückgekehrt,  während  vom  Senegal  aus  L6on  Fabert 
die  Stämme  der  südwestlichen  Sahara  seit  i8gi  zu  gewinnen 
sucht.  Auch  Gesandtschaften  der  Tuareg  sind  wiederholt  und 
noch    1892   in  Algier  gewesen  und  haben   selbstverständlich   stets 


—     392     — 

eine  ausgezeichnete  Aufnahme  gefunden.  Alle  diese  Bemühungen 
sind  aber  bisher  erfolglos,  ja  zum  Teil  unheilvoll  gewesen,  indem 
sie  bei  den  Franzosen  eine  Vertrauensseligkeit  hervorriefen,  die 
zu  solchen  Katastrophen  wie  die  Vernichtung  der  Flatterschen 
Expedition  führten.  Die  Besetzung  von  Timbuktu  dürfte  wohl  auf 
lange  Zeit  Anknüpfungsversuche  unmöglich  machen. 

Langsamer,  aber  sicherer  muß  die  immer  weitere  Vorschie- 
bung französischer  Posten  zum  Ziele  führen.  Wargla,  der  größte 
dieser  Posten,  32^  n.  Br.,  schon  1852  von  den  Franzosen  be- 
setzt, als  Mittelpunkt  einer  sehr  großen  Oase  im  Mittelalter  ein 
Hauptsitz  des  Handels,  birgt  schon  eine  kleine  bürgerliche  fran- 
zösische Kolonie,  namentlich  auch  eine  Niederlassung  der  Väter 
der  Missionsgesellschaft  von  Äquatorialafrika  und  ist  heute  der 
Ausgangspunkt  aller  Unternehmungen  in  der  Sahara.  An  El 
Golea,  das,  300  km  weiter  südwestlich,  1873  in  Besitz  genommen 
ist,  sind  im  Herbst  1892  noch  Hassi  Inifei,  noch  weitere  150  km 
südwärts,  ein  spärlich  mit  Wasser  versehener  Punkt,  ohne  Bedeu- 
tung für  den  Handel,  aber  strategisch  wichtig  zur  Beherrschung 
der  Wege  nach  Tuat,  ferner  Mey  und  Berrec^of,  dieses  in  der 
Richtung  auf  Ghadames,  besetzt  und  befestigt  worden.  Eine 
eigene  Kamelreiterei  ist  für  den  Dienst  so  tief  im  Innern  der 
Wüste  errichtet  worden.  Allerneueste  Berichte  französischer  Zei- 
tungen erwähnen  noch  drei  noch  weiter  gegen  Tuat  vorgescho- 
bene Punkte,  die  soeben  besetzt  und  befestigt  worden  sind  oder 
werden.  Von  den  Forschern  wird  auf  Errichtung  von  Posten  in 
El  Biodh,  Temmassinin,  Messegem  und  Amgid,  kleinen,  nur  zum 
Teil  bewohnten  Oasen  mit  Quellen  und  Brunnen,  gedrungen,  durch 
welche  man  das  Tuaregland  selbst  in  Schach  halten  und  die 
Straßen  von  Ghadames  und  Rhat  nach  Tuat  beherrschen  könnte. 
Noch  wichtiger  freilich  wäre  die  längst  geplante  Besetzung  der 
großen  Oasengruppe  von  Tuat  und  Tidikelt,  namenthch  In-Salah, 
die  noch  kein  Franzose  hat  betreten  dürfen.  Damit  wäre  ein 
Hauptherd  des  Widerstandes  gegen  die  Ausdehnung  der  Fran- 
zosen in  der  Sahara,  der  wichtigste  Knotenpunkt  der  Straßen, 
besonders  der  nach  Timbuktu  führenden  und  vor  allem  der  Punkt 
in  Frankreichs  Gewalt,  auf  welchen  die  Tuareg  für  den  Bezug 
von  Brotstoffen,  Datteln,  Pulver  und  dergleichen  angewiesen  sind. 
Bisher  haben  die  Tuater  dieser  Gefahr  durch  auffällige  Anerken- 
nung der  Herrschaft  von  Marokko  vorzubeugen  gesucht.    Es  will 


—     393     — 

indessen  scheinen,  als  sei  ein  Schlag  gegen  Tuat  soeben  nur 
durch  die  rasche  Beilegung  des  spanisch-marokkanischen  Streites 
vereitelt  worden,^)  Welche  Aufmerksamkeit  man  in  Frankreich 
neuerdings  den  Vorgängen  in  der  Wüste  schenkt,  darauf  deutet 
auch  die  Reise  (1894)  des  jetzigen  Generalgouvemeurs  von  Al- 
gerien Cambon,  eines  der  geschicktesten  Verwalter  und  Diplo- 
maten des  heutigen  Frankreich,  bis  nach  Golea.  Cambon  hat  es 
sich  besonders  große  Mühe  kosten  lassen,  mit  den  Tuareg  zu 
einem  Einverständnis  zu  kommen. 

Der  bei  weitem  größere  Teil  des  französischen  Kolonial- 
reichs in  Nordwestafrika  ist  also  erst  seit  wenigen  Jahren  er- 
worben, ja  ist  zum  Teil  erst  auf  der  Karte  französisch,  viele 
seiner  Bewohner  haben  vielleicht  den  Namen  Frankreichs  noch 
nie  gehört.  Vielfach  wird  es  großer  Klugheit  und  langer  Kämpfe 
bedürfen,  um  überhaupt  die  französische  Herrschaft  zur  Anerken- 
nung zu  bringen.  Alte  Staaten,  wie  Baghirmi,  werden  noch  ganz 
anderen  Widerstand  entgegen  stellen,  wie  Samory  und  Ahmadu^), 
die  Herrscher  wenig  in  sich  gefestigter  Beiche  im  oberen  Niger- 
gebiet. Noch  schwieriger  erscheint  allerdings  die  Aufgabe,  welche 
in  dieser  Hinsicht  die  Engländer  im  Niger-  und  Binuegebiet 
übernommen  haben,  aber  diese  lassen  ihre  Herrschaft  zunächst 
durch  eine  Handelsgesellschaft  vorbereiten  und  haben  in  der  Be- 
handlung von  Herrschern  und  Völkern  auf  einer  Stufe  der  Ge- 
sittung, wie  die  dortigen,  reiche  Erfahrungen  gesammelt.  Jeden- 
falls liegt  die  Bedeutung  des  französischen  Nordwestafrika  noch 
in  der  Zukunft  und  kein  Denkender  wird  erwarten,  daß  dasselbe 
schon  heute  ein  wesentlicher  Faktor  im  Wirtschaftsleben  Frank- 
reichs, eine  Machtquelle  ist,  die  sich  bei  der  Entscheidung  der 
Geschicke  Europas  schon  heute  geltend  machen  könnte.  Daß 
aber  die  Möglichkeit  einer  raschen  Entwickelung  an  und  für  sich 
vorhanden  ist,  das  wird  kein  Einsichtiger  leugnen.  Denn  schon 
heute  spielt  Afrika  mit  seinen  Erzeugnissen  im  Wirtschaftsleben 
Europas,  nächst  England  vor  allem  auch  Deutschlands,  eine  sehr 
große  Rolle,  obwohl  noch  kein  halbes  Jahrhundert,  im  Völker- 
leben eine  verschwindend  kurze  Spanne  Zeit,  vergangen  ist,  seit 
durch  Unterdrückung  der  Sklavenjagden  und  des  Sklavenhandels 


1)  Die  Franzosen  haben  bekanntlich   1900  Tuat  besetzt. 

2)  1898   unterworfen. 


—     394     — 

an  der  Westküste,  —  an  der  Ostküste  und  in  einem  großen 
Teile  des  Innern  ist  ja  diese  Zeit  noch  nicht  ganz  vorüber  — 
gesetzmäßiger  Handel  dort  hat  Fuß  fassen  können.  Denn  bis 
dahin  kamen  neben  Sklaven  sonstige  Erzeugnisse  Afrikas  kaum 
in  Betracht  und  besonders  für  das  Wirtschaftsleben  Europas  war 
Afrika  kaum  vorhanden.  Was  wird  demnach  Afrika  bei  dem 
fieberhaften  Wettbewerbe  aller  Völker  für  Europa  und  besonders 
für  diejenigen  Völker  nach  weiteren  50  Jahren  sein,  die  sich  einen 
Anteil  an  diesem  Erdteile  zu  sichern  gewußt  haben!  Um  so 
wertvoller  muß  Afrika  werden,  je  mehr  die  Yankees  die  Monroe- 
doktrin, die  nächst  England  uns  Deutsche  schädigen  muß,  zur 
Anerkennung  bringen. 

Einen  Einblick  in  das,  was  für  Frankreich  diese  ungeheueren 
Länder  einmal  werden  können,  kann,  wenn  auch  nur  bis  zu 
einem  gewissen  Grade,  vielleicht  eine  Betrachtung  dessen  gewähren, 
was  dasselbe  in  dem  am  längsten  seiner  Herrschaft  unterworfe- 
nen, ihm  am  nächsten  gerückten  und  überhaupt  in  vieler  Hin- 
sicht am  meisten  begünstigten  Teile,  nämlich  in  Algerien,  geleistet 
hat.  Es  unterscheidet  sich  Algerien  allerdings  vom  übrigen  fran- 
zösischen Nordwestafrika,  abgesehen  von  Tunesien,  sehr  wesent- 
lich dadurch,  daß  dasselbe  auch  zur  Aufnahme  europäischer  An- 
siedler fähig  ist,  da  sich  sein  Klima  nur  wenig  von  demjenigen 
der  Südküste  Frankreichs  untersclieidet.  Dies  muß  aber  doch 
wohl  als  ein  ungeheuerer  Vorzug  aufgefaßt  werden,  namentlich 
für  Frankreich,  dem  sich  nun  die  Möglichkeit  bietet,  auf  jung- 
fräulichem Boden,  fast  im  Angesichte  des  Mutterlandes,  dessen 
Bevölkerung  im  Gegensatz  zum  ganzen  übrigen  Europa  stehen 
bleibt  oder  zurückgeht,  eine  jugendfrische  französische  Bevölke- 
rung heranwachsen  zu  sehen,  die,  infolge  der  räumlichen  Nähe, 
dem  Mutterlande  selbst  von  größtem  Werte  sein  müßte  und  zu- 
gleich berufen  wäre,  die  Träger  französischer  Gesittung  tiefer  in 
das  afrikanische  Festland  hinein  zu  liefern.  Daneben  war  hier 
aber  auch  die  gleiche  Aufgabe  gestellt,  wie  im  ganzen  übrigen 
französischen  Afrika,  nämlich  die  Kulturerziehung  und  Anähn- 
lichung  fremdrassiger  Landesbewohner.  Daß  diese  bereits  eine 
eigene  Kultur  besaßen,  mußte  die  Aufgabe  ungewöhnlich  er- 
schweren, die  Möglichkeit,  Franzosen  in  Menge  unter  ihnen  an- 
zusiedeln, erlaubt  aber  auch  eine  Masseneinwirkung  auf  die  Ein- 
geborenen, während  die  Kulturerziehung   in  den  Tropen  nur  von 


—     395     — 

einzelnen,  noch  dazu  individuell  unablässig  wechselnden  Kultur- 
trägern ausgehen  kann.  Algerien  als  Kolonie  bietet  Frankreich 
Vorzüge,  wie  sie  von  allen  europäischen  Völkern  nur  noch  den 
Russen  im  Besitz  von  Sibirien  und  Turkestan  in  noch  höherem 
Maße  zuteil  geworden  sind.  Allerdings  wird  man  auch  schon 
jetzt  sagen  können,  daß  Turkestan,  das  in  vieler  Hinsicht  als 
europäisches  Kolonialland  mit  Algerien  verglichen  werden  kann, 
nach  64 jähriger  Herrschaft  Rußlands  diesem,  trotz  weit  ge- 
ringerer Opfer,  weit  mehr  sein  wird,  als  Algerien  heute  Frank- 
reich ist. 

Algerien  ist  französische  Kolonie  geworden  fast  wider  den 
Willen  Frankreichs.  Als  die  Franzosen  am  14.  Juni  1830  an 
seiner  Küste  landeten,  handelte  es  sich  für  sie  nur  um  eine  Züch- 
tigung des  Raubstaates,  also  um  das  gleiche,  wie  schon  wieder- 
holt vorher  den  Holländern,  den  Franzosen  selbst  und  den  Eng- 
ländern, die  erst  14  Jahre  vorher  unter  Lord  Exmouth  Algier 
beschossen  hatten.  Jahrelang,  ja  bis  gegen  1850,  schwankte  man, 
ob  man  sich  dauernd  festsetzen ,  ob  man  die  Eroberungen  aus- 
dehnen oder  auf  die  Küstenplätze,  wie  es  früher  die  Spanier 
getan  hatten,  die  ja  erst  1791  Oran  geräumt  hatten,  beschränken 
solle,  ja  noch  heute  beklagen  französische  Patrioten  diese  Er- 
oberung, weil  sie  die  Aufmerksamkeit  von  der  Ostgrenze  abge- 
lenkt habe,  und  setzen  den  Verkist  Elsaß-Lothringens  zu  der 
Eroberung  von  Algerien  in  ursächliche  Wechselbeziehungen.  Bis 
1835  hatten  sich  die  Franzosen  erst  weniger  Küstenplätze  be- 
mächtigt und  erst  1847  konnte  man  nach  den  langen,  wechsel- 
vollen Kämpfen  mit  Abd  el  Kader  die  Unterwerfung  des  Teil, 
des  wertvollsten,  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  europäischer  Be- 
siedelung  zugänglichen,  von  kleinen  Ebenen  durchsetzten  Hügel- 
landes längs  dem  Mittelmeere,  für  vollendet  ansehen,  obwohl 
erst  zehn  Jahre  später  das  Gebirgsland  der  großen  Kabylei,  fast 
im  Angesichte  von  Algier,  bezwungen  wurde.  Schon  vorher  war 
aber  auch  die  Unterwerfung  des  Hochlandes  und  der  Gebirgs- 
landschaften des  Saharaatlas  angebahnt,  ja  schon  1849  wurde 
das  wichtige  Biskra  am  Südfuße  des  Hochlandes  und  am  Rande 
der  Wüste  dauernd  befestigt.  Um  1860,  also  nach  30jährigen 
Kämpfen,  war  die  Eroberung  vollendet.  Aber  noch  zahlreiche, 
bald  örtlich  beschränkte,  bald  allgemeinere  Aufstände,  wie  1871, 
1879,     1881     und     1882     folgten.      Es    leuchtet    ein,     daß    jenes 


—     396      — 

Schwanken,  die  langen  Kämpfe  und  sich  wiederholenden  Auf- 
stände der  Entwickelung  der  Kolonie  nicht  günstig  sein  konnten. 
Die  Schuld  an  diesen  Erschwerungen  lag  aber  zum  großen  Teil 
bei  den  Franzosen  selbst. 

Rein  theoretisch  betrachtet  boten  sich  zwei  Wege,  die  Ko- 
lonie zur  Entwicklung  zu  bringen:  entweder  man  vernichtete  die 
Eingeborenen  bzw.  drängte  sie  in  die  Wüste  und  setzte  an  ihre 
Stelle  europäische  Ansiedler,  also  wie  es  die  Angelsachsen  in 
Nordamerika  und  Australien  gemacht  haben,  oder  man  suchte, 
durch  französische  Besatzungen  den  Besitz  des  Landes  sichernd, 
ähnlich  den  Engländern  in  Indien,  die  Eingeborenen  durch  Ge- 
währleistung von  Ruhe  und  Sicherheit,  Förderung  ihres  mate- 
riellen und  geistigen  Wohles  unter  Wahrung  ihrer  Religion  und 
sonstigen  Eigenart  für  Frankreich  zu  gewinnen.  Beide  Wege  hat 
man  zu  gehen  gesucht,  träumte  man  doch  unter  Napoleon  III. 
von  einem  arabischen  Königreiche,  der  erstere  war  aber  zu  allen 
Zeiten,  namentlich  bei  den  in  Algerien  lebenden  Franzosen,  der 
bei  weitem  beliebtere  und  derjenige,  den  die  Regierung  immer 
und  immer  wieder  eingeschlagen  hat,  wenn  auch  ohne  es  offen 
einzugestehen;  es  war  der  Weg  vor  allem,  den,  meist  ungestraft, 
jeder  Kolonist  auf  eigene  Hand  wandelt.  Beide  Wege  erwiesen 
sich  aber  schließlich  als  ungangbar  und  nicht  zum  Ziele  führend, 
der  letztere  mußte  zum  Verluste  der  Kolonie  führen,  denn  er 
hätte  zu  seiner  Durchführung  ein  ganz  außerordentliches  Geschick 
in  der  Behandlung  der  Eiiigeborenen  gefordert,  wie  es  den 
Franzosen  nicht  eigen  ist.  So  viele  ausgezeichnete  Eigenschaften 
dieses  Volk  auch  besitzt,  Verständnis  fremder  Eigenart,  die  Fähig- 
keit sich  in  eine  fremde  Volksseele  hineinzuversetzen,  ihr  ge- 
recht zu  werden  und  somit  auf  sie  einzuwirken,  eine  Eigen- 
schaft, die  wir  Deutschen  leider  im  Übermaß  besitzen,  ist  ihm 
nicht  gegeben.  Das  zeigt,  wie  wir  noch  weiter  ausführen  werden, 
namentlich  auch  die  64jährige  Geschichte  der  Beziehungen  der 
Franzosen  zu  den  Eingeborenen  Algeriens  recht  deutlich.  Der 
erste  Weg  war  ungangbar,  weil  es  Frankreich  tatsächlich  an  der 
Macht  fehlte,  die  Eingeborenen  zu  vernichten  und  noch  viel  mehr 
an  Menschen,  um  französische  Ansiedler  an  ihre  Stelle  zu  setzen, 
die,  einmal  erstarkt,  wie  die  Angelsachsen  in  den  Vereinigten 
Staaten,  am  kräftigsten  das  Vernichtungswerk  hätten  betreiben 
können.     Auch  daraus  ergab  sich  ein  der  Kolonie  wenig  förder- 


—     397     — 

liches  Schwanken.  Bald  drängte  man  die  Eingeborenen  mit  allen 
Mitteln  zurück  und  suchte  Einwanderer  unter  allen  möglichen 
Vergünstigungen  herbeizuziehen,  bald  tat  man  das  Gegenteil. 
Klarheit  und  Bestimmtheit  hat  bei  den  Regierenden  fast  immer 
gefehlt,  nicht  nur  die  Menschen,  auch  die  Anschauungen,  Pläne 
und  Methoden  haben  unablässig  gewechselt. 

So  ist  Algerien  zu  einer  kolonialen  Mischform  geworden, 
sowohl  Besiedelungskolonie,  in  welcher  Europäer  körperlich  ar- 
beitend das  Land  durch  Ackerbau,  Bergbau,  Fischerei,  Handel 
und  dergleichen  ausbeuten,  wie  Betriebskolonie,  in  welcher  die 
Eingeborenen,  freilich  fast  unbeeinflußt  in  althergebrachter  Weise, 
aber  doch  im  wesentlichen  zum  V^orteile  Frankreichs,  Ackerbau 
und  Viehzucht  treiben. 

Man  hat  also  in  Algerien  zwei  Bevölkerungselemente  zu 
unterscheiden,  die  eingewanderten  Europäer  und  die  Eingeborenen, 
zu  denen  wir  die  alteingesessenen  Juden  rechnen  wollen,  denen 
bei  ihrem  Bildungsstande  und  ihren  Beziehungen  zu  den  Moham- 
medanern 1870  das  volle  Bürgerrecht  gewährt  zu  haben,  heute 
wohl  allgemein  als  ein  Fehler   anerkannt  wird. 

Die  Europäer,  wenn  wir  uns  diesen  zunächst  zuwenden 
wollen,  sind  zum  Teil  durch  den  Staat,  zum  Teil  durch  groß- 
kapitalistische Unternehmungen  angesiedelt  worden,  nur  wenige 
und  meist  auch  erst  im  letzten  Jahrzehnt  sind  einzeln  und  selb- 
ständig eingewandert.^)  Der  bis  1886  an  und  für  sich  geringen 
französischen  Auswanderung  erschienen  bis  vor  kurzem  die  Zu- 
stände in  Algerien  so  wenig  verlockend,  daß  sie  das  ferne 
Amerika  vorzog.  Die  staatliche  Kolonisation  zeigt  eine  Fülle  von 
Mißgriffen.  Man  dekretierte  Kolonien,  ohne  sich  um  die  Mög- 
lichkeit und  Zweckmäßigkeit  derselben  zu  kümmern,  man  baute 
Dörfer  fix  und  fertig,  aber  in  fieberschwangeren  Gegenden  oder 
ohne  Wasser  und  Wege.     Als  Kolonisten  bot  sich  meist  nur  der 


l)  Damit  es  nicht  scheinen  möge,  als  sei  das  folgende  Bild  von  deut- 
scher Mißgunst  eingegeben,  bemerken  ^vir,  daß  wir  absichtlich  auf  Wieder- 
gabe der  eigenen  bei  zwei  Reisen  durch  das  Land  gesammelten  Eindrücke 
verzichten  und  uns  nur  auf  französische  Gewährsmänner  erster  Ordnung 
stützen:  einen  Jules  Ferry,  der  das  Land  kurz  vor  seinem  Tode  an  der 
Spitze  eines  parlamentarischen  Ausschusses  bereist  hat,  den  früheren  Unter- 
staatssekretär Vignon,  einen  Kolonialpolitiker  von  Fach,  den  Minister  Burdeau, 
die  Kammerverhandlungen  und   andere   Quellen. 


-     398     - 

Abhub  der  großen  Städte,  namentlich  von  Paris  dar,  zumal  auch 
die  Regierung  lange  Zeit  Algerien  als  Ablagerungsstätte  für  solche 
lästige  Elemente  ansah.  In  einem  Falle  z.  B.  war  ein  nettes 
Dorf  mit  lauter  steineren  Häusern  aufgebaut  worden,  jedes  mit 
umfriedigtem  Garten  und  Hofraum  und  6  ha  Land.  Wer  sich 
meldete,  erhielt  eine  solche  Stelle  einzig  unter  der  Bedingung, 
daß  er  während  der  ersten  zwei  Jahre,  in  denen  er  vom  Staate 
unterhalten  wurde,  den  sechsten  Teil  seines  Besitzes  urbar  machte. 
Das  Gesindel,  welches  sich  an  diesen  gedeckten  Tisch  setzte, 
war  natürlich  unfähig  oder  auch  nicht  geneigt  die  gestellte  Be- 
dingung zu  erfüllen,  nach  den  zwei  Jahren  verschwand  es  von 
selbst  oder  wurde  es  entfernt,  bald  war  die  Kneipe,  die  indessen 
alle  Barmittel  dieser  ,, Kolonisten"  aufgenommen  hatte,  das  einzige 
noch  bewohnte  Haus. 

Die  großen  Gesellschaften,  welche  sich  zur  Ausbeutung  des 
Landes  bildeten,  zogen  natürlich  brauchbarere  Elemente  heran. 
Das  waren  aber  vorwiegend  Spanier  oder  Italiener.  Namentlich 
gilt  dies  von  den  Haifagesellschaften.  Die  Haifa  (span. :  Esparto), 
ein  starrhalmiges  Steppengras  von  sehr  geringem  Nährwerte,  ist 
in  den  trockenen  Landstrichen  Algeriens,  aber  auch  in  Tunesien 
und  Tripolitanien,  vor  allem  auch  in  Südostspanien  so  verbreitet, 
daß  man  namentlich  das  Hochland  von  Algerien  in  großer  Aus- 
dehnung geradezu  als  Haifasteppe  bezeichnen  kann.  Obwohl 
schon  von  Karthagern  und  Römern  in  der  Umgebung  von  Car- 
thagena  (Campus  spartarius)  im  großen  zur  Herstellung  von  Schiffs- 
tauen u.  dgl.  ausgebeutet,  hat  das  Haifagras  doch  erst  seit  Anfang 
der  6oer  Jahre  Bedeutung  auf  dem  Weltmarkte  erlangt,  seit  man 
in  England  aus  der  Faser  Papier,  besonders  für  Zeitungen  her- 
zustellen begann.  Große  bis  dahin  selbst  als  Weideland  gering- 
wertige Flächen  wurden  nun  in  Ausbeute  genommen  und  vor 
allem  mit  der  Pflanze  und  ihrer  Behandlung  schon  vertraute,  ge- 
nügsame Spanier  dafür  herbeigezogen,  die  sich  nach  Ersparung 
einer  kleinen  Summe,  meist  im  Lande,  vor  allem  in  der  haifa- 
reichsten, Spanien  am  nächsten  liegenden  Provinz  Oran,  als  Acker- 
bauer niederließen  und  andere  Landsleute  nachzogen.  So  sind 
heute  in  dieser  Provinz,  in  welcher  überhaupt  die  Zahl  der 
Fremden  weit  größer  ist  als  die  der  Franzosen,   152000  Spanier^) 


I)   1901   zählte  man   155  OOO  Spanier. 


—     399     — 

angesiedelt  und  sitzen  dieselben  in  der  Umgebung  von  Oran  so 
dicht,  daß  dort  selbst  die  Franzosen  spanisch  sprechen  müssen. 
So  ist  ein  beträchtlicher  Teil  der  Provinz  durch  diese  eine 
Pflanze  erschlossen  und  besiedelt  worden.  Häfen  und  Eisen- 
bahnen, bis  weit  über  das  Hochland  hin,  die  natürlich  Verkehr 
und  Ansiedelung  auch  sonst  gefördert  haben,  sind  durch  sie  ge- 
baut worden,  sie  ist,  wenn  auch  jetzt  sich  ihre  wirtschaftliche 
Bedeutung  zu  mindern  scheint,  in  ähnlicher  Weise  zum  Segen 
Algeriens  geworden,  wie  etwa  das  Gold  für  Kalifornien. 

Ein  schädliches  Tier  hat  in  anderer  Weise  die  gleiche  Rolle 
gespielt:  die  Reblaus.  Die  Verwüstung  der  französischen  Wein- 
berge durch  die  Reblaus  hat  zuerst  eine  freiwillige,  wirklich  wert- 
volle Auswanderung  von  Franzosen  nach  Algerien  hervorgerufen, 
das  von  derselben  noch  ziemlich  verschont  geblieben  ist  und 
sich  für  den  Weinbau,  wie  wir  schon  aus  dem  Altertum  wissen, 
vorzüglich  eignet.  Trotz  der  sehr  bedeutenden  Kosten  der  Ur- 
barmachung meist  mit  Gestrüpp  bewachsenes  Land  ist  die  der 
Rebe  gewidmete  Fläche  von  1881 — 91  von  30000  auf  107000  ha 
gestiegen. 

Trotzdem  so  besonders  in  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  die 
europäische  Einwanderung  sehr  gestiegen  und  auch  die  natürliche 
Vermehrung  selbst  unter  den  Franzosen  eine  wesentlich  günstigere 
geworden  ist,  zählte  die  europäische  Bevölkerung  doch  i8gi 
immer  erst  480000  Köpfe  ^),  Heer  und  Fremdenlegion  mit 
65 — 68000  Mann  eingerechnet.  Von  diesen  564000  Europäern 
werden  364000  zu  den  Franzosen,  200000  zu  den  Fremden 
gerechnet,  so  daß  erstere  heute  zur  großen  Beruhigung  der  fran- 
zösischen Patrioten  endlich  das  Übergewicht  erlangt  hätten.^) 
Untersuchen  wir  aber  die  Zahl  etwas  näher,  so  erscheint  sie 
weniger  rosig.  Zu  diesen  „Franzosen"  gehören  zunächst  etwa 
72  000  Italiener,  Spanier  und  Malteser,  namentlich  fast  die  ganze 
italienische  Fischerbevölkerung,  die  sich,  einem  kräftigen  Drucke 
folgend,  seit  i88g  hat  naturalisieren  lassen.  Vorher  waren 
Naturalisationen  verhältnismäßig  selten,  in  den  22  Jahren  1867 
bis    1888    nur    12000.     Bei    der    Lebensweise    jener   Fischer   ist 


1)  1901   waren  es  564  000. 

2)  Dazu   kommen  (1901)  57  000  naturalisierte  Juden,    die  sich  zu  dem 
herrschenden  Volke  halten. 


—      400     — 

kaum  anzunehmen,  daß  sie  wirklich  Franzosen  geworden  sind 
oder  bald  werden  werden.  Auch  von  den  übrigen  Naturalisierten 
gilt  dies  zum  großen  Teile.  Ferner  gehören  zu  den  364  000 
französischen  „Kolonisten"  mehr  als  5 1  000  Beamte  mit  ihren 
Familien,  10  000  Beamte  der  Eisenbahngesellschaften  mit  ihren 
Familien,  20000  Angehörige  des  geistlichen  Standes  u.  dgl.  — 
alle  Priester  müssen  Franzosen  sein  und  dürfen  nur  französisch 
sprechen  —  ferner  alles,  was  an  Gastwirten,  Lieferanten  u.  dgl. 
vom  Heere  lebt.  So  bleiben  von  wirklichen  französischen  Kolo- 
nisten und  deren  Nachkommen,  die  also  tatsächlich  im  Lande 
wurzeln,  vielleicht  noch  nicht  über  200  000  Köpfe  übrig  und  von 
diesen  ist  eine  große  Zahl,  jetzt  im  Durchschnitt  etwa  jährlich 
5000,  erst  in  den  letzten  Jahren  als  Weinbauer  eingewandert. 
Es  kommt  also  heute  von  der  überraschend  gestiegenen  und 
wegen  des  Mangels  an  natürlicher  Vermehrung  recht  bedenk- 
lichen französischen  Auswanderung  (i88g:  31000)  immerhin  ein 
ansehnlicher  Teil  auf  Algerien.  Derselbe  geht  also  Frankreich 
nicht  verloren,  sondern  wird  nur  um  so  wertvoller. 

Kaum  200  000  wirkliche  Kolonisten,  das  ist  also  alles,  was 
Frankreich  mit  ungeheuren  Geldopfern  und  den  verschieden- 
artigsten Lockmitteln  herüberzuziehen,  bzw.  von  den  vielen  Hun- 
derttausenden von  ausgedienten  Soldaten  und  Beamten  im  Laufe 
von  84  Jahren  im  Lande  festzuhalten  vermocht  hat!  Ackerbauer 
sind  aber  selbst  von  diesen  nur  ein  Teil,  da  man  von  den  Euro- 
päern überhaupt  nur  etwa  200  000  als  solche  ansieht  und  wir 
wissen,  daß  namentlich  die  Spanier  darunter  sehr  zahlreich  sind. 
Was  an  produktiver  Arbeit  im  Ackerbau,  Bergbau,  Fischerei,  Haifa- 
gewinnung, Straßenbau  u.  dgl.  geleistet  worden  ist,  ist  überwiegend 
das  Werk  der  Fremden.  Einer  meiner  Gewährsmänner,  ein  eifriger 
Algerier  und  Fremdenhasser,  die  dort  wohl  ebenso  zahlreich  sind 
wie  im  Mutterlande,  muß  dies  offen  eingestehen.  Die  hohen  An- 
sprüche, welche  der  Franzose  an  das  Leben  stellt,  machen  ihm  in 
der  Kolonie  den  Wettbewerb  mit  Spaniern  und  Italienern,  denen 
überdies  das  Klima  noch  mehr  zusagt,  natürlich  noch  schwerer. 
Auch  läßt  die  Fremdenfurcht  jetzt  täglich  neue  Mittel  in  Vor- 
schlag bringen,  um  dieselben  vom  Lande  überhaupt,  besonders 
aber  von  den  Vergünstigungen  der  staatlichen  Kolonisation  fern- 
zuhalten, ihnen  das  Fortkommen  zu  erschweren,  sie  rascher  auf- 
zusaugen u.  dgl.     Eine  Massennaturalisation    der  Fremden,    ohne 


—     40I      — 

vorhergegangene  Anähnlichung,  wie  sie  1884  vom  Generalgouver- 
neur Tirman  vorgeschlagen  wurde,  würde  natürlich  noch  größere 
Gefahren  bringen.  Die  Spanier  z.  B.  warten  nur  darauf,  um  als 
französische  Bürger  und  Wähler  erst  recht  ihre  nationalen  Inter- 
essen zu  vertreten,  sich  der  Gemeindeverwaltungen  zu  bemächtigen, 
spanische  Schulen  zu  errichten  u.  dgl.  m.^) 

Wir  sehen  also,  daß  die  Menschenarmut  (in  Verbindung  mit 
den  wirtschaftlichen  Verhältnissen)  Frankreichs  ein  großes  Hinder- 
nis der  Entwicklung  dieser  Kolonie  ist,  ja,  daß  dieselbe  geradezu 
Gefahren  für  ihren  Besitz  heraufbeschworen  hat.  Fehlerhafte 
Verwendung  des  vorhandenen  Kolonistenbestandes  hat  diese 
Schattenseiten  noch  verschärft.  Wie  rasch  hat  sich  in  der  gleichen 
Zeit  und  mit  sehr  geringen  Opfern  das  weltentlegene  Australien 
und  Neuseeland  bevölkert,  aus  denen  heute  ungeheure  Summen 
englischen  Geldes,  unter  der  Überwachung  Englands  angelegt, 
den  englischen   Sparern   ein  sicheres  Einkommen  gewähren. 

Die  Zahl  der  Eingeborenen  betrug  i8gi  3570000  (igoi: 
4  1 00  000 ,  die  Marokkaner  und  Tunesier  eingerechnet)  und  ist 
jetzt  in  raschem  Wachsen  begriffen.  Sie  zerfallen,  wenn  wir  von 
der  im  Verschwinden  begriffenen  sogenannten  maurischen  Städte- 
bevölkerung absehen,  in  ureingesessene  Berber  und  eingewanderte 
Araber.  Die  Berber,  bei  weitem  die  Mehrzahl,  wenn  sie  sich 
und  ihre  Sprache  auch  noch  hier  und  da  in  den  Gebirgen  rein 
gehalten  haben,  sind  seßhaft,  arbeitsam,  eifrig  auf  Erwerb,  be- 
sonders von  Grundeigentum  bedacht,  gute  Landbauer  und  Baum- 
züchter, demokratisch  in  allen  ihren  Einrichtungen,  kurz  grund- 
verschieden von  ihren  Unterjochern,  den  nomadischen,  trägen, 
wenig  fürsorglichen,  aristokratisch-feudalen  Arabern.  Sehr  be- 
zeichnend für  die  mangelnde  Fähigkeit  der  Franzosen,  fremdes 
Volkstum  zu  verstehen,  ist  es,  daß  sie  lange  Zeit  gar  nicht 
merkten,  daß  sie  (wohl  weil  die  Berber  bis  auf  wenige  Reste  die 
arabische  Sprache  angenommen  haben)  zwei  so  grundverschiedene 
Völker  vor  sich  hatten,  die  ganz  verschieden  hätten  behandelt 
werden  müssen.  Man  hat  die  Berber  förmlich  gezwungen  mit  ihren 
verhaßten  Unterdrückern,  den  Arabern,  gemeinsame  Sache  zu 
machen;  man  hat  sie  mit  allen  Mitteln  zu  arabisieren  versucht, 
man    hat    ihnen,    die    meist   nur    äußerlich    Mohammedaner   sind, 


i)  Ist  seitdem  sehr  häufig  eingetreten. 
Fischer,  Mittelmeerbilder.  26 


—     402      — 

Moscheen  gebaut,  hat  ihnen  das  arabische  Feudalsystem  auf- 
gedrängt und  zwingt  sie,  indem  man  nur  arabisch  mit  ihnen 
spricht,  noch  mehr  Arabisch  zu  lernen,  also  ähnlich  wie  aus 
Mangel  an  Nachdenken  und  Selbstachtung  sogenannte  gebildete 
Deutsche  im  Auslande  zur  Verbreitung  der  französischen  Sprache 
beitragen,  indem  sie  hartnäckig  Französisch  statt  der  eigenen 
oder  der  Landessprache  sprechen,  selbst  wenn  die  Landes- 
bewohner Deutsch  können  oder  sich  Übung  darin  verschaffen 
möchten. 

Die  Behandlung,  welche  die  Eingeborenen  von  vornherein 
und  bis  heute  erfahren  haben,  ist  eine  sehr  üble.  Schon  der 
Umstand,  daß  man,  auch  Gebildete,  ganz  besonders  aber 
die  Kolonisten  den  Namen  Araber,  womit  man  alle  Ein- 
geborenen zusammenfaßt,  selten  ohne  „schmückende"  Beiwörter, 
wie  sale  oder  cochon,  aussprechen  hört,  ist  kennzeichnend. 
Lange  Zeit,  und  bei  den  Kolonisten  noch  heute,  galt  der 
Grundsatz,  man  müsse  die  Eingeborenen  mit  jedem  Mittel, 
durch  den  Alkohol  und  Krankheiten,  durch  Verarmung  und 
Schürung  von  Zwietracht  vernichten;  eben  noch  erklärte  einer 
meiner  Gewährsmänner,  nur  Gewalt  und  Grausamkeit  mache  auf 
den  Eingeborenen  Eindruck.  Man  hat  Aufstände  gewaltsam 
hervorgerufen,  um  einzelnen  Generälen  Gelegenheit  zu  Siegen 
und  Auszeichnungen  zu  geben.  Scheußlichkeiten  aller  Art  haben 
die  von  Offizieren  geleiteten  arabischen  Bureaux  geradezu  sprich- 
wörtlich gemacht.  Von  1830 — 45  hat  man  den  Eingeborenen 
18^4  Millionen  Hammel,  2)^/^  Millionen  Rinder  und  Q17000  Ka- 
mele weggenommen.  Noch  187 1  haben  sie  als  Strafe  für  den 
Aufstand  2)^^l'i  Millionen  Francs  aufbringen  und  446  000  ha  des 
besten  Landes  in  den  Tälern  im  Werte  von  ig  Millionen  Francs 
abtreten  müssen.  Ungeheure  Summen  werden  jahraus  jahrein 
den  schon  blutarmen  Eingeborenen  als  Strafgelder  für  Übertretung 
von  Gesetzen  auferlegt,  die  ihnen  entweder  unverständlich  sind 
oder  ohne  deren  Übertretung  ihnen  das  Dasein  geradezu  un- 
möglich ist,  z.  B.  das  Weidenlassen  von  Vieh  im  Walde.  Je 
zahlreicher  solche  Verurteilungen,  um  so  zahlreicher  sind  die 
Waldbrände,  die  in  ihrer  wachsenden  Häufigkeit  die  Stimmung 
der  Eingeborenen  kundgeben.  Von  dem,  was  an  Geld,  ob  in 
Gestalt  von  ungerecht  verteilten  und  unerschwinglichen  Steuern 
oder   sonstwie   von    den   Eingeborenen  eingetrieben   wird,    kommt 


—     403      — 

fast  nichts  wieder  an  sie  zurück:  Straßen,  Brücken,  Brunnen, 
Entwässerungen  und  Bewässerungen,  alles  nur  für  die  Kolonisten. 
Alles  gute  Land  wird  nach  und  nach  diesen  übergeben,  ja  Fälle, 
wo  dieselben  ungestraft  einem  Eingeborenen  das  Wasser  ab- 
schneiden, mit  welchem  dieser  bisher  seinen  Frucht-  und  Wein- 
garten erhielt,   sind  häufig  genug. 

Von  einem  Einflüsse  der  Franzosen  auf  die  Eingeborenen 
in  wirtschaftlicher  oder  kultureller  Hinsicht  ist  keine  Rede,  man 
darf  sich  nicht  durch  vereinzelte  Erscheinungen  täuschen  lassen. 
Die  Masse  der  Eingeborenen  ist  unbeweghch  und  unbeeinflußt 
geblieben,  nur  einige  Laster  hat  sie  aufgenommen.  Eine  un- 
übersteigliche  Kluft  ist  zwischen  beiden  Bevölkerungselementen 
befestigt,  selbst  in  den  Städten,  wo  dieselben  noch  heute  völlig 
gesonderte  Viertel  bewohnen.  Fanden  doch  in  den  neun  Jahren 
von  1882 — go  nur  34  Heiraten  zwischen  Europäern  und  Ein- 
geborenen statt.  Naturalisationen  kamen  fast  gar  nicht  vor,  im 
großen  durchgeführt  würden  sie  auch,  schon  durch  Schaff'ung 
einer  Million  Frankreich  durchaus  feindlicher  Wähler,  eine  große 
Gefahr  sein.  Noch  schlimmer  wäre  es,  sie  zur  allgemeinen 
Heerespflicht  heranzuziehen,  denn  schon  heute  gelten  die  etwa 
1 2  000  Eingeborenen  im  französischen  Heere ,  wenn  sie  heim- 
kehren, als  die  schlechtesten  Elemente  und  als  eine  Gefahr. 
Kommt  es  doch  vor,  daß  Eingeborene,  die  es  als  französische 
Linienoffiziere  bis  zum  Oberstenrang  gebracht  haben,  nach  ihrer 
Verabschiedung  in  Algier  wieder  als  Araber  leben  und  zu  Ara- 
bern werden.  Ebenso  gefährlich  würde  es  sein,  die  allgemeine 
Schulpflicht  auf  sie  auszudehnen.  Schon  187 1  machten  sich  die 
Eingeborenen  im  Kampfe  gegen  die  Franzosen  das  in  fran- 
zösischen Schulen  Gelernte  zunutze.  Das  ganze  Werk  des  Unter- 
staatssekretärs Vignon  über  Algerien  zeigt  eigentlich,  wie  man  es 
machen  muß,  um  eine  Kolonie  nicht  zur  Blüte  und  ihre  Bewohner 
zur  Verzweiflung  zu  bringen.  Vignon  hat  den  patriotischen  Mut 
offen  einzugestehen,  daß  ein  Aufstand,  furchtbarer  als  jemals, 
bei  der  ersten  sich  bietenden  Gelegenheit  droht.  Die  ganze 
Eingeborenenbevölkerung  harre  nur  der  ersehnten  Stunde,  um 
das  furchtbare  Joch  abzuschütteln.  Und  ähnlich  äußern  sich  fast 
alle  andern  Landeskundigen.  Weim  schon  1871  86000  Mann 
nötig  waren,  um  die  800000  Aufständischen,  welche  200000 
Waffenfähige  stellten,  niederzuwerfen,  so  wird  bei  einem  nächsten 

26* 


—     404      — 

Aufstande  eine  weit  größere  Truppenraacht  in  Algerien  fest- 
gehalten werden,  denn  dieser  wird  bei  der  furchtbaren  Er- 
bitterung der  Eingeborenen,  die  heute  namentlich  auch  durch 
die  religiösen  Orden  eine  Art  Organisation  und  Beziehungen 
zur  übrigen  mohammedanischen  Welt  besitzen,  ein  ganz  all- 
gemeiner sein. 

'  Zahlreihe  Anzeichen  deuten  auf  die  drohende  Gefahr  hin. 
Die  öffentliche  Sicherheit  ist  eine  sehr  schlechte  und  wird  täg- 
lich schlechter.  Die  Zahl  der  Angriffe  auf  Personen  und  Eigen- 
tum, obwohl  viele  gar  nicht  zur  amtlichen  Kenntnis  gelangen,  ist 
so  groß,  daß  beispielsweise  im  Jahre  i8go  in  der  Gemeinde 
Medea,  einem  im  Gebirge  des  Teil  gelegenen,  in  wenigen  Stun- 
den von  Algier  aus  erreichbaren  Städtchen  von  5000  europäischen 
und  8000  eingeborenen  Bewohnern,  so  viele  Verbrechen  vor- 
kamen, daß  man  im  Verhältnis  in  Paris  jährlich  zählen  müßte: 
10  000  Morde,  6000  Mordversuche  und  400000  Diebstähle. 
Es  ist  so  weit  gekommen,  daß  sich  besondere  geheime  Gesell- 
schaften, die  sogenannten  Bechara,  gebildet  haben,  durch  deren 
Vermittlung  der  Kolonist  Heber  unter  Zahlung  des  Viertels,  ja 
der  Hälfte  des  Wertes  das  gestohlene  Gut  zurückkauft,  statt  sich 
an  die  staatliche  Gerichtsbarkeit  zu  wenden,  die  trotz  ihrer  Viel- 
schreiberei und  Kostspieligkeit  in  der  Regel  nichts  erreicht. 
Zwischen  1881  und  1890  sind  900  algerische  Eingeborene,  Räu- 
ber und  Mörder,  von  Cayenne  entkommen  und  bilden  Banden, 
die  zu  vernichten  sehr  schwer  ist,  da  sie  bei  den  Eingeborenen 
Unterstützung  finden. 

Zu  diesen  namentlich  von  den  Eingeborenen  drohenden  Ge- 
fahren kommen  die  Schäden  der  Verwaltung.  Gedankenlos,  ohne 
jede  Rücksicht  auf  die  anders  gearteten  Verhältnisse,  die  grund- 
verschiedenen Rechts-  und  religiösen  Anschauungen  werden  die 
französischen  Gesetze  von  einer  starren  Bureaukratie  zur  Anwen- 
dung gebracht,  von  einer  besonderen  Vorbildung  der  Beamten 
für  diesen  Dienst,  Erlernen  der  Sprache  und  dergleichen  ist  keine 
Rede.  Unaufhörlich,  fast  jedes  Jahr  werden  die  Beamten  von 
einem  Ende  des  Landes  zum  andern  versetzt,  so  daß  sie  sich 
nirgends  tiefer  in  die  Verhältnisse  einleben  und  eine  ersprieß- 
liche Wirksamkeit  ausüben  können.  Ganz  ähnlich  werden  ja  die 
Zustände  auch  in  anderen  französischen  Kolonien  geschildert.  Es 
fehlt  am  Zusammenarbeiten  der  verschiedenen  Verwaltungszweige. 


—     405     — 

So  hat  man  z.  B.  vor  kurzem  in  der  Provinz  Constantine,  da 
keine  Verständigung  zwischen  dem  Kataster,  der  topographischen 
und  der  allgemeinen  Aufnahme  stattfindet,  49000  ha  doppelt, 
3000  ha  dreifach  aufgenommen  und  so  eine  Million  Francs  ver- 
schleudert. Große  Summen  und  wertvolles  Staatsgut  werden,  wie 
Vignon  nachweist,  alljährlich  durch  allgemein  verbreitete  Miß- 
bräuche verschiedenster  Art,  Durchstechereien,  Vergünstigungen 
und  dergleichen  verbraucht.  Während  die  Straßen  vielfach  un- 
genügend und  schlecht  sind,  so  daß  große  Dörfer,  ja  Städte  im 
Winter  nicht  selten  ganz  vom  Verkehr  abgeschnitten  sind,  werden 
anderwärts,  wo  fast  gar  kein  Verkehr  ist,  aus  persönlichen  Rück- 
sichten oder  zu  Wahlzwecken  Straßen  gebaut.  So  schlimme  Er- 
scheinungen, wie  sie  namentlich  am  Senegal  und  im  Sudan 
neuerdings  fast  an  der  Tagesordnung  zu  sein  scheinen,  eigen- 
mächtiges Handeln  der  Truppenführer,  der  unteren  gegenüber 
den  oberen,  dieser  gegenüber  den  Zivilgouverneuren,  treten  in 
Algerien  allerdings  weniger  hervor,  finden  aber  ihre  Erklärung  in 
den  Verhältnissen  der  Volksvertretung  und  der  Presse  in  Paris, 
die  einem  erfolgreichen  Führer  nicht  nur  Straflosigkeit,  sondern 
Ehren  und  Auszeichnungen  in  Aussicht  stellen.  Wie  bedenklich 
solche  Erscheinungen  aber  sind,  bedarf  keiner  Ausführung.  Die 
Besetzung  von  Timbuktu  und  vielleicht  auch  jene  Zusammenstöße 
im  Innern  von  Sierra  Leone  mit  den  Engländern  stehen  wohl 
damit  in  Beziehung. 

So  gewaltige  Summen  Frankreich  der  Entwickelung  von  Al- 
gerien geopfert  hat,  die  Zufriedenheit  der  Kolonisten  hat  es  da- 
mit nicht  erkauft,  im  Gegenteil,  diese  fordern  immer  neue  Opfer. 
Jetzt  sollen  z.  B.  sofort  570  ^lillionen  Frcs.  durch  eine  Anleihe 
beschafft  werden,  um  die  Hilfsquellen  des  Landes  rascher  zu  er- 
schließen. Der  Grundbesitz  ist  allgemein  tief  verschuldet,  Zwangs- 
verkäufe finden  in  unglaublicher  Zahl  statt.  Die  Kolonisten 
werden,  dem  Augenschein  nach  mit  Recht,  als  dem  Kneipenleben, 
dem  Absinth  und  Billardspiel  ergeben  geschildert. 

Das  ist  das  Bild,  welches  die  Kolonie  Algerien  heute  bietet 
nach  84jährigen  schweren  Opfern  an  Geld  und  an  Menschen, 
welche  Krieg  und  Fieber  dahin  gerafft  haben.  Die  Summe, 
welche  Frankreich  auf  Algerien  verwendet  hat,  wird  in  zuverläs- 
sigster Weise  für  die  Zeit  von  1830 — 91  zu  5350  MiUionen  Frcs. 
berechnet.    Davon  kommen  auf  die  öffentliche  Verwaltuno-,  öffent- 


■ —     4o6     — 

liehe  Arbeiten,  Kolonisation  und  dergleichen  nur  i  780  Millionen, 
alles  übrige  hat  das  Heer  verschlungen.  Algerien  selbst  hat  da- 
von nur  1 400  Millionen  aufgebracht,  so  daß  die  Reinausgabe 
Frankreichs  vier  Milliarden  beträgt.  Noch  1891  standen  40,4 
Millionen  Einnahmen  125,4  Millionen  Ausgaben  gegenüber,  wo- 
von 54,5  Millionen  allein  für  das  Heer.  Die  französische  Volks- 
vertretung ist  es  müde  in  dieses  Danaidenfaß  zu  schöpfen  und 
die  Verhandlungen  über  das  Budget  von  Algerien  werden  jedes 
Jahr  erregter,  Untersuchungsausschüsse  werden  ernannt  und  be- 
reisen das  Land,  Heilmittel  der  verschiedensten  Art  werden 
vorgeschlagen.  Ob  man  aber  diejenigen  finden  wird,  die  ge- 
eignet sind,  diese  heutige  Lage  Algeriens  als  Ergebnis  einer 
derartigen  84jährigen  Kolonialpolitik  zu  bessern,  ist  billig  zu 
bezweifeln. 

So  große  Bewunderung  man  der  Einsicht,  der  Zähigkeit,  der 
Opferfreudigkeit  und  Tatkraft  des  französischen  Volkes  in  bezug 
auf  seine  Kolonialpolitik  entgegenbringen  muß,  auf  das  koloni- 
satorische Können  kann  sie  sich  nicht  erstrecken.  Es  ist  wohl 
keine  Überhebung,  weim  wir  von  der  deutschen  Kolonialpolitik, 
selbst  in  der  halben  Weise  wie  sie  bisher  betrieben  worden  ist, 
Besseres  erwarten.  Die  Franzosen  selbst  scheinen  in  Algerien 
doch  auch  vieles  gelernt  zu  haben,  indem  sie  in  Tunis,  aller- 
dings unter  wesentlich  günstigeren  Verhältnissen,  von  vornherein 
die  Sache  weit  klüger  angefaßt  und  unleugbar  schon  heute  recht 
wesentliche  Erfolge  erzielt  haben.  Sie  behandeln  Tunis  wesent- 
lich als  Betriebskolonie,  die  aber  Frankreich,  nachdem  soeben 
der  Kriegshafen  von  Biserta,  dessen  Bedeutung  nicht  leicht  über- 
schätzt werden  kann,  wieder  großen  Schiffen  zugänglich  gemacht 
worden  ist,  in  seinem  Streben  nach  der  Herrschaft  auf  dem 
Mittelmeere  bereits  einen  gewaltigen  Schritt  weiter  geführt  hat. 
Indessen  läßt  sich,  wenn  wir  von  der  augenblicklichen  Lage  als 
Frucht  dessen,  was  im  Laufe  von  84  Jahren  geschehen  ist,  ab- 
sehen, doch  auch  Algerien  ein  freundlicheres  Aussehen  abge- 
winnen. Wer  das  Land  betritt  und  nur  flüchtig  durchreist,  wird 
die  tiefen  Schäden  nicht  bemerken  und  freudig  anerkennen,  was 
ein  großes  Kulturvolk  hier  geschaffen  hat.  In  manchen  Städten, 
namentlich  an  der  Küste,  könnte  man  glauben,  sich  in  Frankreich 
selbst  zu  befinden,  und  die  Franzosen  lieben  es,  von  Frankreich 
in  Afrika  zu  sprechen  und  ihre  Leistungen  mit  denen  ihrer  Vor- 


—      407      — 

ganger    auf    diesem    Boden,     der    Römer,     zu    vergleichen.     Die 
meisten   Küstenstädte    besitzen   unter   großen   Kosten    geschaffene 
Hafenanlagen,    die    freilich    den    furchtbaren    Stürmen,    die    hier 
zeitweilig  hereinbrechen,  nicht  gewachsen  sind,  ausgedehnte  Land- 
schaften sind  fast  unter  Verdrängung  der  Eingeborenen  mit  euro- 
päischen Ortschaften  bedeckt,  zahlreiche  Stauseen  liefern  Wasser 
zur  Berieselung  in  der  langen  Trockenzeit,    ein   3000  km    langes 
Netz    von   Eisenbahnen    und    ebenso    lange    Staatsstraßen    durch- 
ziehen das  Land   von  der  Grenze   von  Marokko  bis  zu    der   von 
Tunis    und    setzen    sich    bis    Tunis    selbst    fort.     Die    Küste    ist 
sorgsam    aufgenommen    und    mit    Leuchtfeuern    besetzt,    das    der 
Landesaufnahme   zugrunde    liegende  Dreiecksnetz    ist    durch    eine 
für    alle    Zeiten    denkwürdige    geodätische    Operation    quer    über 
den    Westzipfel    des    Mittelmeeres    und    über    Spanien    mit    dem 
europäischen  verbunden,   eine  rasch  fortschreitende  topographische 
Aufnahme    liefert    Karten,     die    sich    den    besten    Europas    zur 
Seite   stellen   lassen,    das  Land    ist  in   geschichtlicher  und    natur- 
kundlicher    Hinsicht     heute     schon     besser     erforscht     als     viele 
Länder  Europas,    eine   reiche  Literatur   über   dasselbe  ist  in  den 
Bibliotheken   aufgespeichert.     Die   Bevölkerung,    der   Anbau,    der 
Verkehr    hat    sich    bedeutend    gehoben.     Der    Gesamthandel    in 
Aus-    und    Einfuhr    ist    von    1850   von    83    r^Iillionen   Francs    auf 
500  Millionen  im  Jahre  1892,   600  MiUionen  1904  gestiegen,   die 
Ausfuhr,   die  noch  1850  kaum  in  Betracht  kam,  nähert  sich  schon 
bedeutend    der    Einfuhr,    ja     übersteigt     sie     schon    gelegentlich. 
Namentlich  ist  die  erste  Handelsstadt  Frankreichs,  Marseille,  zum 
großen  Teil   das   geworden,    was   es  heute   ist,    durch  die  Bezie- 
hungen  zu   Algerien.     Dieses    nimmt    unter    den    Ländern,    nach 
welchen  die  französische  Ausfuhr  gerichtet  ist,    bereits  die  fünfte 
Stelle  ein,   und  die  Beteiligung  Fremder,  die  grundsätzlich,  wenn 
es    irgend   geht,    aus    den   französischen   Kolonien   ausgeschlossen 
werden,    am    Handel    mit    Algerien    ist   bereits    auf   i97o   herab- 
gedrückt.    Die    Handelsbewegung    aller    französischen    Kolonien, 
also   Algerien   mit    500  Millionen   eingerechnet,    betrug   1891,    so 
wenig    entwickelt    dieselben    auch    sind,    bereits     1078    Millionen 
Francs.     Eine    so   gewaltige   Summe   befruchtet   also  schon  heute 
selbst    das    Wirtschaftsleben    Frankreichs    durch    seine    Kolonial- 
politik, 


—     4o8     — 

6.  Fünfzehn  Jahre  französischer  Kolonialpolitik 
in  Tunesien.  0 

„Frankreich  versteht  nicht  zu  kolonisieren".  Das  ist  ein  Satz, 
den  man  in  und  außerhalb  Frankreichs  oft  hören  kann,  zu  dem 
aber  das  Verhalten  der  französischen  Regierung  und  der  Mehr- 
heit der  französischen  Volksvertretung  in  grellem  Gegensatze 
steht.  Denn  wir  sehen,  daß  Frankreich  zu  seinem  älteren  Be- 
sitze in  Amerika,  den  letzten  dürftigen  Resten  seines  früheren 
Kolonialreichs,  sich  ein  bereits  recht  ansehnliches  Kolonialreich 
in  Südostasien  geschaffen  hat  und  weiter  auszudehnen  bemüht 
ist  und  daß  es  vor  allem  in  Afrika,  abgesehen  von  der  Riesen- 
insel Madagaskar j  der  Verwirklichung  des  großen  Planes,  den 
ganzen  Nordwesten  des  Erdteils  zu  einem  großen  französischen 
Afrika  vom  Mittelmeer  bis  zum  Kongo  zu  machen,  sehr  nahe 
gerückt  ist.^) 

Betrachtet  man  dieses  ungeheuere  französische  Kolonialreich 
in  fünf  Erdteilen,  das  an  Ausdehnung  nur  dem  englischen  und 
russischen  nachsteht,^)  etwas  näher,  so  erscheint  es  allerdings 
mehr  als  ein  Wechsel  auf  die  Zukunft.  Dasselbe  kostet  das 
Mutterland  ungeheuere  Summen,  von  denen  nur  ein  Bruchteil 
mittelbar  wieder  in  jenes  zurückströmt.  Es  handelt  sich  eben 
um  die  Schaffung  eines  großen  französischen  Wirtschaftsgebietes, 
innerhalb  welches,  ungestört  von  außen,  das  Mutterland  die  Er- 
zeugnisse seines  Gewerbefleißes  absetzen  und  die  nötigen  Roh- 
und  Nahrungsstoffe  erzeugen  kann,  in  welchem  sich  vielleicht 
auch  die  Möglichkeit  bietet,  daß  französische  Auswanderer  auf 
jungfräulichem  Boden,  unter  neuen  Naturbedingungen  durch 
reichen  Kindersegen  dem  schon  nicht  mehr  relativen  Rückgange 
der  französischen  Nation  erfolgreich  steuern.  Selbst  derjenige, 
welcher  von  der  Richtigkeit  des  Satzes,   daß  Frankreich  nicht  zu 


1)  Erschienen  in  den  Preuß.  Jahrbüchern   1898. 

2)  Seitdem  kann  man  diesen  Plan  als  verwirklicht  ansehen.  Alles,  was 
hier  Engländer,  Deutsche,  Portugiesen,  Spanier  besitzen,  erscheint  als  Ein- 
schlüsse in  diesem  ungeheuren  französischen  Besitze.  Ebenso  Marokko,  auf 
welches  Frankreich  eben  seine  Hand  zu  legen  im  Begriff  ist.  Dieser  Teil 
des  französischen  Kolonialreiches  ist  für  sich  so  groß  wie  Europa. 

3)  Dasselbe  mag  jetzt  einen  Flächeninhalt  von  1 1  Mill.  qkm  und 
48  Mill.  Einwohner  haben. 


—     409     — 

kolonisieren  verstehe,  überzeugt  ist,  wird  der  Folgerichtigkeit,  dem 
Geschick,  der  Tatkraft,  die  beide  wir  Deutschen  ja  am  eigenen 
Leibe  erprobt  haben,  und  der  Opferwilligkeit  des  französischen 
Volkes  auf  kolonialpolitischem  Gebiete  seine  Bewunderung  nicht 
versagen  körmen.  Das  französische  Volk  glaubt  eben  an  sich 
und  seine  Zukunft!  Es  ist  politisch  und  wirtschaftlich  hinreichend 
gereift,  um  einzusehen,  daß  nur  diejenigen  Völker  und  Staaten 
Europas  sich  auf  die  Dauer  in  einer  Großmachtstellung  behaupten 
können,  die  sich  außerhalb  Europas  neue  Machtquellen  schaffen, 
d.  h.  zugleich  Weltmächte  sind:  recht  im  Gegensatze  zum  Deut- 
schen Reiche,  wo  die  Scheuklappen  der  Partei  noch  manchen 
hindern,  diese  Wahrheiten  zu  erkennen  oder  das  Parteiinteresse 
manchen  zwingt,   die   erkannte   Wahrheit  zu  verleugnen. 

Daß  der  Wechsel  auf  die  Zukunft,  als  welchen  man  heute 
im  wesentlichen  die  überseeischen  Erwerbungen  Frankreichs  wird 
bezeichnen  müssen,  doch  in  einzelnen  Fällen  in  nicht  sehr  ferner 
Zukunft  fällig  sein  dürfte,  das  lehrt  nun  Tunesien.  Die  Leistungen 
und  Erfolge  Frankreichs  in  Tunesien  in  einem  Zeiträume  von 
kaum  einundeinhalb  Jahrzehnt  sind  ganz  danach  angetan,  die 
Vorstellungen  von  der  kolonisatorischen  Unfähigkeit  des  fran- 
zösischen Volkes,  wo  immer  solche  herrschen  mögen,  zu  er- 
schüttern. Zugleich  kann  das,  was  die  Franzosen  in  Tunesien 
zur  Erschließung  und  wirtschaftlichen  Ausbeutung  des  Landes 
getan  haben,  in  vieler  Hinsicht  vorbildUch  sein.  Namentlich  wir 
Deutschen  können  sehr  viel  in  Tunesien  lernen,  denn  wir  haben 
sehr  vieles  von  dem,  was  selbstverständlich  zunächst  und  sofort 
in  einem  neuen  Lande  geschehen  muß,  —  am  nächsten  liegt 
der  Vergleich  mit  Südwestafrika  —  nicht  getan,  allerdings  zum 
Teil  weil  es  gewissen  Kreisen  an  Verständnis  und  gutem  Willen 
fehlte,  zu  tun,  was  von  Verständigen  gefordert  wurde.  ^) 

Um  die  in  seiner  Lage  und  seiner  geographischen  Ausstat- 
tung begründete  heutige  und  zukünftige  Bedeutung  Tunesiens, 
seine  Rolle  in  der  Geschichte  zu  verstehen,  müssen  wir  uns  zu- 
nächst die  geographischen  Grundzüge  dieses  Landes  veranschau- 
lichen. 


I)  Die  hier  gegebene  Darstellung  entspricht  dem  Bilde,  das  man  sich 
zwei  Jahrzehnte  hindurch  machen  mußte.  Der  folgende  Aufsatz,  Tunesien 
1901,  zeigt,  daß  dies  rasche  Aufblühen  des  Landes  eine  vorübergehende  Er- 
scheinung v.-ar. 


/[lO 

Tunesien  ist  ein  Teil  des  Atlantischen  Faltenlandes,  d.  h. 
des  südwestlichsten  zum  Atlantischen  Ozeane  ausstreichenden 
Stücks  der  eurasischen  Faltengebirge,  die  in  vorwiegend  westöst- 
licher Richtung  die  Erdteile  Europa  und  Asien  durchziehen  und 
deren  Oberflächengestalt  in  erster  Linie  bestimmen.  Erst  spät 
mit  der  großen  Wüstentafel  Nordafrikas  verbunden  und  durch 
Bildung  der  Meerengen  von  Gibraltar  und  von  Pantellaria  von 
Europa  losgelöst,  ist  das  Atlantische  Faltenland  nach  Entstehung 
und  Oberflächenform  europäisch,  ein  durchaus  fremdartiges  An- 
hängsel Afrikas.  Im  großen  einheitlich,  zerfällt  es  doch  durch 
gewisse  Züge  seiner  Oberflächengestalt  in  drei  Länder,  die,  wenn 
auch  mit  sich  häufig  verschiebenden  Grenzen,  in  verschiedenen 
Abschnitten  der  Geschichte  ungefähr  in  dem,  was  wir  heute  Ma- 
rokko, Algerien  und  Tunesien  nennen,  ihren  staatlichen  Ausdruck 
gefunden  haben.  Dadurch,  daß  die  beiden  Atlantischen  Faltengürtel 
je  weiter  nach  Osten  sich  um  so  mehr  einander  nähern  und  der 
südliche,  der  sogenannte  Saharaatlas,  nach  Nordosten,  also  nach 
Sizilien  hin,  abschwenkt,  dessen  Appennin  in  der  Tat  sich  in 
den  Gebirgen  Nordtunesiens  fortsetzt,  dadurch  daß  zugleich  im 
tunesischen  Teile  des  Saharaatlas  ein  gewisses  Auseinanderstreben 
der  allerdings  immer  niedriger  und  kürzer  werdenden  Gebirgszüge 
hervortritt,  die  mehr  sich  in  gleicher  Richtung  aneinander  an- 
schließenden, aus  der  Ebene  aufsteigenden  Bergrücken  von 
elliptischer  Gestalt  gleichen,  erreicht  Afrika  hier  seine  höchste 
nördliche  Breite,  nähert  sich  Tunesien  Sizilien  auf  150  km  (etwa 
Berlin  —  Magdeburg),  neigt  und  öff"net  es  sich  gegen  das  Mittel- 
meer. So  entsteht  eine  orographisch  vom  Mittellande  Algerien 
gut  gesonderte,  durch  große  Zugänglichkeit  vom  Mittelmeere  aus, 
durch  geringe  Meerfernen,  Mangel  an  hohen  abgeschlossenen 
Bergländern ,  gekennzeichnete  östliche  Abdachung  des  Atlas- 
gebiets, kurz  ein  Länderindividuum  niederer  Ordnung,  das  wir 
jetzt  Tunesien  nennen.  Es  sind  namentlich  vier  Höhenzüge,  die 
die  senkrechte  und  die  wagrechte  Gliederung  Tunesiens,  nament- 
lich die  Aufschließung  des  Landes  durch  drei  Meerbusen  und 
sich  zu  denselben  abdachenden  Hohlformen,  bestimmen.  Die 
beiden  nördlichsten,  die  man  als  Fortsetzungen  der  in  Algerien 
gewöhnlich  als  Teil-  und  Saharaatlas  bezeichneten  Gebirgssysteme 
ansehen  kann,  endigen  ersteres  westöstlich,  letzteres  südwest- 
nordöstlich  streichend,    in    den   hohen  Vorgebirgen  des  Ras  Sidi 


—      4"      — 

Ali  el  Mekki  und  des  Kap  Bon.  Zwischen  ihnen  öffnet  sich  als 
vom  Meer  überflutetes  Ende  eines  großen  Längstales  der  Golf 
von  Tunis,  dem  in  dem  noch  überseeischen  breiten  Längstale, 
einen  bequemen  Weg  ins  Innere  bildend,  der  größte  Fluß  Tu- 
nesiens, der  Medscherda,  zustrebt.  Dies  ist  Nordtunesien.  Ein 
dritter,  jenen  beiden  paralleler,  aber  niedrigerer  und  weniger 
scharf  ausgeprägter  Höhenzug  verursacht  den  stumpfen  Landvor- 
sprung am  Ras  Dimas  und  Ras  Kapudia.  Dazwischen  öff"net 
sich  der  flache  und  durch  jüngere  Landbildung  noch  flacher  ge- 
wordene Golf  von  Hammamet,  welchem  ebenfalls  eine  flache,  sich 
nach  Nordosten  neigende  Mulde  und  ein  Fluß,  der  Wed  Zerud, 
entspricht,  dessen  Gewässer  freilich  in  diesem  schon  weit  nieder- 
schlagsärmeren Gebiet  meist  im  Kelbia  See  verdunsten  und  nur 
ganz  ausnahmsweise  das  langgestreckte  Haff  von  Hergla  und  das 
Mittelmeer  erreichen.  Andere  Höhenzüge  weiter  nach  Süden, 
wie  der  Djebel  Orbata,  haben  nicht  mehr  die  vorherrschende 
Nordostrichtung,  sondern  streichen  mehr  in  Ostnordost  gegen  den 
Nordrand  der  Kleinen  Syrte.  Sie  bilden  die  Südgrenze  Mittel- 
tunesiens. Allerdings  muß  betont  werden,  daß  diese  Höhenzüge, 
abgesehen  von  den  beiden  nördlichsten,  keineswegs  das  Meer  er- 
reichen, sie  endigen  vielmehr  im  Innern.  Die  annähernd  meri- 
dional  verlaufende  Ostküste  Tunesiens  wird  von  jüngeren,  plio- 
zänen  und  quartären  ungestörten  Schichten  gebildet  und  ist 
keineswegs  als  eine  Querbruchküste  aufzufassen.  Südlich  von 
diesen  Höhenzügen  zieht  sich  nun  von  der  Kleinen  Syrte,  dem 
südlichsten  der  drei  Golfe,  die  sogenannte  Schott-Depression  tief 
ins  Innere  des  Landes.  Die  flachen  Salzseen,  deren  Spiegel  zum 
Teil  unter  dem  des  Mittelmeeres  liegt,  nach  denen  diese  die 
Grenze  des  Atlantischen  Faltenlandes  und  der  großen  Wüstentafel 
kennzeichnende  Depression  benannt  ist,  sind  der  Ausdruck  der 
noch  größeren  Niederschlagsarmut  Südtunesiens,  die  es  nicht  mehr 
zur  Bildung  eines  Flusses  kommen  läßt.  Der  östlichste  dieser 
Schotts  liegt  aber  zwischen  zwei  scharf  ausgeprägten  westost- 
streichenden ,  also  auf  die  Kleine  Syrte  zielenden  Höhenzügen. 
Die  am  Eingange  der  Kleinen  Syrte  gelegenen  Inseln,  die  Ker- 
kenahgruppe  am  nördlichen,  die  große  gartenartig  angebaute 
Djerba  am  südlichen,  beide  ganz  flache  aus  seichtem  Meere  sich 
erhebende  Tafeln  derselben  jungen,  festländisch  gebildeten  Schich- 
ten, aus  denen  das   nahe  Festland   besteht,   von    dem    sie   abge- 


4^2        

gliedert  sind,  kennzeichnen  die  Kleine  Syrte  geradezu  als  die 
Gegend  der  reichsten  wagerechten  Gliederung  des  ungefügen 
Afrika.  Da  nun  hier  zugleich  die  Oberflächenformen  und  die 
Oasenzüge  die  Verkehrswege  aus  der  Sahara  und  durch  die  Sa- 
hara ans  Mittelmeer  leiten,  so  bildet  der  Golf  von  Gabes  nicht 
nur  das  Eingangstor  von  Südtunesien,  sondern  eines  der  wich- 
tigsten Eingangstore  von  Afrika  überhaupt.  Wie  schon  die  alten 
Griechen  die  hier  gelegenen  Küstenstädte,  namentlich  Tacape 
(Gabes)  als  Emporia,  die  Handelsplätze,  bezeichneten,  sind  noch 
heute  die  Bedingungen  gegeben,  unter  denen  ein  beträchtlicher 
Teil  des  Sahara-  und  Sudanhandels  über  die  Kleine  Syrte  und 
Tunesien  überhaupt  gehen  könnte.  In  römischer  Zeit  drangen 
von  hier  aus  römische  Ansiedler  und  römische  Gesittung,  wie 
noch  heute  die  Altertümer  bezeugen,  tief  ins  Innere  ein  bis  in 
die  Oasenstadt  Rhadames  (Cydamus),  namentlich  auch  in  das 
erst  jetzt  aufgeschlossene  Gebirgsland  der  Höhlenberbern  im 
Süden  der  Kleinen  Syrte,  die  heute  Arad  genannte  Landschaft, 
den  Anteil  Tunesiens  an  der  großen  Wüstentafel. 

Das  Eingangstor  von  Mitteltunesien  ist  der  Golf  von  Ham- 
mamet,  der  freilich  heute  keine  so  günstigen  Verhältnisse  mehr 
bietet.  Hier  entwickelte  sich  in  römischer  Zeit,  aber  schon  eine 
alte  phönikische  Ansiedelung,  Hadrumetum  (heute  Susa)  zu  einer 
volkreichen  Seehandelsstadt,  welche  den  Verkehr  des  dicht  be- 
siedelten Mitteltunesien  bis  nach  Tebessa  im  heutigen  Algerien 
hin  vermittelte. 

Noch  wichtiger  ist  der  Golf  von  Tunis,  da  er  sich  gegen 
Sizilien  hin  und  an  der  großen  Einschnürung  des  Mittelmeeres 
öffnet  und  das  Tal  des  Medscherda  in  der  gleichen  südwestlichen 
Richtung  den  bequemsten  Weg  ins  Innere  bildet,  auf  welchem 
römische  Ansiedler,  Sprache  und  Gesittung  bis  aufs  Hochland  der 
heutigen  algerischen  Provinz  Constantine  vordrangen.  Der  Golf 
von  Tunis,  an  welchem  sich  die  römische  Weltstadt  Karthago 
entwickelte,  und  das  Medscherda  Tal  sind  die  beiden  wichtigsten 
geographischen  Ausgangspunkte  der  völligen  Romanisierung  der 
nordöstlichen  Atlasländer.  Nichts  stände  im  Wege,  daß  dieselben 
auch  in  Zukunft  wieder  ihre  Wirkung  ausübten  —  wenn  Frank- 
reich Kinder  entsenden  könnte.  Die  Bedeutung  des  Golfs  von 
Tunis  und  Nordtunesiens  wird  noch  größer  dadurch,  daß  an  dem- 
selben  bzw.    in   unmittelbarer   Nähe   nun   auch    die   besten  Häfen 


—     413     — 


des  Landes  liegen,  die  durch  Kunst  leicht  den  höchsten  Anfor- 
derungen der  Zeit  entsprechend  zu  verbessern  mit  ihrem  weiten 
und  reichen  Hinterlande,  fast  in  der  Mitte  des  Mittelmeers  und 
an  der  Einschnürung,  durch  welche  zu  allen  Zeiten  eine  wich- 
tige, wenn  nicht  die  wichtigste  Straße  des  Welthandels  gehen 
muß,  Sizilien  und  Sardinien  gegenüber  gelegen,  durch  allen 
Wechsel,  welchem  die  Geschicke  der  INIenschen  unterworfen  sind, 
immer  und  immer  wieder  zu  Brennpunkten  des  Weltverkehrs  und 
der  politischen  Macht  werden  müssen.  So  Utica,  das  punische 
und  das  römische  Karthago,  Tunis.  Noch  mehr  als  Tunis  selbst 
wird  in  Zukunft  Biserta  in  dem  Kampfe  um  die  Herrschaft  auf 
dem  Mittelmeere  hervortreten. 

Aufgeschlossenheit   gegen   das    Mittelmeer,    das   ist   also   der 
entscheidende  geographische  Charakterzug  Tunesiens:   soweit  der 
Einfluß  der  drei  Golfe,   aber   vor   allem  der    des  beherrschenden 
von  Tunis  reicht,  so  weit  rücken  die  Grenzen  Tunesiens  der  vom 
Kap  Bon  annähernd  nach  Süden  verlaufenden  Küste  parallel  ins 
Innere,    also    bald    weiter,    bald    weniger   weit.     Dieses  Land    er- 
streckt  sich    also    als    ein    verhältnismäßig   schmaler   meridionaler 
Streifen,    in    den    heutigen    Staatsgrenzen  im  Mittel   etwa   200  km 
breit,  auf  rund  600  km  von  Norden  nach  Süden.     Der  tunesische 
Staat  umfaßt  daher  nur  etwa  iiöoooqkm,  weniger  als  ein  Fünftel 
der  Bodenfläche  Frankreichs.    Das  dazu  gerechnete  Wüstengebiet 
eingeschlossen  sind  es  167000  qkm.    Die  Meerfernen   Tunesiens 
sind    also    überall   so    gering,    daß    auch    die    fernsten   Punkte    in 
einem  Schnellzuge  überall  in  drei  bis  vier  Stunden  erreicht  werden 
könnten,  denn  das  ganze  Land  neigt  sich  auch  zum  Mittelmeere. 
Es  ist  nicht,  wie  Algerien  und  Marokko,  durch  hohe  Gebirgswälle 
von  demselben  geschieden.     Auch  in  meridionaler  Richtung  bieten 
sich  dem  Verkehr  auch  zu  Lande  nur  geringe  Hindernisse.    Von 
abgeschlossenen  Gebirgslandschaften,  die  wie  natürliche  Festungen 
die  Eingeborenen   gegen    übermächtige    Feinde   zu   schützen   und 
zu  kräftigen,   kriegerischen,    freiheitsliebenden   Bergvölkern  zu  er- 
ziehen  vermöchten,    wie    das    Auresgebirge    und    der    Djurdjura 
(Mons  ferreus  der  Römer)  in  Algerien,    der   hohe  Atlas    und  das 
Rifgebirge   in   Marokko,    ist   in   Tunesien   keine    Spur    vorhanden. 
Die   höchsten  Erhebungen    des  Landes   kommen   nur   denen    der 
deutschen  Mittelgebirge  gleich.     Nirgends    hindern   leicht   zu  ver- 
teidigende   Engpässe    das   Eindringen    ins    Innere.     Tunesien   ist 


—      4H     — 

durchaus  ein  offenes  Land.  Die  Form  der  Ebene,  namentlich 
am  Meere  entlang,  und  welliges  Hügelland  herrschen  vor.  Diese 
Aufgeschlossenheit  kommt  auch  den  klimatischen  Verhältnissen 
zugute:  überall  vermögen  die  feuchten  Winde  vom  Mittelmeere 
her  einzudringen,  die  Hälfte  des  Landes  ist  noch  genügend  be- 
netzt, langsam  und  unmerklich  vollzieht  sich  von  Norden  tiach 
Süden  der  Übergang  zur  Steppe  und  zur  Wüste,  nicht  schroff 
und  unvermittelt  wie  in  Algerien  liegen  diese  Gegensätze  neben- 
einander. 

Diese  Grundzüge  der  Landesnatur  haben  bewirkt,  daß  in 
Tunesien  sich  berberisches  und  arabisches  Volkstum  einander 
mehr  angeähnlicht  haben  und  sich  ersteres,  wenn  es  auch  bei 
weitem  überwiegt,  nur  örtlich  und  in  geringer  Ausdehnung  ver- 
hältnismäßig rein  erhalten  hat.  Der  Anteil  der  seßhaften,  gesitte- 
teren Bewohner  ist  weit  größer  wie  in  Algerien,  der  Gegensatz 
zwischen  Seßhaften  und  Noraaden  geringer,  da  der  Prozentsatz 
der  Halbnomaden  groß  ist.  Wenn  man  auch  neben  57  000  be- 
wohnten Häusern  81  000  Zelte  gezählt  hat,  so  sind  diese  Zelt- 
bewohner durchaus  nicht  alle  Nomaden,  meist  höchstens  Halb- 
nomaden. Wie  in  der  Landesnatur  alles  Großartige  und  Wilde 
fehlt,  so  erscheinen  auch  die  Landesbewohner  im  Vergleich  zu 
denen  der  übrigen  Atlasländer  als  friedlich,  weniger  freiheits- 
liebend und  leicht  regierbar.  Sie  neigen  weit  weniger  zu  reli- 
giösem Fanatismus. 

Tunesien  erscheint  durch  seine  überall  vorhandene  Frucht- 
barkeit des  Bodens  zu  einem  Lande  des  Ackerbaues  bestimmt. 
Zur  Entwicklung  des  Bergbaues  sind  die  Bedingungen  nur  in 
geringem  Maße,  zu  der  der  Gewerbtätigkeit  so  gut  wie  gar  nicht 
gegeben.  Die  Lage  des  Landes  zum  Mittelmeere  und  zu  Inner- 
afrika, die  Fülle  der  eigenen  Bodenerzeugnisse  befähigen  aber 
seine  Bewohner,  sich  an  gewinnreichem  Handel  zu  Lande  wie 
zur  See  zu  beteiligen.  Der  ungeheure  Reichtum  der  tunesischen 
Küsten  an  Fischen  und  anderen  wertvollen  Erzeugnissen  des 
Meeres  (Edelkorallen,  Schwämme)  erzieht  tüchtige  Seeleute.  Zählt 
doch,  obwohl  Italiener  und  Griechen,  die  eigentlichen  Fischer- 
und Schiffervölker  des  Mittelmeeres,  noch  immer  einen  bedeuten- 
den Anteil  an  den  tunesischen  Fischereien  haben,  die  Fischer- 
bevölkerung des  Landes  nicht  weniger  als  60  000  Mann,  am  Golf 
von  Gabes   allein  6000.     Die    natürliche  Fruchtbarkeit   des  Lan- 


—     415     — 

des  kommt  freilich  nur  zum  Teil  zur  Geltung,  da  nur  in  Nord- 
tunesien überall  die  wie  im  ganzen  südlichen  Mittelmeergebiete 
auf  die  milden  Winter  beschränkten  Niederschläge  (50 — 60  cm 
im  Jahr)  dem  Anbau  von  Weizen  und  der  Zucht  der  Frucht- 
bäume des  Mittelmeergebietes,  abgesehen  von  Apfelsinen  und 
Limonen,  auch  ohne  künstliche  Bewässerung  genügen.  Seßhaftig- 
keit und  kleiner  oder  mittlerer  Grundbesitz  ist  hier  das  Natur- 
bedingte. Auch  in  Mitteltunesien  ist  Olivenzucht  noch  überall 
möglich  und  lohnend,  aber  der  Weizenbau  steht  bereits  unter 
ungünstigeren  Bedingungen,  da  die  Niederschlagsmenge  bei  größe- 
rer Wärme  schon  von  50  bis  auf  20  cm  sinkt  und  vor  allem  so 
veränderlich  ist,  daß  man  bei  Kairuan  schon  nur  jedes  dritte, 
bei  Sfaks  nur  jedes  fünfte  Jahr  auf  eine  gute  Weizenernte  rechnen 
kann.  Ja,  hier  tritt  bereits  salzhaltiger  Steppenboden  und  Salz- 
seen auf.  Das  ist  der  Gürtel  der  Riesengüter,  von  denen  frei- 
lich immer  nur  ein  kleiner  Teil  angebaut,  der  größere  als  Weide- 
land benutzt  ist.  In  Südtunesien  schließlich  herrscht  durchaus 
Steppe  oder  Wüste.  Aller  Anbau  ist  an  künstliche  Berieselung 
gebunden,  also  auf  die  geringen  Bodenflächen  der  Oasen  be- 
schränkt, in  denen  naturgemäß  Kleinbesitz  mit  Gartenbau  auf 
Gemüse  und  ähnliche  Nährfrüchte  im  Schatten  der  lichte  Dattel- 
palmenhaine bildenden  Oasen. 

Frankreich  hatte  die  Besetzung  Tunesiens  von  langer  Hand 
her  vorbereitet.  Es  galt  Italien  zuvorzukommen,  dessen  Einfluß 
durch  die  größere  räumliche  Nähe,  große  wirtschaftliche  Interessen 
und  eine  starke  Einwanderung  in  gefahrdrohender  Weise  gewachsen 
war.  Ein  Vorwand  war  jeden  Augenblick  zu  finden,  da,  wie  an 
der  Westgrenze  gegen  Marokko,  so  auch  an  der  Ostgrenze  gegen 
Tunis  es  fast  nie  an  Reibungen  unter  den  Stämmen  der  Ein- 
geborenen fehlt.  Der  berberische,  äußerlich  arabisierte  Stamm  der 
Krumir,  der  nur  etwa  6500  Köpfe  zählend  das  nördliche  Küsten- 
gebirge an  der  Grenze  von  Algerien  bewohnt,  bot  denselben 
durch  Einfälle  auf  französisches  Gebiet.  Fast  ohne  Kampf  wurde 
das  ganze  Land  besetzt  und  das  Verhältnis  Tunesiens  zu  Frank- 
reich durch  den  später  im  einzelnen  ergänzten  Vertrag  von  Bardo 
am  12.  Mai  1881  geregelt.  Der  völlig  zerrüttete  und  durch  un- 
erhörte Mißwirtschaft  an  den  Rand  des  Abgrundes  gebrachte 
Staat   wurde  französisches   Schutzgebiet. 


—     4^^     — • 

Es  muß  anerkannt  werden,  daß  Frankreich  vom  ersten  Tage 
an  und  bis  heute  in  Tunesien  zwar  tatkräftig,  zielbewußt  und 
folgerichtig,  aber  mit  großer  Klugkeit  und  Mäßigung  vorgegangen 
ist.  Letztere  beiden  waren  allerdings  auch  in  hohem  Grade 
durch  internationale  Rücksichten,  namentlich  gegenüber  Italien 
und  England  geboten,  während  die  Bismarcksche  Politik  diese 
kolonialpolitischen  Pläne  der  französischen  Regierung  offensichtig 
begünstigte.  Wenn  jener  dabei  vielleicht  die  Hoffnung  vor- 
schwebte, es  werde  gelingen  durch  erfolg-  und  hoffnungsreiche 
überseeische  Unternehmungen  die  Franzosen  mehr  und  mehr  von 
Elsaß-Lothringen  abzuziehen,  so  kann  man  zweifeln,  ob  bis  heute 
Aussicht  auf  Verwirklichung  dieser  Hoffnung  eröffnet  ist.  Das 
eine  ist  aber  sicher  erreicht  worden:  eine  Wiederannäherung 
Italiens  an  Frankreich  ist  völlig  unmöglich  geworden,  falls  nicht 
Italien  auf  die  Stellung  einer  Groß-  und  Mittelmeermacht  ganz 
und  gar  verzichten  und  sich  in  untergeordneter  Stellung  politisch 
und  wirtschaftlich  in  größere  Abhängigkeit  von  Frankreich  begeben 
will  wie  zuvor.  Die  Vereitelung  seiner  geographisch  und  politisch 
naheliegenden,  wirtschaftlich  berechtigten  Hoffnungen  auf  Tunesien 
würde  Italien  verschmerzen  können,  aber  eine  fast  dreitausend- 
jährige  Geschichte,  welche  die  merkwürdigen  Wechselbeziehungen 
zwischen  Süditalien  und  Tunesien  grell  beleuchtet,  lehrt,  daß  die 
Unabhängigkeit  und  der  Besitzstand  Italiens  (Sizilien  und  Sardinien) 
bedroht  ist,  wenn  eine  starke  Macht  am  Golf  von  Tunis  steht. 
Und  vollends  wenn  Frankreich  seine  Pläne  auf  Tripolitanien  eines 
Tages  auszuführen  in  der  Lage  ist!  Zwischen  Tunesien  und 
Italien  steht  allerdings  England,  das  auch  hier  eine  der  Lebens- 
adern seiner  Weltmachtstellung  zu  verteidigen  hat.  Möge  sich 
der  Leser  den  Wert  dieser  englischen  Interessengemeinschaft  selbst 
zurechtlegen.  Ob  die  Leiter  der  französischen  Politik  in  Tune- 
sien auch  einen  Ersatz  für  Elsaß- Lothringen  gesucht  haben,  lassen 
wir  dahingestellt  sein,  jedenfalls  kann  man  sagen,  daß  Tunesien 
heute  schon  mehr  als  ein  solcher  Ersatz  ist  für  jeden,  der  sich 
die  politische  Einsicht  nicht  durch  Gefühle,  seien  es  auch  noch 
so  edele  und  berechtigte,  trüben  läßt.  Der  Verlust  von  Elsaß- 
Lothringen  hat  Frankreichs  Stellung  nur  dem  Deutschen  Reiche 
gegenüber  verschlechtert.  Daß  dieses  an  nichts  weniger  als  an 
Angriffe  auf  Frankreich  denkt,  davon  werden  sich  alle  einsichtigen 
Franzosen  nachgerade  wohl  überzeugt  haben.    Dagegen  hat  Tune- 


—     417     — 

sien  die  Weltmachtstellung  Frankreichs  ganz  außerordentlich  ge- 
fördert und  eröffnet  es  wirtschaftlich  und  national  die  weitesten, 
in  den  Erfolgen  von  nur   15  Jahren  fest  begründeten  Aussichten. 

Frankreich  hat  mit  großem  Geschick  im  Innern  stets  den 
Schein  gewahrt,  als  sei  die  tunesische  Dynastie  und  Regierung 
nach  wie  vor  Herr  im  Lande,  während  tatsächlich  vom  ersten 
Tage  an  alle  Macht  in  den  Händen  Frankreichs  lag.  Man  hat 
alle  Vorteile  des  tatsächlichen  Besitzes  erlangt,  ohne  den  Haß 
auf  sich  zu  laden,  den  notwendig  die  unverhüllte  Angliederung, 
die  Absetzung  der  Dynastie,  die  Beseitigung  des  ganzen  Beamten- 
heeres, der  plötzliche  Umsturz  aller  Verhältnisse  hätte  hervorrufen 
müssen.  Auch  sonst  hat  man  sorgsam  die  zahllosen  Fehler  ver- 
mieden, die  in  Algerien  nie  wieder  gut  zu  machendes  Unheil 
gestiftet  haben.  Dort  ist  heute,  nach  67  Jahren,  nicht  nur  die 
eingeborene  Bevölkerung  von  glühendem  Hasse  gegen  Frankreich 
erfüllt,  an  Zahl  gewachsen,  aber  wirtschaftlich  zurückgegangen,  — 
die  Eingeborenen  wirtschaftlich  zu  vernichten  war  ja  längere  Zeit 
Grundsatz  der  französischen  Verwaltung  —  nein,  auch  die  euro- 
päischen Ansiedler,  die  französischen  vielmehr  wie  die  spanischen 
und  italienischen,  sind  meist  überschuldet,  unzufrieden,  ja  er- 
bittert. Sie  machen  ja  daraus  auch  kein  Hehl  und  wer  die  Ver- 
handlungen im  französischen  Parlament  verfolgt  hat,  kann  sich, 
auch  ohne  in  Algerien  selbst  gewesen  zu  sein,  überzeugen,  wie 
schwere  Sorgen  dies  heute  Frankreich  macht.  Von  all  dem  in 
Tunesien  keine  Spur!  Dort  hatte  die  einheimische  Regierung 
gründlich  abgewirtschaftet  und  die  religiösen  Anschauungen  der, 
wie  schon  erwähnt,  auch  zu  Fanatismus  wenig  geneigten  Be- 
wohner wurden  vom  ersten  Tage  an  so  sorgsam  geschont,  daß 
man  von  Franzosen  im  Lande  geradezu  von  einer  Begünstigung 
des  Islam  sprechen  hören  kann.  Darf  doch  beispielsweise  kein 
Christ  im  ganzen  Lande  eine  Moschee  betreten,  außer  in  der 
heiligen  Stadt  Kairuan,  wo  dieselben  von  vornherein  bei  der  Er- 
oberung von  den  französischen  Soldaten   betreten  worden  waren. 

Alle  örtlichen  Einrichtungen  blieben  bestehen,  man  begnügte 
sich  sie  zu  verbessern  und  zu  überwachen,  Eingriffe  in  die  Be- 
sitzverhältnisse wurden  soviel  wie  irgend  möglich  vermieden,  wo 
es  galt  unangenehme  Dinge  durchzuführen,  traten  die  einheimischen 
Beamten  in  den  Vordergrund.  Am  meisten  Eindruck  machte  es 
aber,  daß  Frankreich  sofort  und  mit  Erfolg  an  Ordnung,  Milderung 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  27 


—     4IÖ     — 

und  gleichmäßige  Verteilung  des  ungeheuren  Steuerdruckes  ging,  daß 
das  herrschende,  wahrhaft  blutsaugerische  Verwaltungssystem  beseitigt 
wurde,  welches  das  Land  in  eine  Wüste  zu  verwandeln  drohte 
und  zum  Teil  verwandelt  hat.  Wie  in  Marokko  noch  heute, 
konnten  die  Steuern  nur  an  der  Spitze  eines  Heeres  eingezogen 
werden,  wobei  auch  gelegentlich  eine  widerspenstige  Landschaft 
„aufgegessen"  wurde.  Die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  der  Ein- 
geborenen wurden,  wie  wir  im  einzelnen  sehen  werden,  tat- 
kräftig gefördert,  ohne  daß  es,  wohlverstanden,  Frankreich  auch 
nur  einen  Centime  kostete.  So  muß  schon  heute  der  wohltuende 
Gegensatz  von  einst  und  jetzt  auch  dem  Blödesten  und  Fana- 
tischsten klar  sein.  Nur  fünf  Jahre  nach  der  Eroberung  fand 
ich,  abgesehen  von  einer  Stelle,  auch  in  den  abgelegensten 
Teilen  des  Landes  keine  Spur  von  religiösem  Fanatismus  oder 
Haß  gegen  Frankreich.  Daß  es  in  Algerien  leider  nicht  so  ist, 
das  weiß  man  in  den  leitenden  Kreisen  Frankreichs  nur  zu  gut 
und  auch  dem  einfachsten  Reisenden  drängt  sich  bald  diese 
Überzeugung  auf.  Von  Tunesien  muß  man  aber  schon  heute 
sagen,  daß  die  französische  Schutzherrschaft  und  die  Art  und 
Weise,  wie  sie  ausgeübt  wird,  für  das  Land  eine  Wohltat  und 
auch  vom  allgemein  menschlichen  Standpunkte  aus  dank- 
bar zu  begrüßen  ist. 

Der  Bey  und  seine  Regierung  hat  nach  wie  vor  alle  Ab- 
zeichen der  Herrschaft,  selbst  eine  Leibwache  von  600  Mann 
umgibt  ihn,  der  tatsächliche  Herrscher  aber  ist  der  Vertreter  der 
französischen  Regierung,  der  Generalresident.  Dieser  allein  hat 
das  Recht  die  Befehle  des  Bey  bekannt  zu  machen,  ihre  Aus- 
führung anzuordnen  und  zu  überwachen.  Ihm  unterstehen  die 
Truppen.  Er  ist  Vorsitzender  des  Ministerrates  und  zugleich 
Minister  des  Auswärtigen,  wie  der  Befehlshaber  des  Besatzungs- 
heeres Kriegsminister  ist.  Dieses  ist  meist  in  Lagern  aus  niedrigen 
steinernen  Kasernen,  hier  und  da  auch  in  den  alten  Zitadellen 
über  das  ganze  Land  bis  in  den  äußersten  Süden  verteilt.  Es 
zählt  15000  Mann,  wozu  noch  gegen  2000  Mann  eingeborene, 
aber  französisch  organisierte  und  befehligte  Truppen  kommen. 
Diese  geringe  Macht  genügt  vollkommen  und  würde  wohl  schon 
heute  verringert  werden  können,  wenn  nicht  andere  Verhältnisse 
für  das  Gegenteil  sprächen.  Die  Finanzen,  die  öffentlichen  Ar- 
beiten,   der   Unterricht,  der   Ackerbau,    Post-    und    Telegraphen- 


—     419     — 

Verwaltung  unterstehen  französischen  Beamten,  die  allgemeine 
Verwaltung  eingeborenen  Ministem,  denen  aber  je  ein  Franzose 
als  Generalsekretär  der  tunesischen  Regierung  beigegeben  ist,  der 
also  in  der  Lage  ist,  alles  zu  überwachen.  Es  überwiegt  also 
im  Ministerräte  das  französische  Element  durchaus.  Ebenso  stehen 
den  Kaids  der  17  Verwaltungsbezirke  Franzosen  als  Zivilkontrol- 
leure  zur   Seite. 

Nachdem  sich  Frankreich  in  dieser  Weise  zum  Herren  von 
Tunesien  gemacht  hatte,  mußte  es  selbstverständlich  erste  Auf- 
gabe sein,  das  bis  dahin  nur  in  den  gröbsten  Zügen  bekannte 
Land  zu  erforschen,  um  zu  wissen,  was  man  vor  sich  habe. 
Schon  vom  militärischen  Standpunkte  aus  war  das  nötig.  Un- 
mittelbar darauf,  zum  Teil  gleichzeitig  mußte  die  Erschließung 
des  Landes  durch  Häfen,  Straßen,  Eisenbahnen,  Post  usw.  in 
Angriff  genommen  werden.  Dann  konnte,  auf  beiden  Vorgängen 
als  Voraussetzung  beruhend,  die  wirtschaftliche  Entwicklung  ge- 
fördert werden. 

Zuerst  galt  es  eine  Karte  des  Landes  herzustellen.  In 
wenigen  Jahren  war  ein  Dreiecksnetz  vermessen,  bald  auch  nach 
der  einen  Seite  mit  Algerien,  nach  der  anderen  über  die  Insel 
Pantelleria  mit  SiziUen  verbunden  und  auf  dieser  Grundlage  eine, 
wenn  auch  zunächst  nur  flüchtige,  Aufnahme  des  ganzen  Landes 
durchgeführt.  Die  so  hergestellte  topographische  Karte  in  i  :  200  000 
ist  seitdem  in  ununterbrochener  Verbesserung  begriffen,  wird  aber 
bereits  durch  eine  Neuaufnahme  und  eine  neue  Karte  in  dem  großen 
Maßstabe  von  1:50000  ergänzt,  die  sich  an  die  in  Ausführung 
begriffene  von  Algerien  im  gleichen  Maßstabe  anschließt.  Die 
topographische  Abteilung  ist  vor  allem  auch  mit  Aufnahme  einzelner 
großer  Güter  des  Staates  oder  der  toten  Hand  zur  Eintragung 
ins  Grundbuch  und  mit  Herstellung  von  Stadtplänen  beschäftigt. 
Ferner  ist  die  geologische  Erforschung  und  die  Herstellung  einer 
geologischen  Karte  so  eifrig  und  erfolgreich  in  die  Hand  ge- 
nommen worden,  daß  heute  schon  Tunesien,  das  vor  15  Jahren 
geographisch  und  geologisch  noch  ganz  unbekannt  war,  besser 
erforscht  ist  als  beispielsweise  etwa  Spanien  oder  die  europäische 
Südosthalbinsel.  Schon  heute  liegt  die  wirtschaftUche  Bedeutung 
dieser  wissenschaftlichen  Arbeiten  klar  zutage.  An  die  geo- 
logische Durchforschung  schließt  sich  unmittelbar  eine  landwirt- 
schaftliche   Bodenuntersuchung    an,    wie    sie   wenige    europäische 


420       

Länder  besitzen.  Durch  zahllose  Bohrungen  ist  die  oberste  Boden- 
schicht etwa  bis  zu  i  m  Tiefe  sorgsam  untersucht  worden.  Die- 
selbe hat  das  Rätsel  der  im  Altertum  so  gerühmten  und  als 
schier  unerschöpflich  erscheinenden  Fruchtbarkeit  des  Landes 
durch  den  Nachweis  eines  fast  überall  vorhandenen  großen  Phos- 
phatgehaltes gelöst.  Durch  die  französische  Marine  ist  femer  die 
ganze  Küste  aufs  sorgsamste  aufgenommen  und  durch  Lotungen 
sind  bis  weit  ins  offene  Meer  hinaus  die  Tiefen  und  die  Be- 
schaffenheit des  Meeresgrundes  erforscht.  An  allen  Punkten,  wo 
es  nötig  schien,  sind  Leuchttürme  errichtet,  Bojen  verankert  und 
sonst  alles  getan,  was  der  Schiffahrt  und  der  Fischerei  in  dieser 
Hinsicht  förderlich  sein  kann,  selbstverständlich  unter  Verwendung 
französischer  Ingenieure  und  französischen  Materials  zu  gunsten 
fast  ausschließlich  der  französischen  Schiffahrt,  aber  auf  Kosten 
des  tunesischen  Staates. 

Bei  der  großen  Wichtigkeit,  die  in  einem  verhältnismäßig 
niederschlagsarmen  Lande  die  Kenntnis  der  klimatischen  Ver- 
hältnisse haben  muß,  wurde  auch  sofort  die  Einrichtung  eines 
meteorologischen  Beobachtungsnetzes  in  Angriff  genommen.  Eine 
meteorologische  Kommission  hat  2 1  gut  über  das  ganze  Land 
verteilte  Stationen  eingerichtet,  von  denen  heute  bereits  zum 
großen  Teil  zehnjährige  Beobachtungen  vorliegen,  die  somit  ein 
in  den  großen  Zügen  richtiges  Bild  des  Klimas,  aber  ganz  be- 
sonders der  Niederschlagsverhältnisse  zu  entwerfen  gestatten. 
Damit  ist  landwirtschaftlichen  Unternehmungen  der  unentbehrliche 
Anhalt  geboten,  zugleich  aber  auch  das  Verständnis  für  die 
Landesnatur  vertieft  worden.  Es  hat  sich  dabei  beispielsweise 
ergeben,  daß  im  Krumirgebirge  an  der  Nordküste,  wo  die  Fran- 
zosen in  805  m  Höhe  in  Ain  Draham  ein  befestigtes  Lager  er- 
richtet haben,  die  mittlere  Niederschlagshöhe  1754  mm,  die  Zahl 
der  Tage  mit  Niederschlag  131  beträgt,  jeden  Winter  Schnee 
fällt  und  zuweilen  Yg  "^  hoch  einige  Zeit  liegen  bleibt.  Ihren 
pflanzlichen  Ausdruck  finden  diese  ungewöhnlich  günstigen  Ver- 
hältnisse in  den  dort  noch  erhaltenen  herrlichen  Wäldern.  Jen- 
seits des  Gebirges  sinkt  die  Niederschlagshöhe  freilich  sofort  auf 
etwa  600  mm  und  in  Mitteltunesien  auf  unter  300  mm.  Da  diese 
Niederschläge  überall  auf  wenige  Monate  der  sehr  milden  Winter 
beschränkt  sind  —  der  Januar  hat  in  Tunis  eine  Mitteltemperatur 
von    10"  C,  in  Sfaks  von  10,5*'  C,  in  Gabes  von  11°  C  —  so  gibt 


—       421        — 

es  eigentlich  nur  einen  dauernd  fließenden  Fluß,  den  Med- 
scherda,  doch  führt  der  auch  in  den  Golf  von  Tunis  mündende 
kleine  Wed  Miliane  fast  immer  Wasser,  ebenso  der  mitteltune- 
sische Wed  Zerud,  Die  Beschaffung  von  Wasser  für  Menschen 
und  Tiere  und  zu  Berieselungszwecken  während  der  langen 
Trockenzeit  muß  daher  von  besonderer  Wichtigkeit  sein.  Man 
hat  daher  nicht  nur  bei  der  topographischen  und  geologischen 
Landesaufnahme  den  Flüssen,  Quellen  und  Brunnen  besondere 
Aufmerksamkeit  geschenkt,  sondern  hat  eine  ganz  besondere 
archäologische  Erforschung  des  Landes  in  die  Wege  geleitet,  die 
in  erster  Linie  den  Altertümern  gilt,  insofern  diese  als  Zeugen 
für  die  dichte  Besiedelung  und  den  Reichtum  des  Landes  in 
spätrömischer  Zeit,  besonders  im  3.  und  4.  Jahrhundert  n.  Chr., 
dienen  und  zugleich  einen  Einblick  in  die  Mittel  und  Wege  ge- 
währen können,  auf  denen  diese  Blüte  ermöglicht  wurde.  Vor 
allem  galt  die  Forschung  den  Bewässerungsanlagen  der  Römer, 
auf  die  man  in  der  Tat  überall  stößt,  oft  noch  so  gut  erhalten, 
daß  sie,  wie  die  Wasserleitung  von  Tunis  zeigt,  mit  geringen 
Kosten  wiederhergestellt  werden  können.  Da  ist  nun  fest- 
gestellt worden,  daß  schon  damals  Niederschlagsarmut  herrschen 
mußte,  denn  es  wird  auch  schon  im  Altertum  über  häufige 
Dürre  und  sengende  Winde  geklagt  und  die  erhaltenen  Reste 
zeigen,  daß  man  überaus  sorgsam  alles  Wasser  sammelte,  auf- 
speicherte und  verwertete.  Alle  Gewässer,  auch  die  kleinsten, 
wurden  überwacht  und  geregelt.  Es  gab  sorgsam  ausgearbeitete 
strenge  Gesetze  über  die  Wasserbenutzung,  dieselben  wurden  auf 
Marmortafeln  verzeichnet  und  zu  jedermanns  Einsicht  öffentlich 
angebracht.  Einzelne  sind  uns  daher  erhalten.  Alles  dauernd 
oder  zeitweilig  fließende  Wasser  wurde  hinter  Staudämmen,  oft 
von  gewaltigen  Ausmaßen,  wie  bei  Kasserin,  oder  in  offenen  oder 
bedeckten  Behältern  aufgespeichert.  Vielfach  sind  die  Täler,  in 
denen  nur  nach  heftigen  Winterregen  Wasser  floß,  durch  Quer- 
dämme, hinter  denen  sich  das  Wasser  und  die  fruchtbare  Erde 
sammelte,  förmlich  in  Stufen  zerlegt.  Die  Staudämme  verhinderten 
zugleich  Überschwemmungen  und  Verwüstung  des  angebauten 
Landes. 

So  großartige  Wasserleitungen,  wie  die  von  Karthago,  die 
im  Jahre  117  n.  Chr.  unter  Hadrian  begonnen  und  163  vollendet 
wurde,  war  natürlich  eine  Ausnahme.    Sie  führte  das  Wasser  der 


—       422       — 

starken  Quellen  der  höchsten  Berge  Nordtunesiens,  des  Djebel 
Zaghwan  und  des  Djebel  Djukar,  die  weit  gegen  das  Meer  vor- 
geschoben die  Wasserdämpfe  desselben  verdichten  und  in  den 
Spalten  und  Klüften  ihrer  Kalkfelsen  aufspeichern,  130  km 
vi^eit,  wovon  17  über  hohe  Bogenstellungen,  nach  Karthago  in  die 
zum  Teil  noch  erhaltenen  riesigen  Behälter  von  La  Malka.  Aber 
auch  die  Stadt  Thysdrus,  das  heutige  El  Djem,  35  km  vom 
Meere  in  einer  heute  verödeten  Gegend  des  südlichen  Mittel- 
tunesien, bekannt  durch  ihr  großartiges,  dem  Kolosseum  in  Rom 
nach  seinen  Ausmessungen  nur  wenig  nachstehendes  Amphitheater, 
besaß  eine  Wasserleitung,  die  das  in  der  Umgebung  sorgsam 
durch  unterirdische  Kanäle  abgefangene  Wasser  wie  in  unseren 
heutigen  Städten  den  einzelnen  Privathäusern  zuführte.  Zu  ihrer 
Ergänzung  besaß  sie  aber  noch  zahlreiche  große  Zisternen.  In 
Uthina,  heute  Udna  südlich  von  Tunis,  wurde  alles  Regenwasser 
von  den  Straßen  und  öffentlichen  Plätzen  in  Zisternen  gesammelt, 
deren  noch  jedes  Haus,  ähnlich  wie  in  Jerusalem,  eine  besaß. 
Selbst  an  den  Landstraßen  waren  überall  Zisternen  gegraben,  die 
das  Wasser  in  der  Umgebung  zur  Benutzung  der  Reisenden  und 
ihrer  Tiere  sammelten.  Namentlich  wurden  Felsflächen  für  solche 
Zwecke  benutzt.  Die  römische  Stadt  Vallis  westsüdwestlich  von 
Tunis  gewann  das  unentbehrliche  Wasser,  das  bei  ihrer  Lage  hoch 
am  felsigen  Südhange  des  Djebel  M'rabba,  der  das  obere  Tal  des 
Wed  Melah  beherrscht,  nicht  anders  zu  beschaffen  war,  dadurch, 
daß  alles  Regenwasser,  welches  im  Winter  auf  die  felsigen  Hänge 
des  Berges  fiel,  in  zementierten  Rinnen  einer  dreifachen  Reihe 
zementierter  Sammelteiche  zugeführt  und  von  da  in  die  öffentliche 
Zisterne  der  Stadt  geleitet  wurde,  die  mehr  als  15000  cbm  fassen 
konnte.  Die  sogenannten  Feskias  von  Sfaks,  zum  Teil  bedeckte 
Sammelbecken,  die  bei  heftigen  Regen  vom  Wed  Aguareb  ge- 
füllt werden,  vermögen  18000  cbm  zu  fassen,  das  sogenannte 
Becken  der  Aglabiten  in  Kairuan,  allerdings  eine  Schöpfung  der 
Araber,  vermag  sogar  50000  cbm  zu  fassen.  Dazu  kamen  nun 
zahllose  Brunnen,  namentlich  auf  der  Insel  Djerba,  um  Sfaks  und 
anderwärts,  aus  welchen  das  Wasser  durch  meist  sehr  einfache 
Hebevorrichtungen  mit  Hilfe  von  Kamelen  oder  Eseln  in  Sammel- 
becken emporgehoben  und  aus  diesen  durch  die  Gärten  geleitet 
wird  und  in  römischer  Zeit  noch  mehr  geleitet  wurde.  An  Quellen 
im  allgemeinen  nicht  reich,  ist  Tunesien  doch  an  warmen  Quellen 


—     423     — 

nicht  gerade  arm,  von  denen  viele  noch  heute  die  Trümmer 
römischer  Bade-  und  Berieselungsanlagen  erkennen  lassen.  Heute 
meist  unbenutzt,  dienten  sie  noch  den  Arabern  zu  Badezwecken, 
wie  schon  die  häufigen  mit  Hammam  (=  Bad)  gebildeten  Orts- 
namen zeigen.  Auch  hier  handelt  es  sich  um  noch  ungehobene 
Schätze.  Namentlich  dürfte  die  Oase  Gafsa,  die  ja  in  kürzester 
Zeit  von  Sfaks  aus  mit  der  Eisenbahn  zu  erreichen  sein  (tatsäch- 
lich heute  erreicht)  wird,  mit  Hilfe  ihrer  starken  warmen  Quellen 
bald  zu  einer  ausgezeichneten  Winterstation  werden,  wie  es  Biskra 
in  der  algerischen  Sahara  schon  ist.  Die  Quellen  liefern  täglich 
mehr  als  6000  cbm  Wasser  von  28 — 30"  C,  sind  also  im  Winter 
warm,  im  Sommer  kühl  und  wurden  in  römischer  Zeit  hoch 
geschätzt. 

Unter  so  sorgsamer  Ausnutzung  alles  vorhandenen  Wassers, 
im  Schutze  römischer  Militärstationen,  die  die  Wüstenstämme  zu- 
rückhielten, durch  ein  großartiges  Netz  von  Straßen,  die  von 
Karthago,  Hadrumet  und  Tacape  (Gabes)  ausgingen  und  im  In- 
nern hie  und  da  noch  sehr  gut  erhalten  sind,  war  es  den  rö- 
mischen Ansiedlem  möglich,  immer  tiefer  ins  Innere  vorzudringen, 
das  Land  immer  intensiver  anzubauen  und  in  ein  blühendes 
Kulturland  zu  verwandeln.  Es  muß  im  dritten  und  vierten  Jahr- 
hundert nach  Christus  ganz  Nord-  und  Mitteltunesien  so  dicht 
bevölkert  gewesen  sein,  wie  heute  die  besten  ackerbauenden 
Gegenden  Mitteleuropas.  Um  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts 
zählten  Städte,  die  noch  zur  Zeit  der  Antonine  gar  nicht  vorhanden 
gewesen  waren,  wie  Thelepte,  dessen  Trümmer  nahe  bei  dem 
heutigen  armseligen  Oasenörtchen  Feriana  liegen,  Ammaedara, 
das  heutige  Haidra,  Cillium  (Kasserin),  Suffetula  (Sbeitla)  20 — 60000 
Einwohner.  Ihre  großartigen  Trümmer  mit  zum  Teil  wohl  erhal- 
tenen Resten  von  Tempeln,  Kirchen,  Theatern,  Amphitheatern, 
Hippodromen,  Mausoleen,  Triumphbogen  und  dergleichen  liegen 
in  einer  Gegend,  in  der  man  noch  1886  tagelang  reiten  konnte 
und  vermutlich  noch  heute,  abgesehen  von  den  neuerrichteten 
befestigten  Karawansereien,  reiten  kann,  ohne  auch  nur  ein  be- 
wohntes Haus  zu  finden.  Wohl  aber  begegnet  man  auf  Schritt 
und  Tritt  den  Trümmern  von  Städten,  Dörfern,  Meierhöfen,  Öl- 
mühlen und  dergleichen.  Mit  herrlichen  Skulpturen  geschmückte 
Grabmäler  erheben  sich  in  öder  mit  Gestrüpp  und  Unkraut  be- 
deckter  Steppe.     Wo    einst   viele   Hunderttausende   hochgesitteter 


—     424     — 

Menschen  in  Wohlstand  lebten,  da  finden  heute  etwa  1500 
Nomaden  des  arabisierten  Berberstammes  der  Freschisch,  deren 
Gastfreundschaft  ich  genoß,  mit  ihren  Herden  dürftigen  Unterhalt. 
Wie  dicht  diese  Gegenden  damals  bewohnt  waren  und 
worauf  diese  Volksdichte  beruhte,  darüber  gewähren  vor  kurzem 
von  den  Franzosen  vorgenommene  Untersuchungen  Aufschluß. 
Ein  französischer  Landmesser  hat  zu  Besiedelungszwecken  eine 
Landfläche  von  2  7  000  ha  in  der  Umgebung  von  Sbeitla,  wo  noch 
heute  großartige  Trümmer  von  entschwundener  Pracht  zeugen, 
vermessen  und  dabei  so  sorgsam  wie  möglich  alle  Reste  des 
Altertums  festgestellt  und  verzeichnet.  Es  ergibt  sich  daraus,  daß 
außer  Sbeitla  in  diesem  Gebiet,  das  also  ungefähr  der  Hälfte 
eines  preußischen  Kreises  mittlerer  Größe  gleichkommt,  noch  drei 
Städte,  15  größere  und  49  kleinere  Wohnplätze  vorhanden  waren. 
Er  zählte  1007  noch  erhaltene  Ölpressen,  während  heute  weit 
imd  breit  nicht  ein  Baum,  geschweige  ein  Ölbaum  zu  sehen  ist. 
Nimmt  man  für  Sbeitla,  sehr  niedrig,  20000  Einwohner  an,  für 
die  anderen  Städte  im  Mittel  etwa  3000,  600  für  die  größeren, 
100  für  die  kleineren  Siedelungen  und  auf  jede  Ölmühle  400 
Ölbäume,  so  standen  auf  dieser  Fläche  etwa  400000  Ölbäume 
und  lebten  dort  43000  Menschen,  also  160  auf  i  qkm.  Es  war 
also  die  Baumzucht,  besonders  die  Olivenzucht,  welche  Mittel- 
tunesien zu  solcher  Blüte  gebracht  hatte.  Ganz  Mitteltunesien 
war  im  Laufe  der  Jahrhunderte,  indem  der  Anbau  immer  weiter 
ins  Innere  und  nach  Süden  vorrückte,  mit  unabsehbaren  Oliven- 
hainen bedeckt  worden  und  mochte  landschaftlich  fast  den  glei- 
chen Eindruck  machen,  wie  die  Halbinsel  des  Kap  Bon,  die 
nach  der  Schilderung,  welche  der  Sizilier  Diodor  bei  Darstellung 
der  Landung  des  Tyrannen  Agathokles  von  Syrakus  gibt,  ein 
ungeheurer  Garten  und  Fruchthain  war,  durch  welchen  die  ein- 
zelnen Häuser  der  Bewohner  verstreut  waren.  Ist  es  doch  noch 
heute  so  auf  der  von  fleißigen  Berbern  bewohnten  Insel  Djerba 
und  in  weiten  Strichen  des  sogenannten  tunesischen  Sahel,  dem 
Küstenlande  Mitteltunesiens,  die  noch  riesigen  Olivenhainen  glei- 
chen. Es  war  in  römischer  Zeit  in  Nord-  und  Mitteltunesien  aller 
schwerer  Boden,  also  die  Täler  und  die  Ebenen,  dem  Weizen- 
bau, aller  leichterer  und  die  Hänge  dem  Ölbaum  in  einer  Aus- 
dehnung gewidmet,  von  der  wir  uns  heute  kaum  eine  Vorstellung 
machen   können,    die   aber   die   ungeheueren   Mengen   Öl   erklär- 


—     425     — 

lieh  machen,  welche  Tunesien  nach  Rom  lieferte.  So  konnten 
die  als  Wüstenbewohner  darüber  erstaunten  Araber  sagen,  ob- 
wohl jene  Blütezeit  längst  vorüber  war,  daß  man  von  Tripolis 
bis  Tanger  im  Schatten  der  Bäume  von  Dorf  zu  Dorf  wandern 
könne. 

Aber  eben  diese  Araber  waren  es,  die  als  Nomaden  Feinde 
des  Anbaues  und  der  Baumzucht  die  schon  durch  die  Kriege 
und  Aufstände  gelichteten  Fruchthaine  vollends  vernichteten. 
Viele  Siedelungen  wurden  zerstört,  die  Bevölkerung  getötet,  die 
Bewässerungsanlagen  verfielen,  das  Land  verödete  allmählich  und 
verfiel  in  den  Zustand,  den  wir  heute  vor  uns  haben  oder  vor 
15  Jahren  vor  uns  hatten.  Diese  Schilderung  von  dem,  was  Tu- 
nesien einst  war,  kann  uns  eine  Vorstellung  von  dem  geben,  was 
es  wieder  werden  kann.  Wir  sehen  also,  daß  durch  Aufspeiche- 
rung imd  peinliche  Ausnutzung  der  Wasservorräte,  wie  Einfüh- 
rung der  geeigneten  Gewächse  ein  Land,  welches  nur  Nomaden 
zu  ernähren  geeignet  erscheint,  von  einer  dichten,  hoch  gesitteten 
Bevölkerung  bewohnt  werden  kann.  Ja,  das  Haurangebiet  Palä- 
stinas, das  in  derselben  Zeit  wie  Tunesien  ein  reiches  Kulturland 
war,  liefert  den  Beweis,  daß  durch  solche  Mittel  sogar  ein  Land, 
das  selbst  für  Nomaden  nur  in  der  niederschlagsreichen  Jahres- 
hälfte bewohnbar  ist,  für  hochgesittete  Menschen  dauernd  be- 
wohnbar gemacht  werden  kann. 

Zur  wirtschaftlichen  Erschließung  des  Landes  galt  es  für  die 
Franzosen  vor  allem  Häfen,  Eisenbahnen,  Straßen  und  ähnliche 
Anlagen  ins  Leben  zu  rufen.  Bei  der  Einrichtung  der  franzö- 
sischen Schutzherrschaft  besaß  Tunesien  nicht  einen  einzigen  den 
Anforderungen  unserer  Großschiffahrt  genügenden  Hafen.  Der 
1886  eingesetzten  Direktion  der  öflfentlichen  Arbeiten  lag  vor 
allem  ob,  diesem  Übelstande  abzuhelfen.  So  wurden  nach  reif- 
lichen Erwägungen,  ob  man  den  Hafen  von  Tunis  vor  Goletta, 
das  bis  dahin  den  Seeverkehr  durch  seine  wenig  geschützte  Reede 
vermittelt  hatte,  oder  bei  Tunis  selbst  im  Haflf  anlegen  solle,  die 
Arbeiten  an  letzterem  Punkte  begonnen.  Entscheidend  war  dafür 
wohl  die  Erwägung,  daß  ein  so  gleichsam  im  Innern  des  Landes 
gelegener  Hafen  auch  von  einer  überlegenen  Flotte  nicht  ge- 
fährdet werden  könne.  Hinzu  kam  der  Vorteil  von  Tunis,  dessen 
europäische  Entwickelung  dadurch  naturgemäß  gefördert  werden 
mußte,  und  die  Schädigung  der  Goletta  mit  Tunis  verbindenden 


—     426     — 

Eisenbahn,  die  bis  dahin  den  ganzen  Verkehr  zu  bewältigen  ge- 
habt hatte.  Dieselbe  ist  nämlich  in  italienischem  Besitz  und  war 
mit  keinem  Mittel  zu  beseitigen  gewesen.^)  So  gelangen  heute 
auch  größere  Mittelmeerdampfer  auf  einem  8  km  langen,  6,5  m 
tiefen  Kanäle,  der  in  dem  seichten  Haflf  ausgehoben  worden  ist, 
bis  in  den  Hafen  von  Tunis  selbst,  dem  die  europäische  Neustadt 
rasch  entgegenwächst.  Goletta  ist  zu  einem  Seebadeorte  herab- 
gesunken. Dient  der  Hafen  von  Tunis  nur  dem  friedlichen  Ver- 
kehr, so  ist  der  von  Biserta  zum  großen  Kriegshafen,  einem  der 
besten  der  Welt,  bestimmt.  Seine  geographische  Lage  an  einer 
flachen,  leidlichen  Schutz  bietenden  Bucht  dicht  an  der  Nord- 
spitze Afrikas,  an  der  Straße  von  Pantelleria,  also  in  einer 
Flankenstellung  zur  wichtigsten  Welthandelsstraße  zwischen  Gibral- 
tar und  Malta,  Sizilien,  Sardinien  und  dem  Tyrrhenischen  Meere 
gegenüber,  die  von  hier  aus  die  Karthager,  die  Vandalen,  die 
Araber  beherrscht  haben,  fast  in  der  Mitte  des  Mittelmeers,  in 
kaum  40  Stunden  von  Toulon  erreichbar,  ist  eine  ausgezeichnete. 
Ein  nächster  Krieg,  der  notwendig  Italien  an  Englands  Seite 
finden  wird,  wird  die  große  Bedeutung  von  Biserta  erweisen.  An 
diesem  Punkte  führt  ein  enger  natürlicher  Kanal  in  einen  weiten 
und  tiefen  See,  der  seinerseits  noch  den  Abfluß  einen  zweiten 
noch  weiter  landeinwärts  gelegenen  aufnimmt.  Dieser  Kanal  war 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  mit  dem  Schutt  und  Unrat  der  Stadt, 
der  schon  in  punischer  und  römischer  Zeit  eine  große  Rolle 
gespielt  hatte,  angefüllt  worden  und  war  nur  noch  für  kleine 
Fahrzeuge  fahrbar.  Statt  ihn  zu  reinigen,  schien  es  vorteilhafter, 
einen  neuen  Kanal  von  9  m  Tiefe  und  64  m  Breite^)  geradeaus 
in  den  See  zu  graben,  der  nun  einen  den  größten  Kriegsschiffen 
zugänglichen,  ungeheueren,  durchaus  sicheren  und  unangreifbaren 
Hafen  bildet,  der  jetzt  stark  befestigt  und  mit  Docks  und  an- 
deren Anlagen  für  die  Kriegsmarine  versehen  wird.  Zwei  je 
1000  m  lange  Dämme  bilden  an  der  äußeren  Mündung  des 
Kanals  einen  Vorhafen.  Eine  Eisenbahn,  von  welcher  unmittel- 
bar die  Waren  in  die  Schiffe  verladen  werden  können,  verbindet 
bereits  Biserta  mit  Tunis.  Dasselbe  könnte  sich  so  auch  zum 
Handelshafen    entwickeln,     wird    aber    vorzugsweise    der    Beherr- 


1)  Sie  ist  seitdem  in  französische  Hände  übergegangen. 

2)  Siehe  den  folgenden  Aufsatz. 


—     427     — 

schung  des  Mittelmeeres  durch  Frankreich  und  in  erster  Linie 
als  Trutz-INIalla  dienen.  Einfachere  Hafenanlagen  sind  in  Susa 
und  Sfaks  geschaffen  worden.  Ein  ähnlich  wie  Biserta  der  An- 
legung eines  Kriegshafens  günstiger  Punkt,  auf  den  schon  mehr- 
fach hingewiesen  worden  ist,  findet  sich  bei  Zarzis  nahe  der 
Grenze  von  Tripolitanien.  Es  ist  damit  allen  Bedürfnissen  der 
Gegenwart  genügt.  Diese  Hafenbauten  haben  mehr  als  40  Mill. 
Eres,  gekostet,  die  der  tunesische  Staat  aufgebracht  hat.  Selbst- 
verständlich sind  dabei  nur  französische  Ingenieure  und  soweit 
wie  möglich  französisches  Material  verwendet  worden.  Und  da 
der  Seeverkehr  Tunesiens  schon  beinahe  ein  Monopol  Frankreichs 
geworden  ist,  so  kommen  diese  Anlagen  nur  dem  Wirtschafts- 
leben Frankreichs  zugute. 

Die  Hafenbauten  mußten  notwendig  durch  Straßen  und 
Eisenbahnen  ergänzt  werden.  Sofort  nach  der  Besetzung  nahm 
Frankreich  auch  dies  in  Angriff.  Wie  man  das  von  Algerien 
gewohnt  ist,  wurden  zunächst  Soldaten  zum  Straßenbau  verwendet. 
Von  großer  Wichtigkeit  ist  dabei,  daß  das  Gelände  fast  gar 
keine  Schwierigkeiten  bietet;  es  sind  keine  großartigen,  kost- 
spieligen Brücken  über  die  Flüsse  zu  bauen,  da  solche  fast  nicht 
vorhanden  sind;  keine  hohen  Gebirge  sind  mühsam  in  Tunnels 
zu  durchbohren  und  dergleichen  mehr.  In  Mittel-  und  Südtunesien 
namentlich  sind  die  Geländeschwierigkeiten  so  geringe,  daß  man 
nur  Wagen  herbeizubringen  brauchte ,  mit  denen  man  ohne  jede 
Wegebahnung  sofort  durch  die  Steppen  und  Wüsten  fahren 
konnte.  Schon  1886  fand  ein  großer  Teil  der  Warenbeförderung 
auf  leichten  Karren  von  Tunis,  Sfaks  oder  Gabes  aus  bis  in  die 
Oase  Gafsa  und  in  die  des  Beled  el  Djerid  statt.  Dort  im  Süden 
galt  es  nur  für  Wasserstationen  und  Karawanserais  zu  sorgen. 
Und  das  ist  auch  sehr  bald  geschehen.  Auf  den  Linien  von 
Sfaks  und  Gabes  nach  Gafsa  und  Tozer  sind  solche  meist  in 
einem  Abstände  von  40  km  errichtet  worden.  Da  diese  Kara- 
wanserais meist  als  sogenannte  Bordj,  d.  h.  Mauervierecke  mit 
nur  einer  (Tor-)  Öffnung,  alle  Räume  nur  von  innen  zugänglich, 
also  als  kleine  Festungen  an  den  Wasserstellen  errichtet  sind,  so 
wäre  es  im  Falle  von  Unruhen  nur  nötig,  sie  mit  Besatzungen 
zu  versehen,  um  im  Besitze  der  Wasserstellen  jeden  Widerstand 
unmöglich  zu  machen.  Auch  die  sehr  geringen  Löhne,  die  den 
Arbeitskräften,  sowohl  den  einheimischen,  wie  den  sich  in  Menge 


—       420        — 

anbietenden  Italienern  gezahlt  werden,  erleichtern  die  Sache.  So 
waren  bis  Ende  1896  bereits  1400  km  Kunststraßen  hergestellt, 
die  man  vorher  in  Tunesien  kaum  gekannt  hatte.  Diese  haben 
nur  13  Millionen  Frcs.  gekostet,  die  natürlich  die  tunesische  Ver- 
waltung aufgebracht  hat.  Mit  noch  weiteren  3 — 4  Millionen  Frcs. 
wird   allen  Bedürfnissen  der  Gegenwart  genügt  sein. 

Von  Eisenbahnen  war  die  nur  34  km  lange,  aber  sehr 
wichtige  italienische  Linie  von  La  Goletta  und  La  Marsa  vor- 
handen, dazu  die  französische  Linie  von  Tunis  durch  das  Med- 
scherdatal  nach  Algerien.  An  diese  gliedern  sich  heute  bereits 
zahlreiche  Abzweigungen  und  Anschlußlinien  an  nach  Biserta, 
Zaghuan,  Susa  usw.  Es  waren  Ende  1896  bereits  499  km  im 
Betriebe,  zu  denen  in  kürzester  Zeit  noch  176  weitere  hinzu 
kommen  sollten.  Namentlich  ist  auch  hier  schon  auf  die  wich- 
tige Linie  von  Sfaks  über  Gafsa  in  das  Gebiet  der  Phosphat- 
gruben hinzuweisen.  In  Tunis  ist  bereits  eine  Straßenbahn  vor- 
handen. Telegraphenlinien  von  2500  km  Länge  durchziehen  das 
ganze  Land,  ein  regelmäßiger  Postdienst  bis  in  die  entlegensten 
Orte  ist  eingerichtet,  ein  eigenes  Kabel  verbindet  seit  1893  Tunis 
mit  Marseille! 

Zur  wirtschaftlichen  Erschließung  des  Landes  gehört  vor 
allem  auch  die  Wasserversorgung,  zunächst  wenigstens  der  Städte. 
Schon  die  Rücksicht  auf  die  französischen  Truppen,  Beamten 
und  Ansiedler,  die  doch  zunächst  sich  den  Städten  zuwenden, 
erfordert  dies.  Die  wichtigste  Anlage  dieser  Art,  die  Wasser- 
versorgung von  Tunis,  fällt  allerdings  schon  in  eine  frühere  Zeit, 
ist  aber  auch  eigentlich  das  Werk  eines  Franzosen,  des  General- 
konsuls L6on  Rocher.  Unter  dessen  Einfluß  wurde  1861  unter 
einem  Kostenaufwande  von  13  Millionen  Frcs.  die  alte  römische 
Wasserleitung  von  Zaghuan  her  bei  Tunis  wiederhergestellt.  Die 
französische  Verwaltung  hat  seitdem  für  gute  Unterhaltung  und 
Verbesserung  der  Leitung  gesorgt,  so  daß  Tunis  und  Umgebung 
heute  wohl  unter  allen  Städten  Afrikas  die  am  reichlichsten  mit 
vortrefflichem  Trinkwasser  versehene  ist.  In  ähnlicher  Weise  sind 
seit  1881  auch  Biserta,  Kef,  Kairuan,  Susa,  Sfaks  und  andere 
Orte  mit  Wasser  versehen  worden,  auch  vielfach  unter  Wieder- 
herstellung römischer  Anlagen.  In  der  heiligen  Stadt  Kairuan  ist 
nicht  nur  das  Becken  der  Aglabiten  wieder  in  guten  Zustand 
versetzt,    sondern    auch    das  Wasser  der  Quellen   von  Cherichera 


—     429     — 

in  30  km  langer  Leitung  herbeigeführt  werden.  Es  ist  daher 
nur  ein  Aufwand  von  6  Millionen  Frcs.  nötig  gewesen.  Dazu 
hat  die  französische  Verwaltung  der  Oase  Gabes  1894  durch  ein 
neues  Stauwerk  im  Wed  Gabes  größere  Wassermengen  zur  Ver- 
fügung gestellt.  Andere  Arbeiten  ähnlicher  Art  müssen  aber 
dort  und  anderwärts  nachfolgen,  denn  noch  bleibt  ^^  der  vor- 
handenen Wasservorräte  unbenutzt.  Es  ist  also  noch  eine  große 
Erweiterung  der  Dattelhaine  möglich.  Wie  es  in  Algerien  mit  so 
großem  Erfolge  geschehen  ist,  so  haben  auch  in  der  Umgebung 
der  Kleinen  Syrte  und  auf  der  Insel  Djerba  künstliche  Brunnen- 
bohrungen stattgefunden  und  finden  solche  noch  immer  statt. 
Ein  Erfolg  ist  nicht  ausgeblieben,  wenn  er  auch  bisher  noch 
nicht  besonders  hervortritt.  Die  großen  Wassermassen,  welche 
der  Medscherda,  der  zehn  Monate  im  Jahre  ein  breiter  und  tiefer 
Strom  ist  und  auch  bei  niedrigstem  Stande  noch  2  cbm  Wasser 
in  der  Sekunde  führt,  dem  Meere  mitten  durch  fruchtbares  Allu- 
vialland dem  Meere  zuwälzt,  sind  heute  noch  so  gut  wie  unbe- 
nutzt. Sie  vermögen  aber  ein  weites  Gebiet  von  Nordtunesien 
in  einen  Garten  zu  verwandeln.  Bei  Djedeida  könnten  unter 
Benutzung  alter,  wohl  römischer  Stauwerke  4500  ha,  bei  Teburha 
7 — 8000  ha  berieselt  werden. 

Es  sind  femer  zahlreiche  Bauten  für  die  verschiedensten 
Zweige  der  Verwaltung  errichtet  worden:  für  die  Post-  und  Tele- 
graphenverwaltung, für  den  Zoll-  und  Steuerdienst,  Gendarmerie- 
posten, Gefängnisse,  Schlachthäuser  und  dergleichen  mehr.  Die 
Städte  sind  kanaUsiert,  die  Straßen  gepflastert,  zum  Teil  sogar 
schon  mit  Bäumen  bepflanzt  worden.  Es  ist  für  Straßenreinigung 
gesorgt  worden  und  dergleichen  mehr.  Es  leuchtet  ein,  daß 
durch  alle  diese  Maßregeln  auch  die  öffentliche  Gesundheit  ganz 
außerordentlich  gefördert  worden  ist. 

Alle  diese  Arbeiten  haben  die  verhältnismäßig  geringe  Summe 
von  1 50  Millionen  Frcs.  erfordert !  Und  diese  ist  nicht  etwa 
durch  Anleihen,  auch  nicht  durch  erhöhte  Steuern  aufgebracht 
worden,  sondern  sogar  unter  Erleichterung  derselben,  nur  durch 
geordnete  Verwaltung  aus  den  regelmäßigen  Einnahmen!  Da- 
durch sind  Überschüsse  erzielt  worden,  die  in  einzelnen  Jahren 
30  Millionen  Frcs.  erreicht  haben.  Die  Summen,  welche  im 
Budget  Frankreichs  auf  Tunesien  kommen,  sind  ledigUch  der 
Eroberung    des    Landes    und    der   Unterhaltung    des    Besatzungs- 


—      430     — 

heeres  zuzuschreiben,  das  natürlich  auch  sonst  unterhalten  wer- 
den müßte.  Die  tunesische  Staatsschuld  war  durch  Anleihen 
und  unglaubliche  Verschleuderungen  von  1 2  Millionen  Frcs.  im 
Jahre  1860  auf  160  Millionen  im  Jahre  1870  gestiegen.  Da- 
durch in  erster  Linie  ist  das  Land  um  seine  Selbständigkeit  ge- 
kommen. Frankreich  hat  die  Finanzen  von  Tunesien  durch  An- 
leihen und  Umwandlungen,  die  natürlich  alle  dem  französischen 
Geldmarkte  zugute  kamen,  in  einer  Weise  geordnet,  daß  dies 
Land,  das  schließlich  überhaupt  kein  Geld  mehr  geliehen  erhielt, 
heute  nur  noch  3^^  Zinsen  zu  zahlen  braucht!  Auch  das  Münz- 
wesen ist  europäisiert  worden.  Das  Meter-  und  Dezimalsystem 
ist  eingeführt  worden,  alles  Maßregeln,  die  natürlich  der  wirt- 
schaftlichen Betätigung  der  Franzosen  höchst  förderlich  sind. 

In  dieser  Weise  ist  also  ein  neuer  wirtschaftlicher  Auf- 
schwung Tunesiens  angebahnt  worden,  der  schon  heute  überall 
erkennbar  ist.  Selbstverständlich  ist  es  die  Nation ,  die  die  Ge- 
fahr auf  sich  genommen,  die  die  Arbeit  geleistet  hat,  die  nun 
auch  die  Früchte  erntet. 

Tunesien  ist,  wie  wir  sahen,  in  erster  Linie  ein  Land  des 
Ackerbaues.  Wenden  wir  uns  daher  zunächst  den  landwirtschaft- 
Uchen  Unternehmungen  der  Franzosen  zu.  Hier  galt  es  vor 
allem  Klarheit  und  Rechtssicherheit  in  die,  wie  in  allen  moham- 
medanischen Ländern,  so  auch  hier  sehr  verwickelten  Besitzver- 
hältnisse zu  bringen,  schon  um  Reibungen  und  Unzufriedenheiten 
vorzubeugen.  Es  galt  festzustellen,  was  Privat-,  was  Staats-,  was 
Besitz  frommer  Stiftungen  ist.  Damit  ist  erfolgreich  begonnen 
worden.  Ununterbrochen  werden  Güter  vermessen  und  ins  Grund- 
buch eingetragen.  Namentlich  ist  eine  Behörde  geschaffen 
worden,  deren  Entscheidungen  entgültige  sind  und  klare  Ver- 
hältnisse schaffen.  Auch  hat  man  angefangen  in  der  Umgebung 
von  Tunis  die  Güter  der  toten  Hand,  die  unveräußerlich  sind, 
in  Rentengüter  umzuwandeln.  Der  Staat  läßt  zu  Landkaufs- 
zwecken unentgeltlich  Analysen  von  Bodenproben  vornehmen.  So 
ist  der  europäische,  d.  h.  französische  Grundbesitz  sehr  rasch 
gestiegen:  Ende  1896  waren  bereits  450000  ha  in  europäischen, 
d.  h.  zu  90^0  in  französischen  Händen.  Und  schon  sind  es  nicht 
bloß  reiche  Privatleute,  Banken  und  Gesellschaften,  welche  Land 
kaufen,  sondern  es  entwickelt  sich  schon  mittlerer  und  kleiner 
Besitz.     Ja,  man  kauft  schon  Grundbesitz,   der  in  Fülle  angeboten 


—     431     — 

wird,  und  läßt  ihn  ganz  in  der  bisherigen  Weise  von  Eingeborenen 
bewirtschaften.  Damit  erzielt  man  noch  immer  eine  Verzinsung 
des  Kapitals  zu  s'^/q,  gegen  3°/o  oder  weniger  in  Frankreich,  un- 
gerechnet die  natürliche  Wertsteigerung.  Diese  letztere  ist  eine 
rasche  und  bedeutende.  Während  man  15  km  von  Tunis  an- 
fangs der  achtziger  Jahre  den  Hektar  guten  Landes  für  100  Frcs., 
25  km  von  Tunis  für  50  Frcs.  kaufen  konnte,  muß  man  jetzt  im 
Umkreise  von  25  km  bereits  300  —  500  Frcs.  zahlen.  Etwas 
weiter  ins  Innere  ist  aber  noch  immer  gutes  Land  zu  25  Frcs. 
zu  haben.  Naturgemäß  erwerben  Franzosen  vorzugsweise  in  Nord- 
tunesien Grundbesitz,  aber  auch  in  der  Umgebung  von  Sfaks 
mehren  sich  die  französischen  Grundbesitzer  rasch.  Man  zählt 
bereits  800  europäische  Grundbesitze.  Davon  sind  einzelne  von 
ungeheuerer  Größe.  Das  vielbesprochene  Enfidagut  am  Golf  von 
Hammamet  umfaßt  allein  gegen  10  000  ha  und  einzelne  Güter 
haben  Anlagesummen  bis  zu   2   Millionen  Frcs.  erfordert. 

Anfangs  warfen  sich  die  Franzosen  auf  den  Weinbau.  Mit 
fieberhaftem  Eifer  sah  man  1886  in  Nordtunesien  unter  großen 
Kosten  überall  das  Land  zu  Weinbau  herrichten.  Die  dem 
Weinbau  gewidmete  Fläche  ist  schon  auf  6000  ha  gestiegen  und 
das  darin  angelegte  Kapital  wird  zu  25  Millionen  Frcs.  berechnet. 
Freilich  hat  man  zunächst  nur  Enttäuschungen  mit  dem  Weinbau 
erfahren,  da  bisher  nur  gewöhnliche  Rotweine  erzielt  werden 
und  die  Entwickelung  des  tunesischen  Weinbaus  mit  dem  Wieder- 
erstarken desselben  in  Frankreich  zusammenfiel.  Bessere  Aus- 
sichten bietet  aber  die  jetzt  im  Vordergrunde  stehende  Oliven- 
zucht, die  allerdings  gegen  10  Jahre  erfordert,  ehe  die  Bäume 
zu  vollem  Ertrage  kommen.  Sie  tragen  dann  aber  geradezu 
jahrhundertelang  und  um  Sfaks  gibt  es  Pflanzungen,  wo  ein 
Baum  15 — 25,  ja  bis  zu  40  Frcs.  jährlich  abwirft.  Tunesien  ist 
sozusagen  das  Olivenland  schlechthin.  Wie  es  im  Altertume  un- 
gemessene Mengen  Öl  nach  Rom  lieferte,  so  ist  Olivenöl  auch 
noch  heute  eines  der  wichtigsten  Erzeugnisse  Tunesiens.  Man 
schätzt  die  Zahl  der  Ölbäume  auf  11  — 12  Millionen^),  ihren  Er- 
trag, trotz  ungeeigneter  Behandlung  des  Öls,  auf  25  Millionen 
Frcs.  Der  tunesische  Sahel,  das  Küstengebiet  um  Susa,  Monastir, 
Mahedia  bildet  auf  Hunderte  von  Quadratkilometern  einen  lichten 


I)   1901   waren  es  bereits  20  Millionen. 


—     432      - 

Hain  von  Ölbäumen.  Auch  pflegen  hier  die  Eingeborenen  den 
Ölbaum  in  so  ausgezeichneter  Weise  ,  wie  sonst  nirgends  in  den 
Mittelmeerländern.  Die  Art  und  Weise  den  Baum  zu  pflanzen, 
zu  düngen,  zu  beschneiden,  den  Boden  zu  bearbeiten,  —  min- 
destens fünfmal  im  Jahre!  —  wie  sie  sich  durch  Erfahrung  im 
Laufe  von  Jahrhunderten  in  der  Umgebung  von  Sfaks  entwickelt 
hat,  ist  mustergültig.  Hier  geht  auch  immer  mehr  Olivenland  in 
französische  Hände  über,  namentlich  seit  der  ungeheuere  Land- 
besitz der  Familie  Siala  zu  Staatsgut  gemacht  worden  ist  und 
von  der  Regierung  der  Hektar  zu  lo  Pres,  verkauft  wird  unter 
der  Bedingung,  daß  er  binnen  vier  Jahren  mit  Ölbäumen  bepflanzt 
ist.  So  sind  seit  1892  bereits  72000  ha  verkauft  worden.  Dazu 
halte  man  sich  gegenwärtig,  daß  so  ziemlich  ganz  Nord-  und 
Mitteltunesien  mit  Ölbäumen  wieder  bepflanzt  werden  kann  und 
daß  ein  Hektar  Land,  der  heute  als  Weideland  in  Nordtunesien 
20  Frcs.,  in  Mitteltunesien  10  Pres,  kostet,  mit  Ölbäumen  be- 
standen 700 — 800  Pres,  wert  ist.  Eine  so  riesige  Wertsteigerung 
bewirkt  dieser  edle  Fruchtbaum!  Derselbe  bringt  hier  überdies 
Früchte  hervor,  deren  Fettgehalt  größer  ist  als  irgendwo  und  von 
Norden  nach  Süden  zunimmt.  Während  derselbe  in  der  Provence 
selten  zo^j^  erreicht  und  auf  13%  herabgeht,  auch  in  Bari  nur 
20 — 2T)^/q  beträgt,  steigt  er  in  Tunesien  bis  auf  3i7o'-  Hier  ist 
also  ein  ungeheures  Feld  gewinnreicher  Betätigung  für  franzö- 
sische Landwirte  und  Geldleute!  Diese  haben  auch  bereits  an- 
gefangen die  minderwertigen  Verfahren  der  Eingeborenen  bei  der 
Ölbereitung  durch  das  in  der  Provence  eingebürgerte  und  durch 
vervollkommnete  Maschinen  zu  ersetzen.  Es  waren  bis  Ende  1896 
bereits  125  französische  Ölfabriken  mit  18  Dampfmaschinen  und 
532   französische  Ölpressen  in  Betrieb. 

An  die  Olivenhaine  ist  noch  heute  die  größte  Volksdichte 
in  Tunesien  gebunden.  Im  sogenannten  Sahel  allein  wohnen 
etwa  150000  Menschen,  d.  h.  200  —  250  auf  i  qkm,  V4  der  Be- 
wohner sitzen  überhaupt  in  einem  schmalen  Küstengürtel.  Das 
Innere  dagegen ,  das  ebenso  oder  annähernd  ebenso  dicht  be- 
wohnt sein  könnte,  ist  sehr  dünn  von  Nomaden  oder  Halbnomaden, 
in  Zelten  oder  Reisighütten  (Gurbis)  etwa  drei  Köpfe  auf  i  qkm, 
bewohnt.  Nach  einer  1890  von  der  französischen  Heeresverwal- 
tung durchgeführten  Aufnahme  gab  es  in  Tunesien  138000  Woh- 
nungen, von  denen   57000  Häuser,    81  000  Zelte   waren.     Feste 


—     433     — 

Dörfer  findet  man  im  baumarmen  oder  baumlosen  Innern  sehr 
selten  und  nur  im  Gebirge,  wo  sich  die  Berbern  noch  in  ihrer 
Eigenart  behauptet  haben.  Erst  im  Süden,  im  Gürtel  der  Oasen, 
überwiegen  feste  Siedelungen,  die  man  der  Zahl  der  Bewohner 
nach  meist  als  Städte  bezeichnen  würde. 

In  ähnlicher  Weise  haben  die  Franzosen  auch  bereits  in 
Südtunesien  den  Anfang  mit  der  Zucht  der  Dattelpalme  gemacht, 
die  dort  die  vorzüglichsten  Datteln  liefert.  Heißt  doch  ein  Teil 
desselben  geradezu  das  Dattelland.  Hier  können  die  Erfahrungen, 
die  bei  der  Anpflanzung  von  Palmenoasen  im  südlichen  Algerien 
gemacht  worden  sind,  sofort  verwertet  werden.  Nur  daß  die 
südtunesischen  Dattelhaine  näher  am  Meere  liegen,  die  Datteln 
also  ausfuhrfähiger  sind.  Die  Aufnahmefähigkeit  des  Weltmarkts 
für  diese  wohlschmeckenden  und  nahrhaften  Früchte  ist  heute 
noch  sozusagen  unbegrenzt,  während  das  tunesische  Olivenöl  erst 
das  italienische  und  spanische  wird  zurückdrängen  müssen.  Die 
Süd-  und  zum  Teil  schon  die  mitteltunesischen  Steppen  liefern 
auch  bedeutende  Mengen  des  Haifagrases,  dessen  Ausbeutung 
heute  auch  im  wesentlichen  aus  englischen  in  französische  Hände 
übergegangen  ist! 

Wie  im  Altertum,  so  ist  auch  heute  noch  Tunesien  ein  aus- 
gezeichnetes Weizenland.  Auch  da  hat  bereits  die  französische 
Unternehmung  eingesetzt  und  erzielt  naturgemäß  weit  höhere  Er- 
träge wie  die  Eingeborenen  mit  ihren  schlechten  Geräten  und 
veralteten  Verfahren.  Für  die  Zucht  von  Frühgemüsen  sind  die 
Bedingungen  sehr  günstige.  Kartoffeln  geben  unter  künstlicher 
Bewässerung  drei  Ernten  im  Jahr.  Die  Regierung  fördert  diese 
Bestrebungen  eifrig  und  erfolgreich,  namentlich  durch  einen  neu 
angelegten  Versuchsgarten,  von  welchem  freigebig  Pflanzen  ab- 
gegeben werden.  Auch  die  von  den  Eingeborenen  sehr  urtüm- 
lich betriebene  Viehzucht  erweist  sich  nach  einzelnen  Versuchen 
als  sehr  lohnend. 

An  Wäldern  ist  Tunesien  trotz  weit  fortgeschrittener  Ver- 
wüstung nicht  so  arm,  wie  es  auf  den  ersten  Blick  scheint.  Es 
ist  eine  geordnete  Forstverwaltung  eingerichtet  worden,  ja  man 
hat  schon  mit  Wiederaufforstung  begonnen.  Ertragreich  sind  von 
der  zu  500000  ha  angenommenen  Waldfläche  zunächst  freilich 
nur  die  herrlichen  Wälder  von  Kork-  und  Zenneichen,  welche 
das  Krumirgebirge ,  also  die  niederschlagsreichste  Gegend  Tune- 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  28 


—     434     — 

siens,  trägt.  Diese  letzteren  vermögen  noch  für  sechs  Jahre  je 
40000  Tonnen  Gerberlohe,  einen  hohen  Prozentsatz  des  euro- 
päischen Gesamtverbrauchs,  hervorzubringen  und  in  wenigen  Jahren 
wird  die  normale  Korkgewinnung  auf  einen  jährlichen  Reinertrag 
von  600000  Frcs.  gestiegen  sein.  Selbstverständlich  handelt  es 
sich  auch  hier  lediglich  um  französische  Beamte  und  Gesell- 
schaften. 

Sehr  wertvolle  Ergebnisse  hat  die  geologische  und  bergbau- 
liche Durchforschung  Tunesiens  gehabt.  Vorkommen  von  Silber, 
Blei,  Zink  und  Eisen  waren  zum  Teil  schon  länger  bekannt,  zum 
Teil  in  Abbau  genommen,  naturgemäß  von  französischen  Gesell- 
schaften unter  Leitung  französischer  Bergleute,  mit  Maschinen  aus 
französischen  Werkstätten.  Die  Arbeiter  sind  allerdings  Italiener 
und  Eingeborene,  da  für  die  ortsüblichen  niederen  Löhne  keine 
Franzosen  zu  haben  sind.  Doch  wird  Tunesien  niemals  ein 
Land  bedeutenden  Erzbergbaus  werden.  Weit  wichtiger  sind  die 
neu  aufgefundenen  Phosphatlager,  im  äußersten  Südwesten  zwi- 
schen Gafsa  und  Tamerza  auf  dem  Staate  gehörigem  Boden, 
andere  auf  dem  westlichen  Hochlande  Mitteltunesiens  bei  Kalaat- 
es-Senam,  Kalaat  Djerda  und  Thala.  Während  aber  die  erst 
1887  bei  Tebessa  in  Algerien  aufgefundenen  bereits  in  Abbau 
genommen  sind  und  reichen  Ertrag  geben,  weil  die  Eisenbahn 
schon  bis  dorthin  vollendet  war,  harren  die  schon  1885  aufge- 
fundenen tunesischen  noch  der  Aufschließung.  Diese  wird  aber 
beginnen,  sobald  die  i8g6  beschlossene  und  begonnene  Eisen- 
bahnlinie Sfaks-Gafsa,  die  so  gut  wie  gar  keine  Geländeschwierig- 
keiten bietet,  vollendet  sein,  wird.^)  Eine  französische  Gesell- 
schaft mit  20  Millionen  Frcs.  Kapital  hat  auf  60  Jahre  die  Aus- 
beutung dieser  bis  60  prozentigen  Phosphatvorkommen,  deren 
Mächtigkeit  mindestens  50  Millionen  Tonnen  beträgt,  und  zu- 
gleich den  Bau  und  Betrieb  der  Eisenbahn  vom  tunesischen  Staate 
übernommen.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  es  sich  um  ein 
sehr  gewinnreiches  Unternehmen  handelt.  Bei  dem  überall  nach- 
gewiesenen starken  Phosphatgehalte  des  Bodens,  der  die  sozu- 
sagen unerschöpfliche  Fruchtbarkeit  desselben  erklärt,  ist  nicht 
ausgeschlossen,  daß  noch  ebenso  wichtige  Vorkommen  aufge- 
funden  werden. 


l)  Sie  ist  schon  in  Betrieb. 


—     435     — 

Eine  weitere  Quelle  des  Reichtums  Tunesiens,  die  eben 
beginnt  auch  in  französische  Taschen  zu  fließen,  ist  die  Fülle 
von  Fischen,  Badeschwämmen,  Edelkorallen  und  anderer  Erzeug- 
nisse, welche  die  Haffe  und  die  Tunesien  umspülende  Flachsee, 
besonders  im  Osten,  hervorbringt.  Sardinen  und  Anchovis  werden 
dort  in  ungeheueren  Mengen  gefangen  und  Franzosen  legen 
immer  mehr  Sardinenfabriken  an  Stelle  der  unvollkommenen  Ver- 
fahren der  Eingeborenen  an.  Ebenso  Salzereien  der  sogenannten 
Alacce,  einer  Sardinenart.  Öl  liefern  die  Olivenhaine,  Salz  die 
Salzgärten  an  der  Küste  selbst.  Auch  einige  große  Thunfische- 
reien, von  denen  hier  mehrere  seit  2000  Jahren  nachweisbar 
an  ein  und  derselben  Stelle  bestehen,  sind  in  französischen  Be- 
sitz übergegangen  oder  von  Franzosen  neu  angelegt  worden. 
Sehr  reich  sind  die  Fischereien  im  See  von  Biserta  und  im  Haff 
von  Tunis  und  beide  werden  bereits  von  französischen  Gesell- 
schaften betrieben.  Die  erstere  sendet  täglich  mehrere  tausend 
Kilo  Fische  in  gefrorenem  Zustande  nach  Marseille.  Die  Fischer 
selbst  sind  Eingeborene  bzw.  die  Schwamm-  und  Korallenfischer 
Italiener  und  Griechen.  Ein  Versuch,  bretonische  Fischer  zur 
Verdrängung  der  Italiener  als  Sardinenfischer  in  Tabarka  anzu- 
siedeln, ist  kläglich  gescheitert.  Die  tunesischen  Fischereien  sind 
aber  noch  einer  großen  Entwickelung  fähig. 

Waren  schon  im  Vorhergehenden  gelegentlich  gewerbliche 
Unternehmungen  französischer  Einwanderer  zu  verzeichnen,  so 
mögen  dem  noch  eine  Reihe  anderer  hinzugefügt  werden,  wie 
sie  vorzugsweise  in  einem  „neuen"  Lande  ins  Leben  zu  rufen 
sind:  Ziegeleien  und  Zementfabriken  für  die  namentlich  in  Tunis 
rege  Bautätigkeit,  Faßfabriken  für  Wein  und  Öl,  Eisfabriken, 
Mühlen,  Seifenfabriken  mit  dem  im  Lande  gewonnenen  Öle,  Gas- 
fabriken —  es  sind  so  ziemlich  noch  alle  tunesischen  Städte  zu 
beleuchten  —  Druckereien,  lithographische  Anstalten,  Parfume- 
rien,  Fabriken  alkoholischer  Getränke  und  dergleichen. 

Der  wirtschaftliche  Aufschwung  des  Landes  in  den  letzten 
15  Jahren  prägt  sich  wohl  am  besten  in  der  Entwicklung  des 
Handels  aus.  Im  Jahre  1875  betrug  der  Gesamthandel  Tune- 
siens, Aus-  und  Einfuhr,  etwas  über  20  Mill.  Eres.!  Im  Jahre 
1894  war  er  auf  78,9,  1895  auf  85,3  Mill.  gestiegen.  Dabei 
geht  derselbe  immer  mehr  in  französische  Hände  über.  Italiener 
und  Engländer  treten  immer  mehr  in  den  Hintergrund.     Die  Er- 


—     436     — 

richtung  einer  Handelskammer  in  Tunis  1885,  die  fast  völlige 
Aufhebung  der  Zollschranken  zwischen  Frankreich  und  Tunesien 
1890,  die  Vermehrung  und  Verbesserung  der  staatlich  unter- 
stützten Dampferverbindungen  hat  hierbei  natürlich  in  hohem 
Grade  fördernd  mitgewirkt.  Naturgemäß  wird  Tunesien  damit 
auch  politisch  immer  enger  an  Frankreich  geknüpft  und  auch  die 
letzten  Zölle  werden  wohl  in  kurzer  Zeit  in  Wegfall  kommen. 
Frankreich  selbst  vermag  die  Nahrungs-  und  Genußmittel,  welche 
Tunesien  fast  allein  ausführt,  bei  weitem  nicht  genügend  hervor- 
zubringen, bezieht  dieselben  also  mit  Vorteil  aus  Tunesien. 
In  welchem  Maße  somit  der  tunesische  Handel  in  französische 
Hände  hinübergleitet,  das  mögen  folgende  Zahlen  veranschau- 
lichen: Der  Anteil  Frankreichs  am  Gesamthandel  Tunesiens  be- 
trug 1885/86,  als  sich  eben  die  neuen  Verhältnisse  geltend  zu 
machen  begannen:  38,8^/0,  Italiens  29,4,  Englands  21,5.  Im 
Jahre  1893  war  das  Verhältnis  bereits  66 yQ,  13%,  i2  7o'  Der 
Anteil  Frankreichs  an  der  Einfuhr  nach  Tunesien  betrug  1894: 
60,  Englands  18,  Italiens  io^/q,  an  der  Ausfuhr:  70,  12,7, 
8,5  y^j.  Über  die  Hälfte  des  tunesischen  Seeverkehrs  liegt  be- 
reits in  französischen  Händen  und  es  ist  nur  noch  eine  Frage 
kurzer  Zeit,  daß  aller  fremde  Wettbewerb  im  Wirtschaftsleben 
Tunesiens  bis  auf  einen  unvermeidlichen  Mindestanteil  beseitigt 
sein  wird. 

Naturgemäß  hat  diese  Umwälzung  auch  eine  relativ  be- 
deutende französische  Einwanderung  zur  Folge  gehabt,  obwohl 
sich  gerade  darin  die  große  Schwäche  Frankreichs,  seine  Kinder- 
armut, am  meisten  offenbart.  £s  darf  allerdings  nicht  verschwiegen 
werden,  daß  die  französische  Regierung,  offenbar  auch  auf  Grund 
in  Algerien  gemachter  Erfahrungen  und  aus  politischen  Gründen, 
sehr  weise  immer  bemüht  gewesen  ist  die  Begehrlichkeit  der 
eigenen  Landeskinder  möglichst  einzudämmen.  Vor  1881  zählte 
man  unter  etwa  20000  in  Tunesien  ansässigen  Europäern,  meist 
Sizilianer  und  Malteser,  nur  einige  hundert  Franzosen.  Im  Jahre 
1895  war  die  Zahl  der  Europäer  nach  Turquan  auf  ca.  75000, 
die  der  Franzosen  und  französischen  Schützlinge  auf  20000  ge- 
stiegen. Nicht  wenige  zur  Entlassung  kommende  Soldaten  lassen 
sich  im  Lande  nieder.  Auch  die  Zahl  der  Italiener  und  Malteser 
ist  rasch  gestiegen,  aber  sie  setzen  sich  fast  nur  aus  Angehörigen 
der  untersten  Schichten  zusammen,    stehen   alle  im  Dienste  fran- 


—     437      — 

zösischen  Kapitals  und  können  nicht  entbehrt  werden,  da  es 
eben  in  Frankreich  an  bilHgen  Arbeitskräften  fehlt.  Die  Ein- 
wanderung erstreckt  sich,  abgesehen  von  wenigen  vereinzelten 
landwirtschaftlichen  Unternehmungen,  bis  jetzt  nur  auf  die  Städte, 
von  denen  namentlich  in  Tunis  sich  rasch  eine  europäische  Stadt 
an  den  orientalischen  Kern  ankristallisiert.  Es  zählt  bereits 
1 40  000  Einwohner.  Dörfer  europäischer  Ackerbauer  gibt  es 
noch  nicht  und  man  würde  es  verstehen,  wenn  die  französische 
Verwaltung,  wie  es  den  Anschein  hat,  die  Bildung  solcher  nicht 
begünstigt. 

Daß  nicht  nur  durch  diese  europäische  Einwanderung,  son- 
dern auch  durch  die  Sicherheit  von  Personen  und  Eigentum  ge- 
währleistende, den  wirtschaftlichen  Aufschwung  fördernde  fran- 
zösische Verwaltung  bereits  eine  bedeutende  Vermehrung  der 
Bevölkerung  eingetreten  ist,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Doch 
fehlt  es  noch  an  sicheren  statistischen  Unterlagen.  Amtlich  wird 
die  Bevölkerung  des  Landes  zu  1,5  Mill.,  15,5  Köpfe  auf 
I  qkm,  angegeben.  Doch  mögen  es  bereits  1,8  Mill.  sein. 
Jedenfalls  ist  der  Volksvermehrung  hier  noch  ein  ungeheurer 
Spielraum  gelassen.  Wir  stehen  nicht  an  zu  behaupten,  daß 
etwa  zwei  Drittel  von  Tunesien,  mindestens  75  000  qkm,  nach 
jenen  Feststellungen  bei  Sbeitla  und  nach  dem  zu  urteilen,  was 
in  ähnlichen  Ländern,  z.  B.  in  Palästina,  dagewesen  ist  und  noch 
heute  möglich  ist,  eine  Verdichtung  der  Bevölkerung  auf  150  Köpfe 
auf  I  qkm  zugänglich  ist,  wie  in  den  ersten  christlichen  Jahr- 
hunderten tatsächlich  eine  derartige  Volksdichte  hier  geherrscht 
hat.  Man  darf  nicht  vergessen,  daß  Baumzucht,  für  welche  sich 
Tunesien  besonders  eignet,  in  den  Mittelmeerländern  eine  sehr 
große  Verdichtung  der  Bevölkerung  herbeizuführen  pflegt,  noch 
weit  mehr  wie  bei  uns  der  Weinbau,  und  daß,  selbst  wo  Weizen 
gebaut  wird,  die  Fruchtbarkeit  so  groß  ist,  daß  man  in  Mittel- 
tunesien, wo  Mißernten,  wie  wir  sahen,  wegen  ungenügender 
Niederschläge  nicht  selten  sind,  sprichwörtlich  sagt,  wenn  in  vier 
Jahren  eine  gute  Ernte  eintrete,  die  Bevölkerung  leben  könne; 
gebe  es  deren  zwei,  so  werde  sie  wohlhabend,  bei  drei  reich! 
Dazu  fällt  schwer  ins  Gewicht,  daß  in  solchem  Klima  die  Be- 
dürfnislosigkeit der  Bevölkerung  überhaupt  sehr  groß  und  be- 
sonders der  Bedarf  an  Nahrung  weit  geringer  ist,  als  in  den 
Ländern    des    Nordens.     Ein    gleich    großes    Stück    gleich   guten 


-     438     - 

Bodens  vermag  also  in  Tunesien  viel  mehr  Menschen  zu  ernähren 
als  etwa  in  Deutschland, 

Man  wird  also  sagen  können,  daß  Tunesien  imstande 
ist  an  Stelle  seiner  heutigen  i,8  Millionen  ii  — 12  Millionen 
weit  wohlhabenderer,  kaufkräftigerer  Bewohner  zu  ernähren. 
Welche  Aussichten  eröffnet  also  eine  glückliche  Kolonialpolitik 
für  Frankreich! 

Trotzdem  oder  vielmehr  infolge  der  überall  hervortretenden 
Klugkeit  und  Mäßigung  hat  die  Annäherung  der  eingeborenen 
Bevölkerung  an  die  neuen  Herren,  die  Anähnlichung,  schon  so 
erkennbare  Fortschritte  gemacht,  daß  der  Gedanke,  es  werde 
Frankreich  einmal  gelingen,  die  Eingeborenen  in  ähnlicher  Weise 
aufzusaugen  und  zu  französieren,  wie  es  den  Römern  gelang,  sie 
zu  romanisieren  und  hier  höchster  römischer  Gesittung  eine  Stätte 
zu  bereiten,  wenigstens  ausgesprochen  werden  kann.  Dazu  wird 
vor  allem  auch  das  französische  Schulwesen  beitragen,  dem  man 
die  größte  Aufmerksamkeit  schenkt,  und  nicht  bloß  der  Staat, 
sondern  auch  die  Privatgesellschaft  der  Alliance  franyaise  pour 
la  propagation  de  la  langue  fran^aise  ä  l'^tranger,  deren  erfolg- 
reiche Wirksamkeit  man  auch  im  Orient  allenthalben  beobachten 
kann.  Wie  beschämend  für  uns  Deutsche  ist  es  dagegen,  daß 
die  verschiedenen  nur  auf  Erhaltung  der  deutschen  Sprache  im 
Auslande  gerichteten  Bestrebungen  so  wenig  Unterstützung  finden! 
Die  wirtschaftlichen  und  politischen  Vorteile,  welche  Frankreich 
im  Orient  von  der  immer  weiteren  Verbreitung  des  Französischen, 
besonders  auf  Kosten  des  Italienischen,  zieht,  sind  für  jeden,  der 
jene  Länder  kennt,  geradezu  handgreifliche.  Eine  große  Zahl 
französischer  Schulen  ist  durch  ganz  Tunesien  errichtet  und  der 
Besuch  steigt  rasch.  In  dem  Institut  de  Carthage  ist  auch  be- 
reits eine  gelehrte  Gesellschaft  erstanden. 

Wir  gelangen  somit  zu  dem  Ergebnis,  das  schon  nach 
1 5  Jahren  Frankreich  und  französische  Staatsbürger  in  Tunesien 
die  Früchte  einer  weisen,  zielbewußten  Kolonialpolitik  zu  ernten 
beginnen,  wenn  dies  auch  nur  die  bescheidenen  Vorzeichen  einer 
hoffnungsreichen  Zukunft  sind.  Schon  heute  erweist  sich  die 
französische  Schutzherrschaft  als  eine  Wohltat  für  das  tunesische 
Volk  und  ist  Tunesien  ein  neuer  Machtfaktor  Frankreichs  im 
Mittelmeer,  ja  es  schickt  sich  an  ein  Faktor  der  Weltmacht 
Frankreichs,    eine    Quelle    des   französischen  Nationalwohlstandes, 


—     439     — 

vielleicht  sogar  eine  Stätte  neuen  jugendfrischen  Aufstrebens  des 
französischen  Volkstums  durch  Zuführung  neuer  Säfte  aus  frem- 
dem Volkstume  zu  werden. 


7.  Tunis,  Biserta  und  Tunesien  im  Jahre  1904.O 

Wie  überall  und  aus  naheliegenden  Gründen  der  wirtschaft- 
liche Aufschwung  und  die  Europäisierung  Tunesiens  unter  dem 
französischen  Protektorate  in  den  Küstenstädten  am  augenfälligsten 
zutage  tritt,  so  ganz  besonders  in  der  Hauptstadt  selbst,  aber 
vielleicht  noch  auffälliger  in  Biserta,  bei  welchem  es  sich  geradezu 
um  eine  großartige  Neugründung  handelt,  Tunis  und  Biserta 
sind  unstreitig  die  geographisch  am  meisten  begünstigten  Punkte 
in  ganz  Tunesien,  ja,  sie  gehören  zu  den  bevorzugtesten  im 
ganzen  Mittelmeergebiete.  Von  Tunis  leuchtet  das  ohne  weiteres 
ein,  denn  nur  die  Gunst  der  Lage  erklärt,  daß  das  phönikische 
Karthago,  auf  seinen  Trümmern  das  noch  größere  römische  zu 
Weltstädten  des  Altertums  aufblühten  und  daß  im  Mittelalter  das 
ganz  binnenländische  Kairuan,  welches  die  noch  nicht  das  Meer 
beherrschenden  Araber  gründeten,  nach  wenigen  Jahrhunderten 
von  Tunis,  ganz  nahe  der  Stätte  von  Karthago  und  mit  seinen 
Trümmern  erbaut,  in  den  Schatten  gestellt  wurde.  Wenn  auch 
die  Stätte  von  Biserta  keine  so  großen  geschichtlichen  Erinne- 
rungen birgt,  da  Plippo  Zaritus,  dessen  Name  selbst  noch  heute 
an  dieser  Stelle  haftet,  nur  die  Bedeutung  einer  Mittelstadt  hatte, 
so  kann  man  doch  schon  heute  fragen,  ob  nicht  Biserta  bei 
seiner  zur  Beherrschung  des  Mittelmeeres  und  den  Anforde- 
rungen des  Welthandels  der  Gegenwart  gegenüber  weit  gün- 
stigeren Lage  in  einer  nicht  fernen  Zukunft  die  Hauptstadt  über- 
flügeln wird. 

Wichtige  Züge  zumal  der  topographischen  wie  der  geo- 
graphischen Lage  beider  Städte  ähneln  einander.  Beiden  ist  die 
Ecklage  und  die  Lage  an  der  das  Südostbecken  des  Mittelmeers 
mit  dem  Nordwestbecken  und  dem  Ozean  verbindenden  Meer- 
enge von  Pantelleria,  also  die  Lage  an  einer  der  wichtigsten 
Welthandelsstraßen  eigen.      Aber  Tunis,  heute  durch  den   Kanal 


i)  Preuß.  Jahrbücher. 


—     440     — 

auch  für  Seeschiffe  von  mäßigem  Tiefgange  (6  m)  unmittelbar  zu- 
gänghch,  liegt  weit  zurück,  im  tiefsten  Hintergrunde  seines  Golfes 
und  Haffs,  etwas  abseits  der  Straße,  was  für  den  Weltverkehr  der 
Gegenwart  den  Verlust  kostbarer  Zeit  bedingt,  während  Biserta 
an  der  Straße  selbst  und  zugleich  auf  der  Grenze  des  Tyrrhe- 
nischen  Meeres  und  des  Westbeckens  liegt.  Von  dem  Leucht- 
turme des  Kap  Blanco  auf  dem  Gipfel  des  Dj.  Nador  wird  im 
Durchschnitt  stündlich  ein  großer  vorüberfahrender  Dampfer  ge- 
meldet. Für  den  Verkehr  Tunesiens  mit  Sizilien  und  Sardinien 
liegt  Biserta  unbedingt  günstiger  wie  Tunis.  Es  liegt  Neapel  und 
sozusagen  auch  Marseille  gegenüber  im  Meridian  von  Genua. 
Die  Entfernung  von  Cagliari  beträgt  230  km,  von  Trapani  240  km, 
Neapel  540  km,  Genua  800  km,  Marseille  780  km,  Gibraltar 
1350  km,  Algier  620  km,  Malta  450  km,  Port  Said  2200  km. 
Sehr  ins  Gewicht  fällt  in  der  Gegenwart,  daß  es  eine  große 
Kohlenstation  werden  kann.  Für  den  Seeverkehr  erscheint  also 
die  geographische  Lage  von  Biserta  unbedingt  günstiger.  Gewiß, 
die  Landbeziehungen  von  Tunis  sind  innigere  und  vielseitigere, 
denn  Tunis  ist  nicht  nur  bei  seiner  Lage  im  einspringenden 
Winkel  der  natürliche  Brennpunkt  des  Land-  und  Seeverkehrs 
am  Golfe  selbst,  der  Mittelpunkt  einer  weiten  sich  zum  Golfe 
neigenden,  offenen  Landschaft,  es  ist  auch  der  Knotenpunkt 
natürlicher  Straßen,  die  vom  Süden,  von  Kairuan  her  und  von 
noch  wichtigeren,  die  von  Westen  durch  das  Tal  des  Medscherda 
hier  an  das  Meer  ausmünden,  ja,  es  steht  auch  in  bequemer 
Verbindung  mit  der  dichtbevölkerten  Östküste  von  Tunesien, 
Aber  immerhin  liegt  Biserta  dem  Golfe  und  dem  Medscherdatale 
so  nahe,  daß  es  einer  Biserta  begünstigenden  Verkehrspolitik 
nicht  schwer  werden  würde,  es  bei  der  geringen  Entfernung  von 
Tunis  (70  km)  an  der  Gunst  der  Lage  von  Tunis  voll  teilnehmen 
zu  machen. 

Und  die  topographischen  Bedingungen  sind  bei  Biserta  auch 
heute  noch  weit  bessere.  Tunis  liegt  auf  und  an  einer  Gruppe 
niedriger  Hügel  miozäner  Sandsteine  und  pliozäner  Konglomerate, 
die  inselartig  aus  der  Ebene  aufsteigen  und  noch  heute  eine  Art 
Landenge  zwischen  zwei  flachen  Seebecken  einnehmen,  dem  See 
von  Tunis,  einem  echten  Haffe,  und  der  im  Sommer  ganz  aus- 
trocknende Sebkha  Sedjumi.  Es  ist  anzunehmen,  daß  es  sich 
hier   um    die   ältesten   Deltabildungen    des  Wed  Miliana,  der  nur 


—     441      — 

selten  im  Spätsommer  zu  fließen  aufhört ,  und  des  Medscherda 
handelt,  der  seine  Mündung  unter  dem  Einflüsse  des  den  Golf 
umkreisenden  Neerstroms  immer  weiter  nach  links,  also  nach 
Norden,  verschoben  hat.  Derselbe  Neerstrom  hat  auch  mit  den 
Sinkstoff"en  des  Wed  Miliana  die  Nehrung  von  La  Goletta  ge- 
schaffen und  so  eine  innerste  Bucht  des  Golfs  als  Haff"  von 
demselben  abgegliedert.  Die  Landengen  und  Hügellage  gab 
Tunis  eine  gewisse  Festigkeit,  während  es  über  das  Haff"  und 
durch  den  Durchstich  durch  die  Nehrung,  an  welchem  danach 
benannt  La  Goletta  (Verkleinerung  von  gola  =  die  Kehle)  ent- 
stand, Beziehungen  zum  Meere  zu  unterhalten  vermochte,  ohne 
doch  unmittelbar  von  demselben  aus  angegriffen  werden  zu 
können. 

Der  Boden  der  Umgebung  ist  fruchtbar  und  in  allen  Rich- 
tungen wegsam,  Bausteine,  Mörtel,  Ton,  enthält  der  Boden  von 
Tunis,  selbst  Brunnen  von  geringer  Tiefe,  jetzt  häufig  an  Stelle 
der  Ziehbrunnen  Windmotoren,  liefern  allenthalben  Wasser,  erst 
eine  größere  Entwicklung  erforderte  Herbeiführung  besseren  Trink- 
wassers aus  den  regenverdichtenden  und  in  starken  Quellen 
wieder  an  die  Oberfläche  sendenden  Kalkgebirgen  des  Südens,  wie 
im  Altertum  so  in  der  Neuzeit.  Die  alte  Wasserleitung  von  Kar- 
thago ist  so  im  Jahre  1861  wiederhergestellt  worden.  Sie  ver- 
sieht heute  auch  die  Umgebung,  bis  nach  Karthago  und  La  Go- 
letta mit  Wasser,  das  in  immer  größeren  Mengen  durch  Anschluß 
neuer  Quellen,  erst  zu  denen  des  Zaghuan  die  des  Djebel  Dju- 
kar,  neuerdings  die  des  Dj,  Bargu  125  km  weit  herbeigeführt 
wird.  Die  von  den  Arabern  Duames-esch-Schiatin  genannten 
großen  antiken  Zisternen  nahe  am  Meere  auf  der  Stätte  von 
Karthago,  die  35000 — 40000  cbm  Wasser  zu  fassen  vermögen, 
sind  wiederhergestellt  worden  und  werden  durch  eine  Röhren- 
leitung von  Tunis  her  gefüllt.  Überall  längs  der  Leitungen  sind 
Brunnen  eingerichtet,  so  daß  europäische  Niederlassungen  und 
jNIeierhöfe  entstehen  und  die  Umgebung  von  Tunis  der  Haupt- 
schauplatz europäischer  Ansiedelung  wird.  Bereits  sind  hier 
°:.  des  Bodens  in  europäischen  Händen  und  erstehen,  im  Gegen- 
satz zu  den  dünngesäeten  Ansiedelungen  der  Eingeborenen,  die 
stets  auf  Anhöhen  liegen,  in  der  vorher  menschenleeren  Ebene 
im  weiteren  Umkreise  von  Tunis  einzelne  Meierhöfe  und  Gruppen 
von  solchen,    mehr   noch  von  Sizilianern,  wie   von   Franzosen  be- 


—     442     — 

wohnt.  Selbst  der  Charakter  der  Landschaft,  die  vorher,  wo 
nicht  Haine  vernachlässigter  Ölbäume  sich  erbalten  haben,  öde 
und  kahl,  im  Sommer  als  sonnenverbrannte  Steppe  dalag,  beginnt 
sich  dadurch,  durch  die  ausgedehnten  Weinpflanzungen,  durch 
Pflanzungen  von  Eukalypten  und  Fruchtbäumen  zu  verändern. 
Doch  sind  die  künstlich  berieselten  Flächen  noch  sehr  klein,  nur 
Gemüsegärten  betriebsamer  Sizilianer,  da  dafür  nur  das  Wasser 
der  Ziehbrunnen  zur  Verfügung  steht.  Die  große  Staubrücke  von 
Bathan  am  Medscherda,  3  km  unterhalb  Teburba,  die  wohl  rö- 
mischen Ursprungs  ist  und  im  17.  Jahrhundert  durch  holländische 
Baumeister  wiederhergestellt  worden  war,  ist  ganz  in  Verfall, 
wenn  man  auch  noch  die  Kanäle  erkennt,  welche  das  Wasser 
durch  den  heute  noch  200  000  Stämme  zählenden  Olivenhain 
von  Teburba  leiteten. 

Wie  die  Beschaffung  von  Wasser,  so  hat  die  Entwickelung 
der  Verkehrswege  nicht  nur  Tunis  selbst  neues  Leben  gebracht, 
sondern  auch  der  Umgebung  weithin.  Tunis  ist  heute  bereits 
ein  ansehnlicher  Verkehrsknoten.  Hier  endigt  die  große  atlan- 
tische Längsbahn,  welche  immer  wieder,  sei  es  wie  bei  Oran  und 
Algier,  durch  das  Gelände  selbst  ans  Meer  gedrängt,  sei  es 
durch  Sonderlinien  mit  demselben  verbunden,  heute  nahe  der 
Westgrenze  Algeriens  bei  Tlemcen  beginnt,  naturnotwendig  aber 
in  Zukunft  über  Udjda,  Taza  und  Fäs  nach  Mehedia  an  der 
Mündung  des  Sebu  in  den  Ozean  weitergeführt  werden  wird. 
Auch  nach  Osten  und  Süden  reicht  die  Eisenbahnverbindung 
von  Tunis  bereits  bis  in  den  tunesischen  Sahel  und  kleinere 
Linien  strahlen  nach  La  Goletta,  nach  La  Marsa  und  nach  Bi- 
serta  aus.  Selbst  elektrische  Bahnen  führen  schon  in  die  Um- 
gebung. 

Wohl  ebenso  wichtig  ist  die  Verbindung  mit  dem  Meere, 
die  der  1893  vollendete  Kanal  quer  durch  das  Hafi"  und  die 
Nehrung  etwas  südlich  von  La  Goletta  ermöglicht  hat.  Zu 
6,5  m  Tiefe  ist  dieser  somit  nicht  den  größten  Schiff"en  zugäng- 
liche Kanal,  in  dem  höchstens  2  m  tiefen,  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte vom  Unräte  der  Großstadt  aufgehöhten  Haffe  aus- 
gehoben und  von  Dämmen  aus  dem  ausgebaggerten  Schlamme 
begleitet.  Neun  Kflometer  lang  endigt  er  in  dem  1 2  ha  großen 
Hafenbecken  von  Tunis,  das  von  Staden  umschlossen  und  mit 
allen    erforderlichen  Anlagen   versehen   ist.     Diese  Schöpfung   hat 


—     443     — 

etwa  17  Millionen  Frcs.  gekostet,  die  natürlich  der  tunesische 
Staat  aufgebracht  hat.  Es  ist  hier  mehr  als  die  Hälfte  des  See- 
verkehrs von  ganz  Tunesien  vereinigt. 

Unter  diesen  Einflüssen  hat  sich  Tunis  seit  Errichtung  des 
französischen  Protektorats  außerordentlich  entwickelt.  Ganz  neue, 
völlig  europäische  Stadtteile  haben  sich  an  die  alte  arabische 
Stadt  angegliedert,  vor  allem  gegen  den  Hafen  hin,  wo  alle 
neuen  staatHchen  Bauten,  der  Palast  des  französischen  Residenten, 
des  wahren  Herrschers  des  Landes,  die  Post,  die  Banken,  die 
Gasthäuser  usw.  liegen.  Da  aber  der  Baugrund  hier  schlecht 
ist  und  die  Ausdünstungen  vom  See  her  sich  sehr  lästig  machen, 
so  entstehen  europäische  Stadtteile  und  Villen  auch  nach  Westen 
hin,  ja  viele  europäische  Familien  wohnen  bereits  dauernd  in 
Landhäusern  der  Vororte  am  Meere,  wie  La  Marsa.  Die  Be- 
völkerung von  Tunis  kann  jetzt  schon  zu  175000  angenommen 
werden,  und  von  iioooo  Europäern,  die  igoi  in  Tunesien  ge- 
zählt wurden,  wohnten  nicht  weniger  als  68000  allein  in  Tunis 
und  Umgebung,  von  24000  Franzosen  12000,  von  72000  Ita- 
lienern 45000.  Diese,  bei  weitem  überwiegend  Sizilianer,  be- 
wohnen geschlossene,  eigene,  rasch  wachsende  Stadtteile,  wie  die 
Juden.  Selbst  die  Seebäder  all  der  kleinen  Ortschaften  rings 
um  den  Golf,  die  im  Sommer  wer  es  nur  irgend  kann  aufsucht, 
hat  jede  Nation  für  sich.  Von  einer  Verschmelzung  der  Mo-, 
hammedaner,  Juden,  Franzosen,  Italiener  ist  zunächst  noch  keine 
Rede.  Am  ehesten  dürften  sich  Juden  den  Franzosen  anähneln, 
indem  sie  eifrig  Französisch  lernen,  auch  hier  unter  dem  Ein- 
flüsse der  AlUance  isra^Ute  und  der  AUiance  fran^aise  welche 
beide  durch  die  Schulen  eifrig  französieren.  Vorläufig  aber  bilden 
Mohammedaner,  Juden  und  Europäer  noch  drei  völlig  getrennte 
Kulturkreise  in  der  Stadt  Tunis.  So  bunt  gemischt  in  ethnischer 
Hinsicht  auch  gerade  die  ersteren  sind,  die  Religion  einigt  sie. 
Tunis  und  Umgebung  hat  von  jeher  weithin  anziehend  gewirkt, 
zu  Lande  wie  zur  See  sind  unablässig  Bevölkerungselemente, 
namentlich  von  Süden  her,  zugewandert.  Dazu  nahmen  die  Mo- 
hammedaner hier  noch  mehr  wie  sonst  in  den  Atlasländern  christ- 
liche Renegaten  in  sich  auf:  Italiener,  Spanier,  Griechen,  Tscher- 
kessen  usw.,  von  denen  viele  bis  in  die  neueste  Zeit  einflußreiche 
Stellungen  erlangten  und  eine  zahlreiche  Verwandtschaft  herbei- 
zogen.    Es   gab   und   gibt   Familien,    wo    der  Hausherr   Italiener, 


—     444     — 

die  eine  Frau  Griechin,  die  zweite  Türkin,  die  dritte  unbekannter 
Herkunft  ist,  aber  alle  Mohammedaner  sind.  Der  bekannte 
Mustapha  Kasnadar,  einer  der  einflußreichsten  Minister  vor  der 
französischen  Besetzung,  war  Grieche,  seine  Frau  die  Tochter 
eines  Türken  und  einer  Italienerin.  Auch  Franzosen  und  Ita- 
liener vermischten  sich  vielfach.  Bei  den  Juden  sind  solche  Mi- 
schungen unmöglich,  aber  auch  unter  ihnen  scheiden  sich  die 
alteinheimischen  von  den  livornesischen.  Die  Juden  widmen  sich 
in  erster  Linie  dem  Handel  und  Geldgeschäften,  daneben  aber 
doch  auch  dem  Handwerke.  Es  sind  z.  B.  alle  Schneider  in 
Tunis  Juden,  und  im  jüdischen  Viertel  gibt  es  kaum  ein  Haus, 
in  welchem  nicht  ein  Schneider  wohnt.  Aber  auch  Glaser, 
Klempner,  Goldschmiede  und  dergleichen  sind  sie.  Die  Franzö- 
sierung der  Juden  beginnt  bereits  auch  in  Tunesien  die  gleiche 
Wirkung  zu  zeitigen,  die  ihre  Gleichstellung  in  Algerien  gezeitigt 
hat:  den  Antisemitismus,  der  bei  den  Mohammedanern,  die  wirt- 
schaftlich vielfach  auf  die  Juden  angewiesen  sind,  immer  vor- 
handen gewesen  ist,  jetzt  aber  auch  die  Europäer  ergreift.  Bei 
den  Juden  selbst  hat  das  französische  Protektorat  eine  Vergröße- 
rung der  Gegensätze  von  reich  und  arm  hervorgerufen. 

Die  topographische  Lage  von  Biserta  ähnelt  insofern  der- 
jenigen von  Tunis,  als  auch  hier  ein  See  eine  große  Rolle  spielt 
und  der  werdende  maritime  Stützpunkt  Biserta  ebenfalls  im  In- 
nern des  Landes  liegt  und  nur  durch  einen  Kanal  zugänglich 
ist.  Biserta,  das  alte  phönikische  Hippo,  nachmals  nach  der 
Lage  an  einem  natürlichen  in  ein  kleines  inneres  Meer,  dem  See 
von  Biserta,  bei  Griechen  und  Römern,  zum  Unterschied  von 
Hippo  Regius  (Bona)  Diarrhytus,  Hippo  Zaritus  genannt,  woraus 
Benzert,  Biserta,  entstanden  ist,  hat  die  Lage,  welche  alle  Mittel- 
meerküstenstädte  der  Atlasländer  von  Biserta  bis  Tanger  kenn- 
zeichnet: es  liegt  an  und  auf  Anhöhen  an  der  Westseite  eines 
kleinen  flachen  Golfes,  dessen  westlicher  Eingang  von  dem  be- 
kannten Kap  Blanco  beherrscht  wird,  das  unentwegt  als  die 
Nordspitze  von  Afrika  bezeichnet  wird,  obwohl  längst  nachge- 
wiesen ist,  daß  das  etwas  weiter  nach  Westen  gelegene,  freilich 
nicht  so  hohe  und  daher  als  Landmarke  weniger  auffälUge  Ras 
Engeiah  zwei  Bogenminuten  weiter  nach  Norden  reicht.  Nur 
insofern  unterscheidet  sich  Biserta  von  Bona,  Bougie,  Algier, 
Tanger  usw.,  als  hier  das  Innere  besser  aufgeschlossen  ist.     Ganz 


—     445     — 

ähnlich  wie  weiter  nach  Westen  bei  La  Calle  und  bei  Bona 
küstennahe  Seen  vorkommen,  so  liegen  zwei  Seebecken,  über 
deren  Entstehung  noch  nichts  gesagt  werden  kann,  —  es  dürften 
mit  der  Küste  gleichzeitig  gebildete  Einbruchsbecken  sein  —  der 
See  von  Biserta  und  der  sich  landeinwärts  an  ihm  anschließende, 
nur  durch  eine  2  km  breite  Landenge  davon  getrennte  Ischkel- 
see.  Dieser  hat  seinen  Namen  von  einem  mitten  darin  auf- 
ragenden 500  m  hohen  Kegelberge,  dem  Djebel  Ischkel,  der 
wohl  einer  der  zahlreichen  die  Bodenplastik  von  Tunesien  kenn- 
zeichnenden domförmigen  Emporfaltungen  der  obersten  Schichten 
der  Erdrinde  ist,  jedenfalls  ein  Zeuge  bedeutender  tektonischer 
Störungen.  Durch  den  von  Süden,  von  Mateur  her  einmündenden 
Wed  Chair  ist  das  flache  Seebecken  hier  so  weit  verlandet,  daß 
der  macchienbedeckte  Dj.  Ischkel  nur  noch  bei  höchstem  Wasser- 
stande im  Winter  ein  Inselberg,  sonst  durch  sumpfiges  Schwemm- 
land landfest  ist.  Da  der  Ischkelsee  im  regenreichsten  Gebiete 
von  Tunesien  liegt  —  im  nahen  Krumir-  und  Mogodgebirge, 
von  dem  her  er  zum  Teil  gespeist  wird,  fallen  im  Mittel  etwa 
i'^l^  m  Regen  —  so  hat  derselbe  dauernden  Abfluß  durch  den 
Wed  Tindja  zum  See  von  Biserta  und  ist  süß.  Nur  selten,  bei 
besonders  großer  sommerlicher  Trockenheit,  wenn  sich  der  Spiegel 
des  Ischkelsees  durch  Verdunstung  gesenkt  hat,  zeigt  der  Wed 
Tindja,  der  überall  i  —  2  m  tief  in  Schlangenwindungen  die  dort 
nur  3  km  breite,  flache,  zum  Teil  sumpfige  Landenge  durchzieht, 
die  umgekehrte  Strömung  und  führt  Salzwasser  aus  dem  See  von 
Biserta  herbei.  Der  ganze  See  ist  wegen  der  Fülle  von  Sink- 
stoff"en,  die  ihm  die  einmündenden  Flüsse  und  Bäche  zuführen, 
in  Auffüllung  begriffen  und  hat  nur  noch  bei  gelblich  -  schlam- 
migem Grunde  und  fast  ringsum  flachen,  sumpfigen  Ufern  eine 
größte  Tiefe  von  2 — 3  m.  Er  erstreckt  sich  heute  noch  auf 
etwa  15  km  in  westöstlicher,  halbsoweit  in  nordsüdlicher  Richtung 
und  hat  einen  Flächeninhalt  von  etwa  120  qkm.  Für  den  Bi- 
sertasee  ist  er  als  Läuterungsbecken  und  vielleicht  auch  für  die 
Fischerei  von  größter  Bedeutung.  Auch  dieser  hat  annähernd 
elliptische  Gestalt;  die  große  westöstliche  Achse  ist  15  km  lang, 
die  kleine  nordsüdliche  nur  loYg  km.  Seine  Ufer  sind  zwar 
auch  überwiegend  flach,  aber  doch  bestimmt  und  in  der  gleichen 
nördUchen  Richtung,  in  welcher  ihm  der  Wed  Tindja  als  wirk- 
licher Fluß  die  Gewässer  des  Ischkelsees  zuführt,  steht  er  durch 


—     446     — 

einen  breiten,  sich  mehrfach  ausbuchtenden  und  erst  nahe  dem 
Meere  verengenden  Arm  von  7  km  Länge  mit  dem  Meere  in 
Verbindung.  Er  ist  gewiß  einmal  eine  Meeresbucht  gewesen,  die 
ganz  ähnlich  dem  Haff  von  Tunis  durch  eine  sandige,  von  Dünen 
besetzte  Nehrung  vom  Meere  abgeschnitten  worden  ist  und  sich 
nur  eine  durch  die  Küstenversetzung  und  einen  die  Bucht  um- 
kreisenden Neerstrom  nach  Nordwesten  an  den  Fuß  der  Höhen 
gedrängte  Öffnung,  ein  Tief,  erhalten  hat  dank  dem  Drucke  der 
ein  regenreiches  Gebiet  von  etwa  2500  qkm  Fläche  entwässern- 
den Binnenwasser,  die  den  größten  Teil  des  Jahres  sich  einen 
Ausweg  zum  Meere  offen  halten  mußten.  Der  See  von  Biserta 
ist  150  qkm  groß  und  hat  in  großer  Ausdehnung  Tiefen  von 
9 — 12  m,  die  also  den  größten  Kriegsschiffen  der  Gegenwart  ge- 
nügen. Er  ist  salzig  und  gibt  den  größten  Teil  des  Jahres 
Wasser  an  das  Meer  ab,  nur  während  des  Sommers  strömt  ihm 
Meerwasser  zu.  Wohl  die  reichliche  Zufuhr  von  Süßwasser  mit 
reichlichen  Nährstoffen  von  der  einen,  von  Seewasser  von  der 
anderen  Seite  bedingt  den  ungewöhnlichen  Fischreichtum  dieses 
Sees,  dessen  Ausbeutung  von  jeher  eine  wichtige  Einnahmequelle 
des  tunesischen  Staates  gebildet  hat.  Jetzt  sind  die  Fischereien 
an  die  Hafengesellschaft  von  Biserta  verpachtet,  die  dieselben 
namentlich  mit  Hilfe  eines  großen,  am  inneren  Ende  des  in  den 
See  führenden  Kanals  angebrachten  Gitterwerks,  das  den  ganzen 
See  absperrt  und  nur  einen  50  m  breiten  durch  Versenken  zu 
öffnenden  Eingang  besitzt,  durch  welchen  die  Schiffe  in  den  See 
gelangen  können.  Es  werden  jetzt  im  Durchschnitt  jährlich  mehr 
als  500000  kg  Fische  gefangen,  namentlich  wenn  dieselben  wieder 
dem  offenen  Meere  zustreben,  durchweg  die  edelsten  Speisefische, 
von  denen  100 000  kg  teils  auf  Eis,  teils  gesalzen  oder  geräu- 
chert nach  Frankreich  eingeführt  werden. 

Am  Eingange  in  diesen  See,  an  der  Westseite,  auf  und  an 
Hügeln,  die  Bucht  und  den  See  beherrschend,  liegt  mm  Biserta. 
Der  höchste  dieser  Hügel,  der  Dj.  Kebir,  der  große  Berg,  hat 
eine  Höhe  von  277  m.  Diese  Hügel  laden  förmlich  zur  Be- 
festigung ein  und  sind  heute  sämtlich  an  Stelle  der  alten  Stein- 
bauten von  gewaltigen  neuen  Vesten  gekrönt,  die  die  ganze  Um- 
gebung nach  der  Land-  wie  nach  der  Seeseite,  die  Bucht,  den 
Vorhafen,  den  Kanal,  den  See  beherrschen.  Einst  einer  der 
Hauptsitze    der    tunesischen    Seeräuber    war    Biserta    vor    kurzem 


—     447     — 

noch  ein  verödeter  Ort.  Der  als  Hafen  dienende  Kanal  war 
vom  Unräte  der  Jahrhunderte  so  verschlammt,  daß  meist  kaum 
2  m  Wassertiefe  vorhanden  war. 

Daß  Frankreich  schon  vor  der  Besetzung  Tunesiens  die  hohe 
Bedeutung  von  Biserta  erkannt  hatte,  unterliegt  keinem  Zweifel; 
da  das  aber  auch  bei  anderen  Mächten,  besonders  England  und 
Italien  der  Fall  war,  so  war  zunächst  äußerste  Zurückhaltung  und 
Vorsicht  geboten  und  empfahl  es  sich  zu  erklären,  daß  Biserta 
nicht  befestigt  werden  solle,  also  genau  so  wie  jetzt  Tanger 
neutralisiert  werden  soll.  Selbstverständlich  wird  Frankreich^ 
wenn  es  erst  wirkhch  Herr  in  Marokko  sein  wird,  nach  dem  bei 
Biserta  und  in  Tunesien  bewährten  Muster  verfahren  und  Tanger 
in  einem  Augenblicke,  wo  England  nicht  in  der  Lage  ist,  darum 
Krieg  zu  führen,  zu  einem  großen  maritimen  Waffenplatze  aus- 
gestalten. Mit  dem  gleichen  Geschick,  mit  welchem  die  franzö- 
sische Diplomatie  soeben  in  Marokko  die  Bahn  frei  zu  machen 
verstanden  hat,  hat  sie  auch  in  Tunesien  in  den  Jahren  i8g6 
und  1897  alle  vom  früherher  bestehenden  und  von  ihm  bei  der 
Protektoratserklärung  ausdrücklich  anerkannten  mit  der  Regierung 
des  Bey  geschlossenen  Verträge,  welche  seine  Freiheit  des  Han- 
delns unterbanden,  namentlich  die  sogenannten  Kapitulationen, 
einen  nach  dem  andern  unter  verhältnismäßig  geringen  Opfern 
auf  anderen  Gebieten  zu  lösen  verstanden.  Aber  schon  ehe 
diese  Fesseln  abgeschüttelt  und  alle  Mächte  aus  Tunesien  hinaus- 
komplimentiert waren,  hatten  in  aller  Stille  und  unter  dem  Ver- 
wände, daß  es  sich  um  Herstellung  eines  Handelshafens  handle, 
die  großartigen  Arbeiten  begonnen,  welche,  schon  heute  nahezu 
beendet,  Biserta  zu  einem  der  größten  Seebolhverke  der  Welt 
machen  werden.  Schon  iSgo  begannen  die  Arbeiten  zur  Schaf- 
fung eines  Handelshafens,  iSgi  wurde  der  Grundstein  zu  der 
Neustadt  gelegt,  1895  der  Handelshafen  für  eröffnet  erklärt. 
Aber  in  demselben  Jahre  1895  liefen  auch  die  ersten  großen 
französischen  Kriegsschiffe  in  diesen  Handelshafen  ein,  wenn  die 
Arbeiten,  die  Biserta  zu  einem  wirklichen  Kriegshafen  ausgestalten 
sollten,  tatsächlich  auch  erst  1897  begonnen  haben,  gleichzeitig 
mit  der  Bewilligung  von  200  Mill.  Frcs.  seitens  der  französischen 
Volksvertretung  zur  Vermehrung  der  Flotte  und  zur  Schaffung 
von  Zufluchtshäfen  und  Stützpunkten  für  dieselbe. 

Da  der  bis  auf  i  m  Tiefe  verschlammte,   auch  noch    durch 


—     448     — 

eine  Barre  geschlossene  natürliche  Kanal  als  Zugang  zum  See,  der 
den  Kriegshafen  bilden  sollte,  nicht  geeignet  schien,  so  wurde 
beschlossen,  denselben  zuzuschütten  und  nur  die  äußere  Hälfte 
zu  erhalten,  bis  dahin,  wo  er  sich  in  zwei  Arme  teilend  eine  mit 
Häusern  bedeckte  Insel  bildete.  Dieser  somit  heute  dort  in 
zwei  Zipfel  auslaufende  alte  Hafen  dient,  etwas  gereinigt  und  am 
Eingange  mit  Molen  versehen,  den  Fischerfahrzeugen  und  den 
Küstenfahrern.  Statt  dessen  grub  man  etwas  weiter  nach  Süd- 
osten durch  die  flache  Nehrung  einen  1500  m  langen  Kanal,  der 
neuerdings  auf  240  m  Breite  oben,  200  m  an  der  Sohle  und 
10  m  Tiefe  gebracht  worden  ist.  Vor  dem  Eingange  wurden 
zwei  gewaltige  Steindämme  ins  Meer  hinaus  vorgeschoben,  von 
denen  der  nördlichste  jetzt  auf  1223,  der  südöstliche  auf  950  m 
verlängert  ist.  Der  so  entstandene  Vorhafen  ist  jetzt  nach  den 
Lehren,  welche  die  Vorgänge  in  Santiago  de  Cuba,  während  des 
spanisch-amerikanischen  Krieges  geboten  haben,  wesentlich  ver- 
bessert worden.  Man  sagte  sich  nämlich,  daß  es  unmöglich  sein 
werde  zu  verhindern,  daß  ein  in  raschester  Fahrt  einlaufendes 
feindUches  Schiff  bis  in  die  Kanalmündung  gelangte  und  dort 
versenkt,  ähnlich  .dem  Pfropfen  einer  Flasche,  den  Kriegshafen 
sperren  und  die  darin  liegenden  Schiffe  zur  Untätigkeit  zwingen 
werde.  Um  das  unmöglich  zu  machen,  hat  man  quer  vor  die 
Mündung  des  Vorhafens  noch  einen  610  m  langen  Steindamm 
aufgeschüttet,  so  daß  nun  die  Einfahrt  nur  durch  einen  der 
beiden  320  und  680  m  breiten  Eingänge  unter  mehrfacher  Kurs- 
änderung und  in  langsamer  Fahrt  unter  wirksamem  Feuer  aller 
Forts  möglich  ist.  Übrigens  ist  auch  der  Bau  eines  zweiten  Ka- 
nals bereits  ins  Auge  gefaßt. 

Der  Raum,  welcher  zwischen  dem  neuen  Kanal  und  der 
Altstadt  zum  Teil  durch  Zuschüttung  des  natürlichen  Kanals  ge- 
wonnen wurde,  wurde  mit  den  aus  dem  Kanal  ausgehobenen 
Massen  aufgehöht  und  lieferte  den  Baugrund  für  die  Neustadt. 
Diese  ist  ganz  regelmäßig  angelegt,  sie  besitzt  einen  großen 
öffentlichen  Garten;  die  Staatsbauten,  Bahnhof  und  dergleichen 
sind  zuerst  und  rasch  empor  gewachsen.  Kohlenlager  nehmen 
das  Südufer  vor  den  Gärten  des  Dorfes  Zarzuna  ein.  Eine  50  m 
hohe,  weithin  sichtbare  eiserne  Brücke,  die  man  über  den  Kanal 
hergestellt  hatte,  ist  jetzt  aus  militärischen  Gründen  wieder  ab- 
gebrochen  und    1903    nach   Brest    gebracht    und    dort   aufgestellt 


—     449     — 

worden.  Zwei  Dampffähren  vermitteln  jetzt  den  Verkehr.  Sie 
sollen  später  durch  einen  Tunnel  ersetzt  werden. 

Alle  Höhen  ringsum  krönen  jetzt  bereits  Vesten.  Der  Dj, 
Kebir  ist  der  Mittelpunkt  der  Verteidigung  und  des  großen  ver- 
schanzten Lagers  von  Biserta.  Bis  zur  Vollendung  der  Kasernen- 
bauten sind  die  französischen  Truppen  noch  in  Zelten  und  Ba- 
racken untergebracht. 

Die  Anlagen  des  Kriegs-  und  Handelshafens,  welche  diese 
Bollwerke  zu  decken  bestimmt  sind,  hegen  aber  weit  landeinwärts, 
auch  für  die  weitesttragenden  Geschütze  einer  auf  der  Reede 
liegenden  feindlichen  Flotte  nicht  erreichbar.  Als  Handelshafen 
ist  zunächst  die  Bucht  von  Sebra  eingerichtet,  die  erste  westliche 
Ausbuchtung  des  sich  nach  innen  erweiternden  natürlichen  Ka- 
nals, dieselbe  liegt  4  km  vom  Eingange  in  den  Vorhafen  und 
hat  Tiefen  von  g  m.  Freilich  steht  dieser  Handelshafen  vorläufig 
noch  leer.  Der  Handel  von  Biserta  wächst  sehr  langsam,  na- 
mentlich weil  es  an  Rückfracht  fehlt.  Da  dies  auch  aus  militä- 
rischen Gründen  insofern  bedenklich  ist,  als  damit  eine  stetige 
Erneuerung  der  Kohlenbestände  schwierig  und  kostspielig  wird, 
so  ist  man  darauf  bedacht,  Bisertas  Verbindungen  mit  dem  In- 
nern zu  verbessern  und  es  namentlich  zum  Ausfuhrhafen  der 
Erzeugnisse  des  Bergbaues  Nordtunesiens  zu  machen.  Doch  ist 
es  nicht  gelungen,  die  jetzt  in  Erschließung  begriffenen  ungeheuren 
Phosphatlager  des  inneren  Mitteltunesien  bei  Kalaat-es-Senam, 
El  Kef  beziehungsweise  Sbiba  mit  Biserta  zu  verbinden  und  von 
Tunis,  dessen  Hafen  im  Vergleich  zu  Biserta  immer  schlecht 
bleiben  wird,  und  Susa  abzulenken.  Immerhin  ist,  abgesehen 
von  der  Eisenbahnlinie  nach  Tunis,  eine  solche  im  Bau  nach 
Sidi  Ahmet  im  Gebiet  der  Nefzas,  wo  Zinkerze  vorkommen,  und 
ebenso  eine  Linie,  die  von  Mateur  nach  Pont  de  Trajan  bei 
Beja  am  Medscherda  führt  und  somit  mit  der  großen  Längsbahn 
verbindet. 

Noch  weiter  landeinwärts  an  zwei  Punkten,  räumlich  von- 
einander getrennt,  liegen  die  Anlagen  des  Kriegshafens.  Zu- 
nächst nahe  dem  Handelshafen,  aber  noch  nahezu  iVg  km  land- 
einwärts an  einer  kleinen  jetzt  nach  dem  Admiral  Ponty  benannten 
Bucht  ebenfalls  am  Nordwestufer,  vor  welcher  die  großen  Fahr- 
zeuge der  hier  stationierten  Flottendivision  im  freien  Fahrwasser 
in  Tiefen  von  11  — 12  m  zu  ankern  pflegen,  während  die  Tor- 
Fischer,  Mittelmeerbilder.  29 


—     450     — 

pedoboote  in  der  Bucht  selbst  liegen,  sind  Werkstätten,  Kasernen 
und  vor  allem  auf  einem  hohen  Landvorsprunge  weithin  sichtbar 
ein  zum  Sitz  des  Befehlshabers  der  Flottendivision  von  Tunesien 
bestimmter  Prachtbau  errichtet  worden.  Hier  sind  auch  die 
loo  Mann  Eingeborene  untergebracht,  mit  denen  als  Nachkommen 
der  alten  gefürchteten  Seeräuber  der  Versuch  gemacht  wird,  den 
Kern  der  Baharia,  einer  eingeborenen  Seetruppe,  auszubilden. 
Das  eigentliche  Arsenal  liegt  noch  etwas  weiter  landeinwärts  an 
der  Südwestecke  des  Sees,  in  7  km  Entfernung  dem  inneren 
Eingange  in  den  Kanal  gegenüber,  15  km  vom  Meere.  Dort 
ist  seit  1899  die  kleine  Bucht  vom  Sidi  Abdallah  durch  Bagge- 
rungen und  Dämme  zu  einem  10  m  tiefen  Hafenbecken  aus- 
gebaut worden,  an  welches  sich  Docks  und  alle  sonstigen  An- 
lagen anschließen.  Das  größte  der  Docks  ist  schon  1903  fertig- 
gestellt worden.  Das  Ganze  ist  durch  Mauern  abgeschlossen. 
Munitionsniederlagen,  Kohlenvorräte  usw.  bilden  in  der  Nähe 
ähnliche  von  Mauern  eingeschlossene  Anlagen.  Um  dieses  große 
Arsenal  ist  nun  in  wenigen  Jahren  eine  neue  nach  dem  ver- 
dienten Staatsmanne  Jules  Ferry,  dem  Frankreich  Tunesien  ver- 
dankt, benannte  Stadt  Ferry ville  entstanden,  die  bereits  5000 
bunt  aus  Eingeborenen,  Franzosen,  Italienern,  Maltesern  usw.  ge- 
mischte Arbeiterbevölkerung  mit  einer  Unzahl  von  Kneipen  und 
Tingeltangeln  beherbergt.  Lediglich  französische  Arbeiter  heran- 
zuziehen, ist  mit  allen  Mitteln  noch  nicht  gelungen.  Eine  für  die 
französischen  Beamten  erbaute  Villenstadt  schließt  sich  an. 

Bis  1908  oder  1909  hofft  man  alle  diese  Anlagen,  die, 
sämtlich  mit  der  Eisenbahn .  Tunis — Biserta  verbunden,  bisher 
46  Mill.  Eres,  gekostet  haben  und  an  denen  ohne  Unterbrechung 
1000  Mann  arbeiten,  fertigzustellen  und  damit  Biserta  zu  einem 
der  größten  Seekriegshäfen  der  Welt  zu  machen.  Genau  Toulon 
gegenüber  und,  von  dem  im  Entstehen  begriffenen  Kriegshafen 
an  der  einen  ausgezeichneten  Naturhafen  bildenden  Bucht  von 
Porto  Vechio  auf  Korsika  und  Mers  el  Kebir  bei  Oran  ergänzt, 
bildet  es  den  Hauptstützpunkt  Frankreichs  zur  Beherrschung  des 
westlichen  Mittelmeeres.  Vor  den  vereinsamten  Inselfelsen  von 
Malta  und  Gibraltar,  denen  alle  Vorräte  von  weither  zu  Wasser 
zugeführt  werden  müssen,  hat  Biserta  vor  allem  noch  ein  großes 
reiches  Hinterland  voraus.  Biserta  wird  auch  Frankreichs  Herr- 
schaft   in   Nordafrika   weiter    befestigen    und    dasselbe    in    immer 


—     451     — 

engere  Beziehungen  zum  Mutterlande  bringen.  Schon  heute  ist 
Biserta  eine  furchtbare  Bedrohung  sowohl  Englands  wie  Italiens, 
welches  letzere  damit  heute  von  Frankreich  im  Westen  förmlich 
umklammert  wird. 

Tunis  und  Biserta,  wie  sie  heute  dastehen  und  in  Entwick- 
lung begriffen  sind,  sind  somit  glänzende  Leistungen,  auf  welche 
Frankreich  stolz  sein  kann.  Aber  ihnen  entsprechen  zahlreiche 
andere  durch  das  ganze  Land  hin.  Vor  allem  ist  der  wissen- 
schaftlichen, allerdings  überall  zugleich  praktische  Ziele  verfolgen- 
den Erforschung  des  Landes  zu  gedenken,  die  geradezu  be- 
wundernswert ist.  Erstaunlich  rasch  ist  eine  topographische  Karte 
des  ganzen  Landes  hergestellt  worden,  zuerst  im  Maßstabe  von 
I  :  200  000,  jetzt  aber  bereits  auf  Grund  sorgsamerer  Neuaufnahme, 
bei  welcher  ähnlich  wie  in  Algerien  auch  der  geologische  Bau 
berücksichtigt  wird,  soweit  er  das  Gelände  beeinflußt  und  für 
das  Verständnis  desselben  von  Wichtigkeit  ist,  im  Maßstab  von 
1:50000  weit  fortgeschritten.  Die  Küsten  sind  neu  vermessen 
und  ausgelotet,  auch  die  geologische  und  geographische  Er- 
forschung ist  weit  fortgeschritten,  zahlreiche  gut  gelegene  meteoro- 
logische Stationen  sind  seit  mehr  als  einem  Jahrzehnt  in  Wirk- 
samkeit, die  Erforschung  der  Altertümer  hat  ganz  besonders  die 
Vorstellungen  über  die  Dichte  der  Bevölkerung  und  den  Kultur- 
zustand in  den  ersten  Jahrhunderten  der  christlichen  Zeitrechnung, 
der  höchsten  Blütezeit  Tunesiens,  zu  klären  und  festzuhalten  ge- 
sucht, in  welcher  Weise  in  dem  schon  damals  regenarmen  Lande 
der  Wasserbedarf  für  Menschen  und  Tiere,  teilweise  auch  für 
Berieselungszwecke  gedeckt  wurde.  Es  sind  so  ungezählte  größere 
und  kleinere  Anlagen  zur  Sammlung  und  Aufspeicherung  von 
Wasser  nachgewiesen  worden,  die  die  Vorstellung  erwecken,  daß 
damals  kein  Tropfen  Wasser  der  Quellen,  der  Flüsse  und  der 
Winterregen  unbenutzt  ins  Meer  rann.  War  Tunesien  beim  Ein- 
rücken der  Franzosen  im  Jahre  1881  ein  noch  völlig  unerforschtes 
und  unbekanntes  Land,  so  kann  es  sich  heute  bereits  den  best- 
erforschten Europas  zur  Seite  stellen. 

Zieht  man  nun  weiter  in  Betracht,  was  an  Verkehrswegen, 
an  Hafenbauten,  an  Wasserversorgung  der  Städte  und  gesund- 
heitlichen Einrichtungen  der  verschiedensten  Art,  was  zu  Hebung 
des  Anbaues,  der  Gewerbetätigkeit  und  des  Handels,  zur  Schaffung 
einer  geordneten  Verwaltung  u.  dgl.,   was   für  Unterricht  usw,  ge- 

29* 


—     452      — 

tan  worden  ist,  freilich  alles  aus  Landesmitteln,  nicht  etwa  aus 
von  Frankreich  geleisteten  Beisteuern  und  selbstverständlich  auch 
mit  dem  Zweck,  Frankreich  und  den  Franzosen  hier  eine  neue 
Quelle  des  Reichtums  und  der  Macht  zu  erschließen,  so  muß 
man  den  Stolz,  mit  welchem  Frankreich  auf  dies  Werk  schaut 
oder  eine  Zeitlang  schaute,  als  völlig  berechtigt  anerkennen.  Man 
müßte  auch  annehmen,  daß  die  Eingeborenen  für  das,  was 
Frankreich  ihnen  und  ihrem  Lande  geleistet  hat,  dankbar  sind 
und  Frankreich  Zuneigung  entgegenbringen. 

Merkwürdigerweise  ist  aber  das  Gegenteil  der  Fall  und 
neuerdings  erheben  sich  immer  lautere  Stimmen,  französische, 
nicht  etwa  solche  mißgünstiger  Fremder,  welche  den  Beweis  zu 
führen  suchen  und  tatsächlich  in  allen  Hauptfragen  auch  führen, 
daß  das  so  hochgepriesene  System  des  Protektorats  weder  Tune- 
sien noch  Frankreich  zum  Segen  gereiche.  Da  Frankreich 
sich  eben  noch  anschickt,  Marokko  die  Segnungen  des  fran- 
zösischen Protektorats,  als  eines  wahren  Steins  der  Weisen  auf 
dem  Gebiete  der  Kolonialpolitik,  zuteil  werden  zu  lassen,  so  er- 
scheint es  lohnend,   diese  Stimmen  auch  hier  hören  zu  lassen. 

Was  zunächst  die  Stimmung  der  Eingeborenen  anlangt,  so 
fand  ich  selbst,  als  ich  1886,  also  fünf  Jahre  nach  der  Besetzung 
und  in  einer  Zeit,  wo  von  einer  Betätigung  der  Franzosen  fast 
noch  nicht  die  Rede  war,  das  Land  bereiste,  dieselbe  bis  auf 
eine  Ausnahme  den  Franzosen  durchaus  günstig.  Der  Gegensatz 
gegen  Algerien  war  ein  auffallender.  Die  Mißwirtschaft  war  eben 
zu  ungeheuer  gewesen.  Aber  schon  gegen  Ende  des  Jahrhunderts 
wollten  Nichtfranzosen  vielfach  bereits  Franzosenhaß  in  Tunesien 
beobachtet  haben,  und  ein  Franzose,  Lapie,  der  als  Gymnasial- 
lehrer mehrere  Jahre  in  Tunis  verbracht  und  sich  namentlich  als 
ein  scharfsinniger  Beobachter  der  Bevölkerung  erwiesen  hat,  be- 
zeichnete schon  1897  Tunesien  zu  französieren  als  eine  unlös- 
bare Aufgabe.  Zwar  die  unteren  Schichten  der  Bevölkerung  be- 
fanden sich  wohl,  weil  die  Löhne  stiegen  und  die  Arbeitsgelegen- 
heiten sich  mehrten,  aber  die  mittleren  Schichten  sähen  die 
Quellen  ihres  bisherigen  Wohlstandes  versiegen,  weil  die  ein- 
heimischen Gewerbe  unter  dem  europäischen  Wettbewerbe  und 
der  Änderung  des  Geschmackes  unter  europäischen  Einflüssen  im 
Rückgange  sind.  Am  schlimmsten  stehe  es  mit  den  reichen 
Familien,    deren  Reichtum   früher   mehr   auf  der  Gunst   des   Bey 


—     453     — 

und  auf  Bestehlen  des  Staates  bzw.  auf  Willkürhandlungen  be- 
ruhte. Diese  verarmen  heute,  selbst  die  Glieder  der  Dynastie 
sind  verschuldet. 

Sehr  viel  schlimmer  sind  die  Aufschlüsse,  welche  1903  der 
Volksvertreter  Puech,  der  Tunesien  als  in  vollem  Verfalle  dar- 
stellte, in  der  französischen  Kammer  gab,  und  die  sich  daran 
anschließenden,  überall  sorgsam,  meist  mit  den  amtlichen  Zahlen 
selbst  belegten  Ausführungen  des  Kolonialpolitikers  Jaques  Bahar 
im  Moniteur  des  Colonies  1904.  Derselbe  ist  bemüht,  die  Lage 
zu  schildern,  wie  sie  in  Wirklichkeit  ist,  nicht  wie  sie  die  Regie- 
rung schönfärberisch  darstellt.  Er  spricht  geradezu  von  dem 
Krach  —  dies  deutsche  Wort  ist  bereits  in  den  französischen 
Wortschatz  aufgenommen  —   des  Protektorats. 

Bahar  stellt  zunächst  die  amtlichen  Berichte  kritisch  beleuch- 
tend fest,  daß  von  1891  — 1902  der  Ertrag  der  Steuer  auf  Ge- 
treide, Oliven,  Datteln  und  Gartenerzeugnisse,  d.  h.  auf  alle 
wichtigen  Erzeugnisse  des  fast  ausschließlich  vom  Bodenbau  leben- 
den Landes  um  1455000  Pres,  jährlich  gesunken  ist,  demnach 
der  Gesamtwert  der  Ernte  um  etwa  15  Mill.  Frcs.  Es  waren 
1901  318000  ha  Land  weniger  angebaut  als  1891,  also  36 "/q, 
und  dies  obwohl  seitdem  die  europäische  Kolonisation  sehr  be- 
deutende Fortschritte  gemacht  hat.  Ebenso  hat  sich  der  Vieh- 
stand um  357  000  Köpfe  vermindert,  im  Werte  von  etwa  14  Mill. 
Frcs.,  während  sich  in  der  Zeit  von  1886 — 1891  der  Viehstand 
um  2>^^lo  gehoben  hatte.  Statt  vier  Köpfe  Vieh  auf  einen  Ein- 
geborenen wie  in  Algerien,  kommen  in  Tunesien  deren  heute 
nur  I  y2  ^■uf  einen  Eingeborenen.  Dementsprechend  gab  auch 
die  nur  die  Eingeborenen  betreffende  Medjasteuer  eine  um 
1V2  Mill.  Frcs.  geringeren  Ertrag,  trotzdem  die  Zahl  der  steuer- 
baren Eingeborenen  sehr  gewachsen  war. 

Die  Ausfuhr,  also  vorwiegend  diejenige  landwirtschaftlicher 
Erzeugnisse,  war  zwar  von  1892  — 1902  um  13V2  Mill.  Frcs.  ge- 
stiegen, Aus-  und  Einfuhr  überhaupt  von  yöVg  auf  123^/2  Mill. 
Frcs.  Aber  der  Wert  der  neun  wichtigsten  Erzeugnisse  der  tune- 
sischen Landwirtschaft  war  um  I4y2  Mill.  gesunken,  also  um  mehr 
als  die  Gesamtzunahme,  beispielsweise  Olivenöl  um  5,5,  Getreide 
um  4,7,  Trockengemüse  um  2,6  Mill.  Frcs.  Jene  Gesamtzunahme 
der  Ausfuhr  landwirtschaftlicher  Erzeugnisse  kam  vorwiegend 
(8,2  Mill.)  auf  Vieh    und    Häute,    aber   nicht    etwa   weil   sich    die 


—     454     — 

Viehzucht  so  erfreulich  entwickelt  hatte,  sondern  auf  Kosten  des 
Viehstandes  selbst!  Man  könne  also  von  völligem  Verfall  der 
eingeborenen  tunesischen  Landwirtschaft  sprechen,  nicht  von 
einem  Aufblühen,  wie  die  amtlichen  Berichte  glauben  machen 
wollen.  Eine  wirkliche  Zunahme  der  Ausfuhr  läßt  sich  bei  den 
Erzeugnissen  des  Gewerbefleißes  feststellen.  Aber  auch  da  müssen 
übertriebene  amtliche  Angaben  ausgemerzt  werden.  So  bei  den 
stetig  wichtiger  werdenden  Phosphaten  1,3  Mill.  Pres.  Der  Aus- 
fuhr von  Gold  und  Silber  stehe  eine  größere  Einfuhr  gegenüber 
und  die  Zunahme  der  Ausfuhr  von  Erzen  um  4,7  Mill.  Pres, 
komme  nur  den  Premden  zugute,  in  deren  Besitz  der  Bergbau 
sei,  wie  auch  die  Zunahme  der  Erzeugnisse  der  Pischerei  nur 
Italiener  und  Griechen  bereichere.  Es  blieben  so  von  der  amt- 
lich für  1902  zu  50,7  Mill.  Pres,  angegebenen  Ausfuhr  tatsächlich 
nur  26^2  M^^l-  übrig,  so  daß  gegen  1892  ein  Rückgang  von  bei- 
nahe 10  Mill.  stattgefunden  hat.  So  betrage  auch  die  wirkliche 
Einfuhr  nicht  "j;^  Mill.,  sondern  nur  ^g^j^  und  Aus-  und  Einfuhr 
1902  nicht  123,6  Mill.,  sondern  nur  76,1  Mill,,  so  daß  der  Han- 
del seit  1892  trotz  der  seitdem  um  etwa  100  000  Köpfe  ge- 
wachsenen europäischen  Bevölkerung  keine  aufsteigende  Bewegung 
zeige.  Bringe  man  die  Bedürfnisse  dieser  zu  etwa  14  Mill.  Pres, 
in  Anschlag,  so  stehen  der  76,5  Mill.  betragenden  Einfuhr  von 
1892  nur  mehr  62,4  Mill.  von  1902  gegenüber,  also  auch  da 
ein  Rückgang  von  14,1  Mill.  Der  verminderten  Einfuhr  im 
allgemeinen  entspricht  auch  verminderte  Einfuhr  von  Kaffee, 
Zucker,  BaumwoUenwaren  u.  dgl.,  ja,  es  stellt  sich  heraus,  daß 
bei  Berücksichtigung  der  von  Prankreich  auf  Mehl  und  Teigwaren, 
die  nach  Tunesien  eingeführt  werden,  gezahlte  Prämie  der  Ge- 
winn Prankreichs  am  Handel  mit  Tunesien,  der  mit  38,8  Mill. 
zu  5 1 7o  in  französischen  Händen  liegt,  tatsächlich  nur  8  2 1  000  Pres, 
jährlich  beträgt. 

Die  von  Prankreich  eingeführten  scheinbaren  Abgaben- 
erleichterungen bilden  mit  verschiedenen  neu  eingeführten  Ab- 
gaben (auf  Alkohol,  Zucker  u.  dgl.)  tatsächlich  eine  Vermehrung 
der  Abgaben  um  iiY^  Mill.  Pres.  Nur  dadurch,  nicht  wie  amt- 
lieh behauptet  wird,  durch  die  normale  Steigerung  des  National- 
wohlstandes, sind  die  Staatseinnahmen  von  1885 — 1902  von  18 
auf  30  Mill.  gestiegen.  Zieht  man  jene  1 1  %  Mill.  ab ,  so  bleibt 
18  Mill.,   die  Summe  von   1885. 


—     455     — 

Fragt  man,  was  mit  dem  Gelde  gemacht  wird,  so  zeigt  sich 
zunächst,  daß  in  den  letzten  zehn  Jahren  die  Zahl  der  Beamten 
vervierfacht  worden  ist,  die  zum  Teil  ganz  ungeheuere  Gehälter 
und  noch  überdies  Gratifikationen  beziehen  und  jährlich  auf 
drei  Monate  Urlaub  Anspruch  haben.  Es  sind  18,2  Prozent  aller 
Franzosen  Beamte.  Ja  1896  waren  von  16000  Franzosen  in 
Tunesien  3000  Beamte  und  1000  Gendarmen,  also  25  Prozent. 
Also  auch  Tunesien  ist  danach  echt  französisch  eine  Beamten- 
kolonie. Große  Summen  werden  nach  Bahar  zur  Stimmungsmache 
an  die  Presse  ausgeworfen  oder  bei  den  öffentlichen  Bauten  ver- 
schleudert, ja  es  wird  auf  die  allerschlimmsten  Veruntreuungen 
hingewiesen.  Jeder  Kolonist,  der  sich  wirklich  ansiedelt,  kostet 
allein  an  Kolonisationsreklame  2000  Francs.  Dann  fordert  er 
Anschlußwege  und  andere  Erleichterungen,  so  daß  man  noch 
jährlich  im  Durchschnitt  3780  Francs  auf  jeden  Kolonisten  rech- 
nen muß.  Die  französische  Regierung  hat  in  der  Tat  alles  nur 
Denkbare  getan,  um  französische  Kolonisten  herbeizuziehen,  aber 
sie  hat  bisher  vorwiegend  Mißerfolge  geerntet.  Von  28000  Fran- 
zosen in  Tunesien  sind  nur  1624  Grundbesitzer  mit  zusammen 
600000  ha  Land,  aber  von  diesen  sind  nur  800  wirkliche  Ko- 
lonisten, das  Ergebnis  20 jähriger  Kolonisationsarbeit!  Die  ganze 
französische  Besiedelung  von  Tunesien  ist  mehr  Geld-  und  Land- 
spekulation, denn  beispielsweise  wird  das  größte  der  im  franzö- 
sischen Besitz  befindUchen  Güter,  die  viel  genannte  Enfida 
(90000  ha)  mit  Sizilianern  besiedelt,  wie  auch  andere  Großgrund- 
besitze im  kleinen  an  Italiener  aufgeteilt  werden.  Zu  jenen 
600000  ha  gehören  auch  die  sogenannten  sialinischen  Güter  in 
der  Umgebung  von  Sfaks,  die  als  ausgezeichnetes  Olivenland,  der 
Hektar  zu  zehn  Francs  vorzugsweise  an  die  Freunde  des  Pro- 
tektorats abgegeben  worden  sind,  ehemalige  Minister,  Beamte  des 
Auswärtigen  Amtes,  bekannte  Nationalökonomen  und  Politiker, 
also  alle  keine  Kolonisten.  Dieselben  lassen  ihre  Besitzungen  im 
kleinen  von  Eingeborenen  bearbeiten.  Die  etwa  800  wirklichen 
Kolonisten  besitzen  nur  50 — 60000  ha.  Die  sogenannte  franzö- 
sische Kolonisation  in  Tunesien  trägt  also  ganz  feudalen  und 
großkapitalistischen  Charakter  mit  alten  gewöhnlich  daran  haf- 
tenden Folgeerscheinungen.  Diese  Großkapitalisten  stellen  sich 
nicht  nur  als  Menschen  hoch  über  die  Eingeborenen,  nein,  sie 
verschaffen   sich    denselben    gegenüber    selbst   Recht    und    unter- 


—     456     — 

stellen,  dank  dem  Einfluß,  den  sie  auf  die  höchsten  Stellen  der 
französischen  Verwaltung  ausüben,  auch  die  eingeborenen  Be- 
hörden ihrer  Autorität.  Häufig  hat  man  so  den  Eindruck  völ- 
liger Willkürherrschaft.  Die  Behandlung  der  Eingeborenen  ist 
vielfach  eine  derartige,  daß  sie  auch  die  friedlichste  Bevölkerung 
zu  wildem  Hasse  aufstacheln  würde.  Was  z.  B.  über  den  Ver- 
kauf von  Kaid stellen  (etwa  Landratsstellen)  mitgeteilt  wird,  mutet 
ganz  marokkanisch  an.  Dies  und  die  fortschreitende  Verarmung 
aller  einflußreichen  Kreise  der  Eingeborenen  erklärt  das  rasche 
Wachsen  des  Franzosenhasses  bei  den  Eingeborenen. 

Eine  andere  Gefahr,  die  immer  deutlicher  hervortritt,  immer 
lebhafter  erörtert  und  nur  von  wenigen  Sachkundigen  geleugnet 
wird,  ist  die  mächtig  anschwellende  Einwanderung  und  Ansiede- 
lung von  Italienern,  besonders  Sizilianern,  der  den  Großgrund- 
besitz in  ähnlicher  Weise  und  aus  ähnlichen  Gründen  Vorschub 
leistet  wie  bei  uns  der  polnischen.  Die  Sizilianer  kommen  teils 
als  Landarbeiter,  als  Arbeiter  bei  öff"entlichen  Bauten,  wohl  auch 
in  den  Gewerben  und  im  Bergbau,  teils  als  kleine  Grundbesitzer 
nach  Tunesien.  Nach  Grundbesitz  streben  sie  aber  alle  mehr 
oder  weniger.  Man  schätzt  diese  Einwanderung  jährlich  auf 
6500  und  Bahar  gibt  die  Gesamtzahl  der  Italiener,  die  jedenfalls 
größer  ist,  wie  die  amtlichen  Zählungen  angeben,  zu  130000  an. 
Bewundernswert  mäßig  und  bedürfnisarm  arbeiten  diese  Sizilianer 
sozusagen  Tag  und  Nacht  um  das  ersehnte  Ziel,  einen  kleinen 
Grundbesitz  zu  erwerben.  Aus  einigen  Brettern  und  Petroleum- 
kisten bauen  sie  sich  ein  Häuschen,  um  das  sie  Reben  ziehen 
und  Gemüse  pflanzen.  Derartige  sizilianische  Hüttendörfer  ent- 
stehen nicht  nur  bei  Tunis,  sondern  um  fast  alle  Städte.  All- 
mählich werden  die  Hütten  dann  durch  bessere  Häuser  ersetzt. 
Allen  schwierigen  Arbeiten,  für  die  Franzosen  überhaupt  nicht 
zu  haben  sind,  unterziehen  sich  diese  Leute.  Neuerdings  haben 
sich  sogar  italienische  Landgesellschaften  gebildet,  die  Italiener 
ansiedeln.  Aber  immerhin  ist,  was  heute  an  Grundbesitz  in  ita- 
lienischen Händen  ist,  gegenüber  dem  französischen  noch  ver- 
schwindend gering. 

Der  Gegensatz,  der  bisher  zwischen  den  in  Tunesien  herr- 
schenden Zuständen  und  den  anscheinend  unheilbar  verfahrenen 
in  Algerien  bestand,  scheint  somit  von  Tag  zu  Tag  geringer  zu 
werden.      Kein    Kundiger    leugnet    die     furchtbare    Schwierigkeit, 


—     457     — 

\v  eiche  die  Eingeborenenfrage  in  Algerien  bedeutet.  Soeben 
noch  hat  ein  sonst  sehr  optimistischer  Kolonialpolitiker  (P.  Malon) 
auf  den  stetig  wachsenden  furchtbaren  Haß  der  4  Millionen  Ein- 
geborenen hingewiesen,  die  sich  mit  ihrer  immerhin  unter  franzö- 
sischen Einflüssen  wachsenden  Bildung  und  Einsicht  immer  mehr 
als  rechtlos,  unterdrückt  und  ausgebeutet  ansehen.  Ihre  Zahl  ist 
beständig  gestiegen,  ihr  Besitz  und  Wohlstand  gesunken.  Die 
gleichen  Abgaben  der  Eingeborenen,  die  i8go  18  Mill.  Francs 
abwarfen,  gaben  1901  nur  noch  13  Milüonen,  trotz  der  gewachse- 
nen Zahl  der  Steuerzahler.  Mehr  und  mehr  sehen  sie  ihren 
Landbesitz  in  die  Hände  der  Christen  übergehen.  Der  mit  Recht 
außerordentliches  Aufsehen  erregende  Prozeß,  der  sich  an  den 
plötzlich  ausbrechenden  Aufruhr  von  Margueritte  anschloß,  stellte 
fest,  daß  mehr  als  300  Eingeborene  auf  Wegen,  die  allerdings 
den  herrschenden  Gesetzen  nicht  widersprachen,  von  einem  Be- 
sitz von  mehr  als  1 100  ha  vertrieben  wurden,  ohne  eine  andere 
Entschädigung  als  kaum  drei  Francs  auf  den  Kopf!  Mit  Recht 
fragt  man  besorgt,  was  wohl  mit  den  500000  über  das  ganze 
ungeheuere  Ländergebiet  verstreuten  Europäern  werden  würde  in 
dem  Augenblicke,  wo  Frankreich  seine  starke  Besatzung  aus  Al- 
gerien zurückziehen  müßte. 

Dazu  sind  aber  diese  Europäer,  abgesehen  von  dem  großen 
Prozentsatze,  den  auch  die  Spanier  und  Italiener  ausmachen,  die 
schon  in  vielen  Gemeinden  spanische,  in  einzelnen  italienische 
Vertretungen  gewählt  haben,  unter  sich  uneins,  von  wilden  Lei- 
denschaften zerrissen,  alle  bemüht,  jede  Autorität  und  jeden 
Träger  eines  Bruchteils  solcher  in  den  Kot  zu  ziehen,  im  Ange- 
sichte dieser  heute  noch  mehr  als  je-  geeinten,  von  wilder  Rach- 
gier und  der  Hoffnung,  doch  einmal  das  Joch  der  Christen  ab- 
schütteln zu  können  beseelten  Masse    von  Eingeborenen. 

Wie  wir  es  in  Tunesien  feststellen  konnten,  daß  nicht  so 
sehr  das  amtliche  Frankreich,  die  Regierung,  es  ist,  welche  durch 
ihre  Maßregeln  den  Haß  der  Eingeborenen  groß  gezogen  hat, 
sondern  die  einzelnen  Franzosen  im  Lande,  wenn  auch  nicht 
ohne  Mitschuld  der  Regierung,  so  hat  man  in  Algerien  den  Ein- 
druck, daß  auch  dort,  wenn  auch  unter  den  unablässig  wech- 
selnden Systemen  selbst  solche  eine  Zeitlang  herrschend  gewesen 
sind,  die  auf  grundsätzliche  Verarmung  und  Vernichtung  der 
Eingeborenen  abzielten,  es  vorzugsweise  die  einzelnen  Franzosen, 


—     458     — 

ganz  besonders  die  Kolonisten  es  sind,  welche,  selbst  wenn  die 
Regierung  den  besten  Willen  hat,  den  Eingeborenen  gerecht  zu 
werden,  durch  die  Behandlung,  welche  sie  diesen  zuteil  werden 
lassen,   den  Haß  derselben  immer  von  neuem  schüren. 

So  glänzend  das  Bild  auch  ist,  welches  Algerien  auf  den 
ersten  Blick  bietet,  so  bewundernswert  ist,  was  Frankreich  in 
Tunis,  in  Biserta  und  ganz  Tunesien  in  einer  so  kurzen  Spanne 
Zeit  geleistet  hat,  so  darf  man  doch  kaum  mehr  hoffen,  daß 
diese  Länder  jemals  jener  glänzenden  Zukunft  als  ein  neues 
Frankreich  jenseits  des  Mittelmeeres  entgegengehen,  welche  fran- 
zösische Patrioten  erhoffen  und  welche  man  nach  den  unge- 
heueren Opfern  an  Geld  und  Menschen,  die  das  an  Geld  reiche, 
an  Menschen  so  arme  Land  dafür  gebracht  hat,  nach  der  Energie 
und  den  hohen  geistigen  Fähigkeiten,  welche  dies  hochstehende 
Kulturvolk  denselben  hat  zugute  kommen  lassen,  zu  erwarten 
berechtigt  wäre.  Nun  vergegenwärtige  man  sich  Marokko,  im 
Vergleich  zu  welchem  allerdings  Algerien  und  Tunesien  als  arm 
erscheinen,  wenn  sie  auch  heute  schon  eine  fast  ganz  allein  Frank- 
reich zugute  kommende  Handelsziffer  von  700  Millionen  Francs 
aufweisen,  Marokko  mit  seinen  wilden  und  ausgedehnten  Gebirgen 
und  seiner  Bevölkerung  von  mindestens  8  Millionen  Eingeborenen, 
von  denen  die  Mehrzahl  niemals  fremdes  Joch  getragen  hat!  Es 
gehört  ein  ungewöhnliches  Maß  von  Wagemut,  der  allerdings 
wohl  von  einem  hohen  nationalen  Bewußtsein  eingegeben  ist, 
dazu,  sich  neben  Tunesien  und  Algerien  noch  an  eine  so  unge- 
heuere Aufarabe  heranzuwagen. 


8.  Palmenkultur  und  Brunnenbohrungen 
der  Franzosen  in  der  Algerischen  Sahara.  0 

Es  ist  eine  unleugbare  Tatsache,  daß  die  Kolonisation  Al- 
geriens seitens  der  Franzosen  sehr  langsam  fortgeschritten  ist  und 
daß  dabei  unglaubliche  Fehler  begangen  worden  sind,  allerdings 
zum  Teil  durch  Hineinziehen  der  Kolonie  in  die  politischen  Be- 
wegungen des  Mutterlandes.  Bis  heute  ist  es  eigentlich  nicht 
gelungen,    die    große    Masse    der   Franzosen    für   Algerien   zu   er- 


I)  Erschienen  im  Globus    1880.  Bd.  XXXVHI.  Nr.  21. 


—     459     — 

wärmen,  noch  weniger  eine  irgendwie  ins  Gewicht  fallende  Aus- 
wanderung dorthin  ins  Leben  zu  rufen.  Der  Franzose  wandert 
eben  nicht  aus,  am  wenigsten  der  Landmann.  Nach  fünfzig- 
jähriger Herrschaft  der  Franzosen  in  Algerien  sind  dort  erst 
wenig  über  300000  Europäer  angesiedelt,  von  denen  genau  die 
Hälfte  keine  Franzosen  sind,  trotz  aller  denkbaren  Vergünstigungen, 
welche  ihnen  von  der  Regierung  geboten  wurden.  Erst  seit 
allerneuester  Zeit,  seit  1866,  namentlich  aber  seit  dem  letzten 
großen  Aufstande  von  1 8  7 1 ,  ist  man  energischer  an  die  Koloni- 
sation und  friedliche  Eroberung  des  Landes  gegangen  und  sind 
mit  derselben  gewaltige,  die  Zukunft  sichernde  Fortschritte  ge- 
macht worden,  erst  jetzt  kann  man  mit  Sicherheit  voraussagen, 
daß  Algerien  einmal  eine  Machtverstärkung  Frankreichs  sein  wird. 
Kulturarbeiten  jeder  Art,  welche  allüberall  dringend  nötig  waren, 
sind  seitdem  in  größerm  Maßstabe  vorgenommen  worden,  es  sind 
Häfen  gebaut  worden,  Eisenbahnen  und  Straßen,  es  sind  Flüsse 
geregelt  und  Sümpfe  ausgetrocknet  worden.  Vor  allen  Dingen 
aber  sind  in  den  verschiedensten  Gegenden  des  Landes,  das 
sich  in  drei  natürliche  nach  Boden,  Klima  und  Erzeugnissen 
scharf  unterschiedene  Abteilungen  gliedert,  die  mediterrane  Ab- 
dachung, das  Teil  der  Araber,  das  Hochland  und  die  Algerische 
Sahara  großartige  Arbeiten  zur  Bewässerung  weiter  Landstriche 
ausgeführt  worden,  sei  es  Bewässerung  das  ganze  Jahr  hindurch, 
sei  es  in  der  regenlosen  Hälfte  des  Jahres.  Selbst  in  dem  an 
Niederschlägen  noch  ziemUch  reichen  Teil  ist  künstliche  Bewäs- 
serung hier  und  da  sogar  für  Getreidebau  nötig,  auf  dem  Hoch- 
lande, das  den  Charakter  der  Steppe  trägt,  ist  die  Wasserarmut 
noch  größer  und  ist  künstliche  Bewässerung  nur  an  wenigen 
Punkten  möglich,  es  wird  immer  im  wesentlichen  nur  Haifagras 
hervorbringen  oder  als  Weideland  dienen.  Die  Algerische  Sa- 
hara dagegen  bringt  nur  im  Winter  und  bis  in  den  Frühling 
hinein,  wo  es  am  südlichen  Abfall  des  Hochlandes  noch  etwas 
regnet,  dürftige  Vegetation  hervor,  intensivere  Ausnutzung  des  Bo- 
dens ist  dort  völlig  an  natürliche  oder  künstliche  Brunnen  und 
damit  mögliche  Bewässerung  gebunden.  Dort  hängt  alles  davon 
ab,  ob  die  Brunnen  unterhalten  werden,  Ausdehnung  der  bebauten 
Fläche  und  damit  Zunahme  der  Bevölkerung  und  wachsender 
Wohlstand  derselben  ist  nur  möglich  durch  Vermehrung  des  ver- 
fügbaren   Wasservorrats.     Dort    kann    man   sich    die    Herzen    der 


—     4^0     — 

Eingeborenen  erobern  durch  Erschließung  neuer  Wasservorräte, 
dort  schreitet  in  der  Tat  die  Eroberung  wirksamer  vorwärts,  wenn 
sie  mit  dem  Brunnenbohrer  unternommen  wird,  als  mit  dem 
Schwert  in  der  Hand,  Man  baut  nun  wohl  auch  in  diesen  be- 
wässerbaren Strichen  des  Wüstengebiets,  den  Oasen,  Getreide 
und  Gemüse,  man  zieht  auch  südliche  Fruchtbäume,  Orangen, 
Feigen,  Aprikosen  und  dergleichen,  aber  all  dies  nur  in  geringer 
Ausdehnung  und  zum  Teil  nur  unter  dem  Schutze,  welchen  das 
säuselnde  Dach  der  Kronen  edler  Dattelpalmen  gegen  die  sengen- 
den Strahlen  der  Sonne  gewährt.  Die  Dattelpalme  ist  das  wich- 
tigste Erzeugnis  der  Oasen,  von  ihr  allein  hängt  die  Existenz  der 
Oasenbewohner  ab,  neben  ihr  fällt  selbst  der  Ertrag  der  Viehzucht 
der  wandernden  Stämme  wenig  ins  Gewicht,  Das  Vorhanden- 
sein unterirdischer  Wasservorräte  und  deren  Erschließung  ist  daher 
identisch  mit  der  Kultur  der  Dattelpalme  und  deren  Ausdehnung. 
Von  oberirdisch  fließenden  Gewässern  ist  in  der  Algerischen  Sa- 
hara kaum  die  Rede,  nur  nach  heftigen  Regengüssen  im  Winter 
und  Frühling  füllen  sich  die  Wasserbecken  vorübergehend ,  und 
selbst  die  zahlreichen  größeren  und  kleineren  Salzwasserpfannen, 
die  Schotts,  vertrocknen  im  Sommer  fast  völlig.  In  der  Tiefe  ist 
aber  an  sehr  vielen  Punkten  das  ganze  Jahr  Wasser  zum  Teil 
in  ungeheuren  Mengen  vorhanden,  auch  außerhalb  der  meist 
trockenen  Flußbetten. 

Diese  unterirdischen  Wasservorräte  sind  natürlich  atmosphä- 
rischen Ursprungs,  es  sind  die  Wassermengen,  welche  in  den 
vorhergehenden  Wintern  und  Frühlingen  zum  geringern  Teil  an 
dem  Orte  selbst,  zum  größern  an  der  saharischen  Abdachung 
des  Atlassystems  oder  auch  auf  dem  noch  von  keinem  Europäer 
betretenen  Hochlande  von  Ahaggar  und  seiner  Umgebung  mitten 
in  der  Sahara  gefallen  sind.  Diese  Regenwasser  werden  von 
dem  lockern  Sandboden  rasch  aufgesogen  oder  fließen  dort,  wo 
nackter  Felsboden  ansteht,  rasch  ab  und  sammeln  sich  in  den 
Wasserbetten,  wo  sie  bald  in  die  Tiefe  hinabsinken  und,  von  den 
darüber  gelagerten  Sandmassen  gegen  Verdunstung  geschützt, 
unterirdisch  auf  einer  undurchlässigen  (meist  tonigen)  Bodenschicht 
der  Neigung  derselben  folgend  weiterfließen.  Je  tiefer  nun  diese 
Bodenschicht  liegt,  die  zu  durchstoßen  und  damit  dem  Wasser 
einen  Abfluß  in  noch  größere  Tiefen  zu  öffnen  man  sich  wohl 
hüten   muß.    in   um    so    größerer  Tiefe    ist  Wasser    zu    finden,   je 


—     4^1      — 

näher  sie  der  Oberfläche  liegt,  in  um  so  geringerer.  In  vielen 
Gegenden  kann  man  die  sanfte  Neigung  derselben  genau  nach 
den  Tiefen  berechnen,  in  welchen  man  Wasser  findet.  Nicht 
selten  treten  die  unterirdischen  Wasser  ganz  zutage  als  natürliche 
Brunnen  oder  kleine  Seen,  namentlich  in  den  Betten  der  Wadis, 
wenn  festes  Gestein  gangförmig  dieselben  quer  durchsetzt  und 
dadurch  das  Wasser  aufstaut  und  emporzusteigen  zwingt.  Wie 
weit  auf  diese  Weise  die  unterirdischen  Ströme  fließen  und  wie 
rasch,  wo  sie  sich  in  unter-  oder  oberirdischen  Becken  sammeln, 
das  hängt  von  dem  Relief  des  Landes  ab.  Während  z.  B.  im 
Departement  Oran  entsprechend  der  sanften  Abdachung  des 
Hochlandes  gegen  die  Sahara  hin  die  Grundwasser  sich  weit 
vom  Gebirge  entfernen,  ohne  daß  sich  ein  größeres  unterirdisches 
Stromsystem  bilden  kann,  infolge  wovon  dort  sich  nur  wenige 
kleine  Oasen  unmittelbar  am  Gebirge  finden,  sammeln  sich  die 
weiter  östlich  fallenden  Meteorwasser  in  der  tiefen  Einsenkung, 
welche  sich  wie  ein  Graben  vor  dem  Festungswalle  des  Atlas- 
hochlandes nach  Osten  bis  nahe  an  die  innerste  Einbuchtung  der 
Kleinen  Syrte  zieht.  Und  zu  ihnen  kommen  noch  weit  von 
Süden  her  die  jedenfalls  geringen  Reste  der  Niederschlagsmengen 
der  Hochländer  der  Innern  Sahara,  welche  in  dem  breiten  Wadi 
Igharghar  und  dem  Wadi  Mia  bis  nahe  an  den  Wall  des  Atlas 
gegen  8oo  km  weit  fließen.  So  ist  denn  jener  Graben,  in 
welchem  sich  von  zwei  Seiten  die  Gewässer  sammeln,  von  einer 
Reihe  salziger  Wasserbecken  ausgefüllt,  die  auch  im  Sommer 
nicht  ganz  verdunsten.  Es  sind  dies  die  großen  Schotts,  deren 
Boden,  zum  Teil  auch  ihr  Spiegel,  unter  dem  Meeresniveau  liegt, 
eine  Tatsache,  welche  den  bekannten  Plan  wachgerufen  hat  durch 
einen  Kanal  bei  Gabes  das  Wasser  des  Mittelmeeres  in  diese 
Depression  zu  lenken  und  ein  inner-algerisches  Meer  zu  schaff'en. 
Ist  nun  auch  kaum  zu  erwarten,  daß  dieser  Plan,  dessen  Nutzen 
Unbefangene  selbst  unter  den  Franzosen  schwer  einsehen  wollen, 
jemals  ausgeführt  werden  wird,  so  hat  derselbe  doch  zu  einer 
sorgfältigen  Erforschung  jener  so  lange  unbekannt  gebliebenen 
Gegenden  geführt,  was  die  geographische  Wissenschaft  mit  ebenso 
großem  Danke  aufnimmt,  wie  die  eben  jetzt  von  den  Franzosen 
mit  großem  Eifer  betriebenen  für  lange  Zeit  kaum  weniger  aus- 
sichtsvollen Forschungen  in  der  Sahara  behufs  Anlegung  einer 
Eisenbahn    von   Algerien    nach    dem    Senegal,    dem   Niger,    dem 


—     4^2     — 

Tschadsee  und  womöglich  noch  einige  Stationen  weiter.  Wir 
finden  daher  in  der  nähern  wie  in  der  femern  Umgebung  dieser 
Schotts  überall  große  unterirdische  Wasservorräte  und  infolge- 
dessen zahlreiche  Palmenoasen  und  Oasengruppen.  Im  kleinen 
wiederholt  sich  das  auch  auf  dem  Kochlande,  wenigstens  dem 
Teile,  welcher  die  geringste  Meereshöhe  hat,  dem  Hodnabecken. 
Die  wichtigsten  dieser  Oasengruppen  sind  die  der  Ziban, 
des  Wad  Rirh,  des  Wad  Suf  und  weiter  ab  die  der  Beni  Mzab 
(auf  tunesischem  Gebiet  die  des  Belad-el-Dscherid ,  des  Dattel- 
landes im  engern  Sinne,  und  die  von  Nefzaua).  In  größerer 
oder  geringerer  Entfernung  voneinander,  durch  vegetationslose 
oder  vegetationsarme,  aus  Sand  oder  festem  Gestein  bestehende 
Strecken  voneinander  getrennt.  Hegen  die  grünen  Datteloasen  in 
der  gelblichen  Wüste,  den  Flecken  auf  dem  Fell  eines  Panthers 
gleich,  um  uns  eines  treffenden  Ausdrucks  Strabons  zu  bedienen. 
Namentlich  lebhaft  empfängt  man  diesen  Eindruck,  wenn  man 
vom  Hochlande  durch  einen  der  wenigen  schwierigen  Pässe, 
etwa  die  Schlucht  von  Alkantara,  herabsteigt  und  nachdem 
man  die  große  Palmenoase  von  Alkantara  hinter  sich  gelassen, 
vom  Col  de  Sfa  die  von  Biskra  und  andere  der  Oasen  der 
Ziban  als  dunkle  Flecken  auf  dem  hellen  Grunde  der  licht- 
übergossenen  Wüste  vor  uns  liegen.  Der  unvermittelte  Gegen- 
satz zwischen  der  nackten  Wüste  und  dem  Palmenwalde, 
auf  dessen  Grunde  Weizen,  Gerste,  Baumwolle  oder  Luzerne 
einen  grünen  Teppich  bildet,  ist  ein  wunderbarer;  die  Sonnen- 
strahlen, welche  das  grüngelbe  Fiederdach  durchdringen  und  den 
niederen  Gewächsen  noch  hinreichend  Licht  und  Wärme  bringen, 
verleihen  dem  Palmenhaine  den  Charakter  des  Warmen,  des 
Sonnigen;  an  seinem  Saume  lagert  sich  der  ermüdete  sonnen- 
verbrannte Wüstenreisende,  aber  nur  das  geheimnisvolle  Rauschen 
der  beständig  auch  vom  leisesten  Luftzuge  bewegten  langen 
Fiederblätter  erinnert  ihn  an  seinen  heimischen  Tannenwald,  die 
erquickende  Kühle  fehlt  in  der  Algerischen  Sahara  wenigstens 
immer,  wenn  auch  nicht  in  den  dichteren,  überreich  bewässerten 
Oasen  des  arabischen  Oman.  Auch  nicht  wie  eine  Mauer  tritt 
der  Palmenhain  dem  Nahenden  entgegen,  die  schlanken  Stämme 
stehen  weit  auseinander,  tief  dringt  das  Auge  in  ihn  ein,  erst 
im  Hintergrunde  bildet  sich  eine  geschlossene  Wand,  In  der 
Algerischen    Sahara    sind    die  Oasen   meist   von  Mauern    aus    ge- 


—    463    — 

stampftem  Lehm,  zum  Teil  des  Schutzes,  zum  Teil  der  Be- 
wässerung wegen,  umschlossen  bzw.  durchzogen,  so  daß  die  Ver- 
teidigung einer  solchen  Oase  sehr  erleichtert  wird,  selbst  gegen 
überlegene  europäische  Waffen,  wie  dies  die  Franzosen  z.  B.  184g 
bei  der  Eroberung  der  Zibanoase  Saatscha  erfahren  haben. 

Eigentümlich,  von  allen  anderen  Oasen  abweichend  ist  die 
Palmenkultur  im  Wad  Suf.  Dort  werden  die  Palmen  auf  dem 
Grunde  eines  einem  umgekehrten  Kegel  ähnlichen  etwa  8  m 
tiefen  Loches  gepflanzt,  rings  von  Sanddünen  umgeben,  welche 
man  durch  Pallisaden  aus  Palmblättern  auf  ihrem  Kamme  fest 
macht.  Diese  Vertiefungen,  deren  Anlage  und  Verteidigung 
gegen  den  sie  beständig  mit  Sand  überschüttenden  Wind  viel 
Mühe  kostet,  werden  Ritan  genannt.  Sie  reichen  bis  nahe  an 
die  Wasser  führende  Bodenschicht,  in  welche  die  Palmen  ge- 
pflanzt werden.  Senkt  sich  das  Grundwasser,  so  daß  die  Wur- 
zeln dasselbe  nicht  mehr  erreichen  und  die  Palme  zu  verkümmern 
beginnt,  so  wird  dieselbe  mit  Stricken  an  die  nächsten  derartig 
festgebunden,  daß  sie  nicht  umfallen  kann,  die  Bodenschicht  unter 
den  Wurzeln  wird  entfernt  und  der  Baum  somit  in  eine  tiefere 
Schicht  gebracht,  wo  er  das  Grundwasser  wieder  erreicht.  In 
diesen  Trichtern  nimmt  die  zugleich  mit  Kamelmist  gedüngte 
Dattelpalme  eine  ganz  abweichende  Gestalt  an,  sie  ist  nicht 
schlank  wie  anderwärts,  sondern  hat  einen  kurzen,  starken,  oft 
meterdicken  Stamm,  der  am  unteren  Ende  noch  mehr  verdickt 
nur  wenige  Meter  hoch  wird,  ähnlich  den  massigen  Säulen  ägyp- 
tischer Tempel,  und  eine  mächtige  Krone  mit  5  m  langen  Blättern 
hat.  Gegen  Wind  geschützt  und  durch  Rückstrahlung  von  den 
geneigten  Sand  wänden  um  so  intensiverer  Hitze  ausgesetzt,  reifen 
hier  die  herrlichsten  Datteln,  fleischig,  ölig  und  außerordentlich 
zuckerhaltig.  Zugleich  wird  in  diesen  Trichtern  unter  künstlicher 
Bewässerung  aus  6  m  tiefen  Brunnen  Gemüse  gebaut,  das  einzige 
Erzeugnis  dieser  Oasen  neben  den  Datteln,  die  also  hier  alles 
sind.  Diese  Art  der  Palmenkultur  dürfte  aber  außer  im  kleinen 
in  der  tunesischen  Oase  El  Getar  nirgends  wiederkehren,  da  sie 
aus  den  örtlichen  Verhältnissen  hervorgegangen  ist  und  wahr- 
scheinlich diese  Form  angenommen  hat  dadurch,  daß  die  Dünen 
gegen  die  ursprünglich  auf  der  Oberfläche  gepflanzten  Palmen 
vorrückten  und  dieselben,  wie  man  es  ja  auch  anderwärts  in  ver- 
nachlässigten Oasen    beobachten    kann,    zu    verschütten    drohten. 


—     4^4     — 

Dies  verhinderten  die  Bewohner,  indem  sie  rings  um  den  Stamm 
den  Sand  entfernten,  woraus  sich  dann  dieses  Trichtersystem  ent- 
wickelt hat. 

In  den  Zibanoasen  ist  jeder  der  regelmäßig  gepflanzten  und 
frei  von  Wurzelschößlingen  wie  von  trockenen  Blättern  gehaltenen 
Bäume  von  einem  runden  kleinen  Becken  umgeben,  das  mit  dem 
nächsten  durch  einen  Kanal  in  Verbindung  steht,  so  daß  sämt- 
liche Palmen  bewässert  werden  können.  Das  Wasser  wird  selte- 
ner durch  Menschenhände,  meist  durch  Kamele  oder  Esel  ver- 
mittelst meist  sehr  primitiver  Schöpfwerke  aus  den  oft  sehr  tiefen 
Brunnen  in  Sammelbecken  gehoben,  aus  welchen  es  dann  in  die 
einzelnen  Kanäle  verteilt  wird.  Gewöhnlich  werden  die  Palmen 
das  ganze  Jahr  bewässert,  am  meisten  aber  im  Frühling  vor  der 
Blüte  und  im  Sommer  vor  dem  Reifen  der  Früchte;  man  hat 
auch  beobachtet,  daß  die  am  häufigsten  bewässerten  am  frühesten 
blühen.  Auf  loo  cbm  berechnet  man  den  Wasserbedarf  einer 
Palme  im  Sommer.  Ob  das  Wasser  aber  süß  oder  brackig  ist, 
ist  nicht  von  Bedeutung,  ja  es  scheint  fast,  daß  der  Baum,  wenn 
er  mit  Brackwasser  bewässert  wird,  bessere  Früchte  liefert.  Die 
herrlichen  Palmen  des  Wad  Rirh  werden  mit  einem  Wasser  be- 
wässert, das  bei  einer  mittleren  Temperatur  von  24*^  C,  etwas 
mehr  als  die  mittlere  Jahrestemperatur  der  Luft,  auf  i  1  i — 3  g 
schwefelsaures  Natron,  i — 2  g  schwefelsauren  Kalk,  ferner  etwas 
Chlornatrium,  Chlormagnesium  und  kohlensauren  Kalk  enthält, 
also  notwendig  als  Trinkwasser  abführend  wirken  muß.  Jeden- 
falls sind  die  auf  besonders  fettem  Boden  auf  mit  schlammigem 
Nilwasser  bewässerten  Bäumen  gewachsenen  Datteln  Ägyptens 
weniger  gut  als  die  der  Oasen,  obwohl  die  Bäume  selbst  sehr 
viel  schöner  sind.  Selbst  Bewässerung  mit  warmem  Brackwasser 
wie  in  der  Zibanoase  Chetma  schadet  nicht.  Wie  das  Wasser- 
bedürfnis, so  ist  auch  das  Wärmebedürfnis  der  Dattelpalme  sehr 
groß,  wenigstens  in  der  Zeit  zwischen  der  Blüte  und  der  Reife 
der  Frucht.  Man  hat  berechnet,  daß  eine  Wärmesurarae  von 
5100^  C  nötig  ist  in  den  acht  Monaten  von  Ende  März  bis  An- 
fang November,  damit  sie  ihre  Früchte  vollkommen  reife,  und 
nur  Temperaturen  über  18°  C  kommen  dem  Baume  zu  statten. 
Bei  geringerer  Wärme  erreichen  die  Früchte  geringere  Fülle, 
sind  herber  und  haben  geringeren  Gehalt  an  Stärkemehl  und 
Zucker,  ihr  Nährwert  ist   also  ein   geringerer.      Wichtig  ist  dabei. 


—    465    — 

daß  die  Luft  einen  hohen  Grad  von  Trockenheit  hat,  wie  er 
der  Wüstenluft  eigen  ist,  es  ist  daher  erwünscht,  wenn  es  wäh- 
rend dieser  acht  Monate  nicht  regnet.  Allerdings  gerät  der 
Weizen  besser,  wenn  es  im  April  und  Oktober  regnet,  aber 
man  zieht  es  vor,  daß  es  nicht  regnet,  weil  die  Datteln  dann 
um  so  besser  gedeihen,  und  man  gegen  Datteln  Getreide  aus 
dem  Teil  beziehen  kann.  Denn  während  eine  gute  Dattel- 
emte  alle  Bedürfnisse  der  Oasenbewohner  für  das  ganze  Jahr 
zu  decken  vermag,  vermag  das  auch  die  beste  Getreide- 
ernte nicht  für  sechs  Monate.  Namentlich  sind  Regen  im  Sep- 
tember sehr  unerwünscht,  weil  sie  die  Datteln  faulen  machen. 
Man  hat  sogar  beobachtet,  daß  einzelne  Täler  der  saharischen 
Abdachung  des  Hochlandes  in  sehr  viel  beträchtlicherer  Meeres- 
höhe vortreffliche  Datteln  hervorbringen,  wenn  sie  sich  nach 
Süden  öffnen  und  den  trockenen,  heißen  Wüstenwinden  direkten 
Zugang  gewähren,  als  andere  tiefer  gelegene,  aber  gegen  die 
Wüste  abgeschlossene.  Die  Dattelkultur  im  Hodnabecken  bei 
Bu  Saada  ist  eben  darauf  zurückzuführen,  daß  dort  die  Gebirgs- 
kette, welche  von  der  Sahara  scheidet,  sich  bedeutend  senkt,  so 
daß  die  Wüste  ihren  Einfluß  geltend  machen  kann.  Dieser 
Mangel  an  genügender  Lufttrockenheit  ist  es,  welcher  am  alge- 
rischen Mittelmeerufer  wohl  die  Dattelpalme  gedeihen,  aber  keine 
süßen,  völlig  reifen  Früchte  hervorbringen  läßt,  nicht  die  Winter- 
kälte, denn  die  Palme  erträgt  ohne  Schaden  mehrere  Grad  unter 
Null,  wenn  diese  Kälte  nicht  anhält  und  in  die  Blütezeit  fällt. 
Nicht  selten  hat  man  in  den  algerischen  Oasen  die  Kronen  der 
Palmen  unter  einer  Last  von  Schnee  zu  Boden  gebeugt  gesehen, 
was  am  Mittelmeerufer  nie  oder  höchst  selten  vorkommen  dürfte. 
Aus  demselben  Grunde  gedeiht  die  Dattelpalme  jenseit  der 
Sahara  nicht  mehr,  denn  auch  dort  ist  namentlich  zur  Zeit  der 
Fruchtreife  mitten  in  der  tropischen  Regenzeit  die  Luft  sehr 
feucht  und  die  Datteln  faulen  oder  werden  nicht  reif  und  schmack- 
haft. Mit  Recht  sagt  daher  der  Araber  in  seiner  blumenreichen 
Sprache,  dieser  König  der  Oasen  taucht  seine  Füße  in  Wasser, 
sein  Haupt  in  das  Feuer  des  Himmels,  Infolge  der  beständigen 
Bewässerung  im  heißen  Sommer  ist  aber  der  Aufenthalt  in  den 
meisten  Oasen  im  Sommer  gefährlich,  die  Bewohner  werden  dann 
gewöhnlich  vom  Fieber  befallen. 

Da    die    algerischen   Palmenoasen    an    der   Polargrenze    der 

Fischer,  Mittelmeerbilder.  30 


—     466     — 

Dattelpalme  als  Fruchtbaum  liegen,  die  den  35.  Grad  nördlicher 
Breite  nicht  überschreitet,  so  liegen  sie  alle  in  geringer  Meeres- 
höhe, 60 — 150  m,  höher,  300 — 500  m,  die  der  Beni  Mzab. 
Nur  einzelne  kleinere  Oasen  liegen  im  besondem  Schutz  der 
Berge  in  sehr  viel  größeren  Meereshöhen,  die  von  El  Abiod 
sogar  in  861  m  Höhe,  und  bei  Sidi  Makhluf  findet  noch  Dattel- 
palmenkultur bei  920  m  statt,  Höhen,  in  denen  sie  sonst  nur 
viel  weiter  südlich  im  inneren  Arabien  und  in  Beludschistan 
möglich  ist. 

Weniger  wichtig  ist  die  Bodenbeschaffenheit.  Die  Dattel- 
palme gedeiht  in  den  Zibanoasen  auf  kalkigem  und  gipsigem 
Ton-  und  Sandboden  gleich  gut  und  trägt  gleich  gute  Früchte, 
mag  derselbe  mit  Salz  imprägniert  sein  oder  nicht.  Doch  zieht 
dieselbe  einen  lockeren ,  neu  gebildeten  sandigen  Boden  vor,  ja 
man  hat  Dattelpalmen  vortreiflich  gedeihen  sehen  auf  einem  Bo- 
den, der  bis  80  Prozent  aus  Kieselsand,  13  Prozent  aus  schwefel- 
saurem, 7  Prozent  aus  kohlensaurem  Kalk  bestand.  Die  Fort- 
pflanzung geschieht  fast  überall  durch  junge  Schößlinge,  die  sich 
am  unteren  Stammende  der  Palmen  anzusetzen  pflegen,  da  man 
auf  diese  Weise  am  sichersten  die  Varietät  fortzupflanzen  und 
am  frühesten  Früchte  zu  erzielen  vermag.  Schon  nach  fünf 
Jahren  pflegen  diese  Bäume  Früchte  zu  geben,  in  bedeutenderer 
Menge  freilich  erst  in  10  bis  15  Jahren,  und  zu  vollem  Ertrage 
gelangen  sie  erst  nach  zirka  30  Jahren;  im  allgemeinen  tritt  erst 
nach  8  Jahren  Besteuerung  ein.  Die  Fortpflanzung  durch  Kerne 
gibt  meist  weniger  gute  Varietäten  und  später  tragfähige  Bäume, 
sie  setzt  auch  der  Gefahr  aus,  daß  man  jahrelang  männliche 
Palmen  in  größerer  Zahl  pflegt,  als  zur  künstlichen  Befruchtung 
der  weiblichen  nötig  ist.  Der  Baum  wächst  langsam,  erreicht 
aber  eine  Höhe  von  15  bis  25  m;  er  trägt  60  bis  70  Jahre,  selten 
aber  läßt  man  ihn  älter  werden  als  80  Jahre,  obwohl  er  200  Jahre 
alt  werden  kann.  Die  künstliche  Befruchtung  wird  zur  Zeit  der 
Blüte  im  April  seit  den  ältesten  Zeiten  in  gleicher  Weise  vor- 
genommen wie  noch  heute,  indem  man  Teile  der  sich  früher  ent- 
wickelnden männlichen  Blüte  in  die  künstlich  geöffnete  Blumen- 
scheide der  weiblichen  Blütentraube  hineinsteckt,  so  daß  die 
Bestaubung  eintritt.  Überläßt  man  die  Befruchtung  der  Natur, 
der  Bewegung  der  Luft,  so  ist  dieselbe  unvollkommener  und  die 
Datteln  werden  weniger  gut,    wie  sich  dies  namentlich  bei  Kairo 


-     467      - 

während  der  Bonaparteschen  Expedition  auffallend  zeigte,  wo 
infolge  des  Krieges  die  Befruchtung  nicht  hatte  ausgeführt  werden 
können  und  infolgedessen  auch  die  Dattelernte  fast  völlig  miß- 
riet. Wie  bei  allen  Kulturbäumen,  so  unterscheidet  man  auch 
bei  den  Palmen  nach  den  Früchten  zahlreiche  Varietäten,  in  den 
Zibanoasen  nicht  weniger  als  75.  Die  Dattelernte  findet  in  der 
Algerischen  Sahara  gewöhnlich  im  Oktober  und  November  statt 
und  ein  vollentwickelter  Baum  gibt  bis  150  Kilo  Datteln.  Auf 
einen  Hektar  Land,  der  ungefähr  100  Dattelpalmen  enthält, 
rechnet  man  im  Mittel  5000  bis  7000  Kilo  Datteln,  welche  an 
Ort  und  Stelle  einen  Wert  von  1500  Francs  und  mehr  haben. 
Einzelne  Bäume  haben  einen  Ertrag  von  30,  40,  auch  50  Francs. 
Wie  fast  überall,  so  werden  auch  in  Algerien  die  einzelnen 
Bäume  besteuert,  je  nach  Lage  und  Güte  der  Früchte  mit  50 
Centimes  bis  1  Franc  jährlich.  Die  algerischen  Datteln  werden 
meist  im  Lande  selbst  aufgezehrt,  nur  ein  kleiner  Teil,  nament- 
lich von  altersher  die  des  Wad  Suf,  geht  über  Tunesien  und  als 
tunesische  Ware  nach  Europa,  von  denen  die  sogenannten  Königs- 
datteln vorzugsweise  nach  Berlin  ausgeführt  werden.  Im  Früh- 
jahr und  im  Herbst  rufen  die  Datteln  einen  lebhaften  Binnen- 
handel hervor,  indem  im  Juni,  zur  Zeit  der  W^eizenernte  im  Teil, 
Karawanen  aus  den  Saharaoasen  Datteln  bringen  und  gegen  das 
doppelte  Quantum  Weizen  umtauschen,  während  umgekehrt  sechs 
Monate  später  im  November  in  den  Oasen  Datteln  den  halben 
Wert  des  Weizens  haben.  Sorgfältig  getrocknete  Datteln  kann 
man  lange  aufbewahren,  namentlich  die  höheren  Varietäten,  unter 
denen  in  den  Zibanoasen  die  Lichtdattel  (Deglet  Nur)  die  ge- 
suchteste ist,  während  die  sogenannte  Kameeltreiberdattel  (Deglet 
bu  Sehkraja)  besonders  als  Proviant  für  Wüstenreisen  dient.  Die 
weichen  Datteln  kann  man  nur  in  Schläuchen  imd  Gefäßen  auf- 
bewahren, wo  man  sie  preßt  und  möglichst  vor  Luftzutritt  schützt, 
um   Schimmel  und   Gährung  zu  verhindern. 

Ein  großer  Teil  der  Dattelemte  wird  frisch  gegessen;  aus- 
gepreßt geben  sie  einen  Sirup  und  aus  den  getrockneten  kann 
man  eine  Art  Mehl  und  daraus  einen  Teig  bereiten,  in  der  ver- 
schiedensten Weise  kann  man  sie  zu  allen  Speisen  verwenden. 
Beim  Trocknen  fließt  Dattelhonig  ab  und  destilliert  geben  sie 
einen  freilich  sehr  teuren  Alkohol.  Die  Krone  und  die  zarten 
Herzblätter  geben  den  sogenannten  kastanienähnlich  schmeckenden 

30* 


—     468     — 

Palmenkohl,  den  man  natürlich  nur  von  ohnedies  absterbenden, 
etwa  umgestürzten  Bäumen  gewinnt. 

Alle  Teile  der  Dattelpalme  werden  von  dem  Oasenbewohner, 
der  sonst  kein  Holz  und  keine  Faser  weiter  zur  Verfügung  hat, 
benutzt.  Das  faserige  Holz  ist  sehr  widerstandsfähig,  ja  einzelne 
Varietäten  nehmen  Politur  an.  Das  Holz  brennt  langsam  mit 
geringer  Flamme,  aber  großer  Wärmeentwickelung.  Die  Fieder- 
blätter und  Fasern  werden  in  verschiedenster  Weise  benutzt. 
Die  Kerne  dienen  sogar  noch  als  Kameelfutter.  Namentlich  wird 
auch  aus  dem  zuckerigen  Saft  des  Baumes,  der  bald  in  Gährung 
übergeht,  eine  Art  Wein  gewonnen.  In  den  Oasen  des  Wad 
Rirh  hat  man  ein  eigentümliches  Verfahren,  aus  der  Krone  große 
Mengen  Wein  zu  gewinnen,  ohne  daß  der  Baum  daran  zugrunde 
geht.  Der  Baum  genügt  somit  fast  allein  Bedürfnissen  des  Wüsten- 
bewohners, nur  ein  wenig  Brod  und  noch  weniger  Fleisch  ver- 
vollständigt seine  Nahrung,  die  überwiegend  aus  Dattebi,  aber 
doch  nur  ausnahmsweise  monatelang  nur  aus  Datteln  besteht. 
Und  da  die  Dattelpalme  nicht  allein  gedeiht,  wo  keine  andere 
Pflanze  fortkommt,  in  reinem  Sande  und  von  brackigem  Wasser 
bewässert,  sondern  auch  erst  den  Anbau  anderer  möglich  macht, 
so  ist  an  ihre  Pflege  das  größte  Interesse  des  Oasenbewohners 
geknüpft. 

Die  Zahl  der  Dattelpalmen  vermehren  heißt  daher  die  Be- 
wohnbarkeit der  Wüste  steigern.  Ersteres  kann  aber  nur  durch 
Eröff'nung  neuer  Brunnen  geschehen.  In  den  Oasen  der  Ziban 
war  dies  an  vielen  Punkten  keine  schwierige  Aufgabe.  Dort  gibt 
es  artesische  Brunnen,  welche  nur  i'^j^  bis  2  m  tief  sind.  Sie 
durchbohren  eine  Schicht  gipsigen  Gesteins  und  eine  nur  wenige 
Zentimeter  mächtige  Kalksteinschicht,  unter  welcher  sich  Wasser 
in  einer  Schicht  tonigen  Sandes  findet.  In  der  Oase  von  Ain- 
ben-chelil  in  der  Provinz  Oran  findet  sich  Wasser  ganz  nahe  der 
(Jberfläche  unter  einer  ganz  dünnen  Kalksteinschicht.  Sehr  viel 
tiefer  liegt  die  Wasser  führende  Schicht  im  Wad  Rirh,  im  Mittel 
60  bis  80  m  tief,  ebenfalls  bedeckt  von  einer  dünnen  Kalkstein- 
schicht. Dort  haben  seit  den  ältesten  Zeiten  die  Eingeborenen 
artesische  Brunnen  gegraben,  freilich  unter  unsäglicher  Mühe  und 
Gefahr,  da  es  ihnen  durchaus  an  Hilfsmitteln  fehlte.  Dort  war 
es  aber  auch,  wo  zuerst  die  Idee  an  die  Franzosen  herantrat, 
mit    den    Hilfsmitteln    europäischer   Technik    einzugreifen.     Nach 


—     4*9     — 


dem  Verfahren  der  Eingeborenen   wurden    die  Brunnen  m  ihrem 
obLn  Teil  mit  Palmstämmen  ausgelegt,  sobald  aber  *e  wasser- 
r^rende  Schicht  erreicht  war,  konnte  die  Arbeit  nur  noch  durch 
Tarcher,    wo.u   man  Neger   verwendete,    f  g",-;'^'   l"^™ '/ : 
nur  sehr  «Geringe  Sandmengen  bei  dem  jedesmahgen  Tauchen  zu 
en  fernen  vermochten,  so  daß  die  Arbeit  sehr  langsam  vorruckte 
of    Verschattungen    vorkamen    und   Wiederherstellung    verfallener 
Brunnen  fas"  unmöglich  war.     Vor  der  französischen  Okkupat.on 
w™   sehr  viele  Brunnen  versandet  und  die  Oasen  sehr  zuruck- 
ZtlL     hier   konnte    also   großer  Segen  gestiftet  werden.     In- 
feressant    ist    besonders   die   Entdeckung,    daß    in    den    Brunnen 

bei  Tuggurt  vorkommt.  .^^^^ 

Die    ersten    Bohrungen    begannen    im   Wad    K.rB  J 

,8.6    namentlich  auf  Betreiben  des  General  Desvaux.     Der  Ein 
d'f,:     Wichen  die  im  Vergleich  zu   ihrem  Verfahren   so   leicht 
o  r'tergewaltigen  Wassermassen  auf  die  angeborenen  machte  ■ 
war  ein  tiefer.     Bei    nicht   wenigen  Brunnen    war  "er  Druck  ^e 
Wassermassen    so    groß,    daß  sie  überströmten,    -bj^  ^^.f  ^^'„\ 
Schicht  durchbohrt  war,  einzelne  wallten  sogar  font^'"™'''"»  '"' 
Da    Wasser    ist   meist   trinkbar,  zuweilen  aber  stark  brad^ig    zn 
Bewässerung  der  Dattelpalme  aber  -ts  geei^e^-     Z-ilen^^^^ 
reichte  man  schon  bei  29  m  Tiefe  Wasser     emrad    j 
erst  bei   ^14  m,  im  Mittel  jedoch  bei   50  bis  150  m.     Em  Brun 

■•  rji  "=- .r.ir.£  es-:'"  •= 

jedoch  4800.     Macn   aem  Departement  Con- 

Ingenieurs  Jus  waren  von   1856  bis   i»79  ™        1' 
stantine  allein  447  Bohrungen  vorgenommen  worden    davon  ^ehr 
viele  auf  Kosten  der  Bewohner,  von  einer  T-e^J-    '»  »^^^^ 
,0  km,    welche    153758    Liter   Wasser    'V^^^^  ^  ""'%'^t^e 


—     470     — 

den  anderen  Departements.  Am  erfolgreichsten  sind  die  Boh- 
rungen im  Wad  Rirh,  so  daß  diese  Oasengruppe  seit  dem  Jahre 
1856  sich  ganz  außerordentlich  gehoben  hat  und  als  ein  Bei- 
spiel gelten  kann,  welch  hoher  Entwickelung  selbst  das  Wüsten- 
gebiet Algeriens  noch  fähig  ist.  Dieselbe  zählte  1856  in  31 
Oasen  25  von  6772  Menschen  bewohnte  Orte,  359300  Palmen 
und  40000  andere  P>uchtbäume  bewässert  von  282  artesischen 
Brunnen  und  21  natürlichen  Quellen,  welche  zusammen  52767 
Liter  Wasser  in  der  Minute  gaben.  Es  kam  so  0,146  Liter  auf 
jede  Dattelpalme  in  der  Minute.  Man  schätzte  den  Wert  der 
Bäume  und  der  Brunnen  auf  1654000  Francs.  Im  Jahre  187g 
war  die  Zahl  der  Oasen  auf  37,  die  der  bewohnten  Orte  auf 
26,  die  der  Bewohner  auf  12827,  die  der  Dattelpalmen  auf 
517563  und  der  übrigen  Fruchtbäume  auf  90000  gestiegen, 
Bewässert  werden  diese  Anlagen  von  434  von  den  Eingeborenen, 
59  von  den  Franzosen  angelegten  artesischen  Brunnen  und  16 
natüriichen  Quellen,  welche  164078  Liter  in  der  Minute  geben, 
so  daß  auf  eine  Dattelpalme  jetzt  0,317  Liter  in  der  Minute 
kommt.  Die  59  artesischen  Brunnen  der  Franzosen  geben  aber 
allein  99830  Liter.  Der  Wert  der  Dattelpalmen  wird  jetzt  auf 
4  127 Ol 8,  der  der  ganzen  Oase  auf  5505018  Francs  geschätzt. 
Vollen  Ertrag  geben  430  500  Dattelpalmen,  was,  wenn  mau  jeden 
Baum  nur  zu  15  Kilo  rechnet,  6457500  Kilo  gibt,  in  vier  Jahren, 
wenn  die  jungen  Pflanzungen  tragen  werden,  werden  es  7700000 
Kilo  sein.  Dazu  kommt  noch  die  ebenfalls  fortgeschrittene  Ge- 
treidekultur. 

Wir  sehen  also,  daß  sich  in  23  Jahren,  allerdings  mit  unter 
dem  Einfluß  der  friedlicheren  Verhältnisse,  wesentlich  aber  durch 
Vermehrung  und  Sicherung  der  vorhandenen  Wasservorräte,  die 
Einwohnerzahl  der  Oasengruppe,  welche  der  Verarmung  und  Ver- 
ödung verfallen  schien,  verdoppelt,  der  Wert  der  Palmenpflan- 
zungen, obwohl  die  Zahl  der  tragfähigen  Bäume  sich  nur  um 
60000  vermehrt  hat,  sowie  der  Brunnen  sich  mehr  als  verdrei- 
facht hat.  Der  Wohlstand  der  Bewohner  ist  demnach  bedeutend 
gestiegen.  Wir  sehen  aber  zugleich  auch,  wie  viel  ergiebiger  die 
von  den  Franzosen  gebohrten  Brunnen  sind. 

Die  Gesamtzahl  der  ertragsfähigen  Dattelpalmen  im  östlichen 
Teil  der  Algerischen  Sahara  schätzt  man  auf  i  700000,  ihren 
Ertrag  auf  400000  Zentner  Datteln  im  Jahr.     Dazu  kommen  noch 


—     471     — 


die  im  westlichen  Teil,  welche  sich  noch  einer  genauen  Schätzung 
entziehen,  sowie  die  jungen  Pflanzungen.  Trotz  der  bedeutenden 
EntWickelung,  welche  die  Palmenkultur  in  dieser  kurzen  Zeit 
allein  im  Wad  Rirh  genommen  hat,  ist  dieselbe  selbst  dort  noch 
lan-e  nicht  auf  ihrem  Höhepunkt  angelangt,  denn  allein  die  Boh- 
rungen der  Kampagne  1878  bis  1879  haben  Wasservorräte  für 
weitere  30000  zu  pflanzende  Palmen  geliefert.  Ahnlich,  wenn 
auch  weniger  rasch,  entwickeln  sich  die  übrigen  Oasen,  und  die 
Vollendung  der  Verkehrswege  wird  ihren  Datteln  besseren  Ab- 
satz und  höheren  Wert  verleihen. 


Namen-  und  Sachregister. 


Abda  371 

Abd-er-Rahmän  Giami  72 

Abgeschlossenheit  der  Iberischen 
Halbinsel  237 

Abruzzen    159,    163 

Abulfeda  75 

Ackerbau  von  Italien  170,  von  Sizi- 
lien  192,  von  Tunesien  430 

Adana   116 

Adel  Siziliens   190 

Adrianopel  47 

Adschlun   118,   137 

Ägypten  61,  65 

Agades  384 

Ai'n-ben-Chelil  468 

Ain  Draham  420 

Ain  Dcshidi   116,    118,    152 

Ain  el  Hadschar  350 

Ain  el  Hammam  310 

Ai'n-es-Sara   114,    152 

Air  385 

Ajaccio  219,  229 

Aldos  Dagh  6 

Akabah  81,    107 

Akka  87,    lOi,   145 

Albanergebirge   172 

Albanien   52 

Albanesen  45,   53,   55,  58 

Alem  Dagh  6 

Alexandrien  90 

Algarve  jenseits  des  Meeres  299 

Algerien  280,  299 

Algerien,  Küste  von  294 ff.,  394  ff. 

Algier  295 

Alkantara  462 

Allan   118 

Aleppo  85 

Almunecar  261,  271 

Alpenrandstädte    178 


Amaidara  (Haidra)  423 
Amazirghen  377 
Amselfeld  52 
Amsmis  374 
Anadoli  Hissar  5 
Analfabeti  in  Italien   188 
Anbau  Korsikas  226 
Andalusisches  Faltungssystem   241 
Andjera  362 
Angora   14 
Ansairier    138 
Ansairier  Gebirge  84 
Antiaüas  365 
Antilibanon  81,  82 
Appenninen   158,   164 
Appenninenvorland,  tyrrhenisches  165 
Apulien   160,  204 
Arabien  66 
Arad  412 
Ard-el-Huleh    109 
Arganbaum  350 
Aritsu  37 
Armenier  54 
Amon   118 
Asif  Ig  36s 
Askalon  96,    131 
Athanasische  Mauer   16 
Atlas  367 
Atlasvorland  365 
Atlit  96 
■  Aulad  Soliman  281 
Azila  (Arzila)  335,  339.340,  341.  367 

Bagirmi  383 
Bahar  J.  453 
Balkan  46 
Balkanhalbinsel  44 
Ball  359 
Banijas   108 


473     — 


Bari   176 

Barrua  384 

Barth,  Heinrich  325 

Basan   119 

Barka  280,  282,  302 

Barkochba  90 

Basra  66 

Bastia  218,   229 

Batnan  442 

Batna  324 

Baumzucht  in  Italien   172 

Beerseba  144 

Beja  449 

Belgrad  47,  49 

Belgrad,  Wald  von  6,  8 

Belka   118,   129,   137 

Bender  Abbas  66 

Bengasi   282 

Beni   Meskin  355 

„      Mgild  375 

„      Mtir  375 

,,      Mzab  462 
Benjamin  von  Tudela  75 
Bergbau   in  Spanien   247,    in   Italien 

173 
Bergschlipfe  in  Italien   162 
Berut  83 
Besan   112 
Beschiktasch  20 
Bethanien  92 

Bethlehem   lOl,   123,   130,    131,   145 
Bevölkerung  von  Korsika  216,    220, 

226,  228,  230 
Bevölkerung  von  Italien   170 

„  „     Marokko   377 

,,  „     Palästina   133 

Bewässerung,  künstl.  in  Italien   171 
Bika  81,   82 
Bir  Medkides  317 
Biserta  290,  413,  426,  439,  444 
Biserta,  See  von  446 
Biskra  324,  325 
Blankenhom  76,  92,   115,    117 
Bled  el  Djerid  320 

„       „   ^Makhzen  379 

„      es  Ssiba  379 
Blum  Pascha  51 
Blutrache  auf  Korsika  232 
BobadiUa  271 
Boden  Apuliens  207,  213 
Bodenplastik  von  Italien   163 
Bojukdere  4,  9,  20 
Bojuk  Tschekmedsche  4 


Bolo  (Terra  rossa)   165 
Bona  445 
Bosnien  45,  52 
Bosporus  3,  5,  49,  50 
Bosra  eski  Scham    120 
Boz  Bumu  41 
Brindisi   154 
Brives  A.   365,   366 
Brussa  41 
Bu  Hammara  380 
Bu-el-Awän  372 
Bulgaren   53 
Bulgarien  46,   52,   55 
Bu  Regreg  339,  375 
Burckhardt,  L.  76 

Cäsarea  96 
Calvi  227 
Cambon  393 
Carghese  230 
Caron  360 
Casablanca  355 
Castelfrentano   162 
Castel  del  Monte  205 
Ceuta  300,  361 
Chaldäa  65 
Chan  el  Hatrura  92 
Chattara  273 
Chetma  464 
Cherf  el  Akab  337 
Chianatal   162 
China  91 

Chirbet  es   Safije    I17 
Cillium  (Kasserin)  423 
Col  de  Sfa  462 
Colonia  Scillitana  314 
Conca  d'Oro   171,  262 
Constantine  324 
Corte  229 
Crati   164 

Dakar  386 
Dalmatien  51 
Damaskus  83,  99,    120 
Dan    108 

Dardanellen   5,   51 
Dattelzucht  in  Tunesien 
Demnat  352,  355,   374 
Derna  283 
Derat   128,   147 
Derkossee   3 
Dessaretische  Seen  52 
Desvaux  469 
Dethier  31 


433 


—     474     — 


Deutsche  in  Palästina   137 

DiUy    118,   128 

Djara  331 

Djebala  362 

Djebel  Achdär  366,  371 

Bargu  441 

Ben  Yunes   320 

Bu  Ramli  321 

Chambi   310 

ed  Dahr  81 

Dschermak   lOO 

Djukar  422,  441 

Ghilis  366 

Hadid  350 

Ischkel  445 

Karantal  81,  92,    113 

Karra  366 

Kebir  446,  449 

Mrabba  422 

Nador  440 

Nadur  319 

Ogeff  317 

Orbata  321,  411 

Sidi  Aisch  319 

Usdum    115 

Zaghuan  422,  441 

Zebina  322 
Djebilet  365,  371 
Djedeida  429 

Djerba  411,  422,  424,  429 
Djisr-Benät-Jakub   109 
Djisr  el  Mudschami    1 1 1 
Dobrudscha  52 
Dolmabaghtsche  21,  25 
Donau   12,  46,  48 
Donau-Bulgarien  56 
Draagebiet  360 
Dragoman   1 2 
Drin  45,   52 
Drusen   137 
Drygalski,  v.  349 
Dschalud   II2 
Dschenin   lOl,    145 
Dscherasch   147 

Dscholan  42,  93,    118,   124,   129 
Dukkala  367,  369,  371 
Durazzo   13,  49 
Dünenbildung  327,  328 

Edfu  64 

Elche  263 

Eisenbahnen  in  Korsika  221 

Eisenbahnen  in  Palästina   141 


El  Abiod  466 

Araba  81 

Asy  84 

Aujeh  49 

Battof  146 

Bekri   322 

Djem  422 

Gab    128 

Grarb  370,  375 

Gettar  304,  321,  325,   330,   463 

Golea  372 

Ghuweir   108 

Hammi   113 

Haus  373 

Hawara  337 

Kantara  3?3 

Kef  449 

Kerak   147 

Kis  317 

Ledscha  120,   127 

Lisan   116 

Maleynin  360 

Muzerib   118,   119,    125 

Wadi   18 

En  Nukra   Il8,   119,   124,    126,   152 
Entwicklungsgeschichte  Italiens    157 
Erdbeben  Italiens    159 
Ergene    I 2 
Er  Ramie   144 
Es   Salt   129,    147 
Es  Suweda   149 
Etna    163 
Euganeen   166 
Euphrat  66,  84 
Europäer  in  Tunesien  436 


Fabert,  Leon  391 
Fäs  356,  362,  374 
Fellachen   134,    135 
Feriana  304,  314,  316 
Ferryville  450 
Ficheur,  E.  366 
Fischereien  Tunesiens   435 
Flatters,  Oberst  388 
Flotte  de  Roquevaire  359 
Fontanili    167 
Foucauld  259 
Foureau  391 

Freschisch  304,  306,  424 
Fritsch,  v.   359 
Fruchthaine  Apuliens  2 1 1 
Fum  el  Gharb   362 
Fussana  307,   3 10,   315 


475 


Gadara   113 

Gabes  282,  301,  304,  321,  323,  330, 
412,  429,  461 

Gafsa  304,   317,   319,   320,   321,  323, 
325>  329.  330,  423,  428 

Galata   15,   19,   50 

Galiläa  82,  93,  99,    100,   129,    145 

Garaat  el  Aglat  321 

Gargdno   160,   165 

Gastmahl  von  Tameslocht  345 

Gaza  87,   123,   128,   139,    144 

Gauckler  316 

Gebirge  Korsikas  220 

Genua   177 

Genuesen   15 

Getreidebau  in  Palästina   139 

Gethsemane   131 

Gewerbtätigkeit  in  Italien   174 

„  „    Marokko  374 

,,  „   Palästina   140 

„  „    Spanien  247 

Ghadames  392 

Gharbia  339 

Ghab  81 

Ghebisseh  37 

Ghor  71,  76,  86,  93,  107,  121,  128,  135 

Gibraltar  2,  300,  450 

Gibraltar,  Straße  von  299 

Goldene  Hörn  3,  4,   50 

Goletta  425,  428,  441,  442 

Göl  Dagh  41 

Golo  217 

Goltz,  V.  d.   34 

Gomorrha   Il6 

Graham,  Cyrill   149 

Gran  Sasso  d' Italia   163 

Gregoro^•ius    154 

Grenzscheide     zwischen     Nord-     und 
Südmarokko   375 

Griechen  53 

Griechenland  52,   55,  60 

Guadalhorce  270 

Guerin.  Viktor  3 20 

Gurara  335 

Hadrumet  423 
Haha  357,   365 
Haidar  Pascha   14,  34 
Haifa  87,   123,   136,   145 
Haifa  396 

Hammam  es  Zerka   152 
Hammamet  411,  412 
Hammema  304,   331 


Handel  in  Italien   174 

,,         ,,    Marokko  378 

,,         „    Palästina   140 

,,         ,,    Tunesien  435 
Hasbeya   108 
Hasselquist  76 
Hasskjiöi  20 
Hassi  Inifei  392 
Hauran  93,   98,    I18,    II9,    124,    125, 

129,    137,    147,    152,    153 
Haustiere  Palästinas    133 
Hebron  92,    10 1,    130,    144 
Hahn,  Viktor  154 
Hellespont  3 

Henschir  Sidi  Ai'sch  304,   317,   319 
Hergla  4 1 1 

Hermon  83,  91,    108,    137 
Herzegovina  45,   54 
Hiaina  380 
Hilderscheid    122 
Hochstetter,  Ferd.  v.  30 
Hodnabecken  465 
Homs  84,  87 
Hooker  357,   359 
Hoyo  von  Chorro  270 
Howara   377 

Höhlenreichtum  Palästinas  79 
Hsi-ngan-fu  91 
Huertas  245 
Hüll  76,  95 

Hulesee  87,   107,    109,    128 
Humboldt,  A.  v.  42 
Humusarmut  von  Palästina   78 

Iberische  Halbinsel  236 

„  Scholle  240 

Iberisches  Tafelland  244 
Ibn  Haukai  75 
Ibrahim  Pascha  76 
Innauen  362 
Iskanderun  84 
Isker   12,  47 
Ismid  2,   16,  34,  36 
Isnik  Göl  41 
Italien   154 
Italiener  in  Tunesien  456 

Jabbok   118 

Jaffa  88,  96,  97,   lOi,  123,  136,  138, 

144,   145 
Jarmuk  93,   lll,    112,    118,   123 
Jericho  71,  92,   HO,   113,   151 
Jerusalem    71,    92,    lOl,     102,    121 

126,   137 


476 


Jesreel  87,    loo,    135 
Jildis  Kiosk  22 
Jordan  81,    108 
Judäa  98,  99,   144 
Juden  in  Palästina   137 
„        „    Marokko  378 

Kaba  Buinu  40 
Kabata  386 

Kadi  Kjiöi  4,   20,   22,  35 
Kairuan  321,  415,  422,  428,  439 
Kai  seh  Dagh  36 
Kalat-es-Senam  449 
Kalat-es-Subebe   109 
„       ,,  el  Am   125 
Kallirrhoe    114 
Kampanien   158 
Kampagna,  römische   172 
Karjet-el-Eneb   130 
Kanaan  97 
Kanat  Firaun   120 
Kanem  281 
Kap  Blanco  440 

Bon  411,  413,  424 

Ghir  361,  365 

Hadid  367 

Juby  360 

Kantin  368 

Korso  217,  227 

Spartel  348 
Karmel  87,   123,   137 
Kamak   1 5 
Kartal  36 

Karthago  413,  421,  423,  439,  441 
Kasserin  310,   313,  315,  421 
Kastanienhaine  Korsikas  224 
Kaukasus   58 
Kelbiasee  321,  411 
Kerak   115,    118 
Kerkenah  Inseln  411 
Kircha  Dibon   127 
Kitchener  76 
Kleinasien  44 

Klima  der  Iber.  Halbinsel  242,   260 
„        von  Italien   167 
,,  „     Marokko  376 

,,  ,,     Tunesien  420 

Kohl,  J.  G.   I 
Kongo  383 
Konja   13 

Konstantinopel   i,  2,  47,  49,   54 
Korsika  21 5  ff. 
Kränget  Muahad   307 


Kränget  Ogeff  317 

Krim  58 

Krumir  302,  415,  445 

Kujundschik  66 

Kulturgewächse  Palästinas    130 

Kuka  384 

Küstenstädte  Italiens   177,   210 

Küste  von  Korsika  220 

Kutschuk  Tschekmedsche  4,  27 

La  Maddalena  219 
La  CaUe  445 
La  Malka  422 
La  Marsa  428 
Lapie  452 
Larasch  360,   362 
Lartet   76,   95 
Las  Zaffarinas   301 
Latium    158 
Layard,  H.  66 
Lees,  R.    149 
Levantiner   19 
Libanon  81,  82 
Liberia  386 
Licata    185 
Ligurien   169 
Limane  3 
Litani  83 
Ludd  87,    144 
Luwakanal   127 
Luynes,  Duc  de   76 

Machaerus   Il6 

Machnaebene   145 

Madeba  75 

Madjer  304 

Madrid  255,  258 

Maghreb-el-Aksa  362 

Magyaren  57 

Mailand  155,    156,    178 

Makedonien  47 

Makedonen  56 

Makri  Kjiöi   16 

Malaga  270,  271 

Malta  450 

Maltepe  36 

Maltzahn,  H.  v.  310,  320 

Maritza   12,   48,   53 

Marrakesch  339,   343,  351,  364,  365, 

373 
Marokko  280,  281,  298,  333,  358ff. 
Marmarameer  2,   5 
Mar  Saba  98,    1 15,    144 


477     — 


Marseille  407 

Marx,  H.  351 

Masada  116 

Mateur  445,  449 

Maur,  H.  v.  349 

Mauritania  Tingitana  299 

Maw  359 

Mazagan  367 

Medea  404 

Medscherda  288,  411,  412,  429,  440, 

449 
Medschdel   HO 
Mehamla  305,  330 
Mehedia  362 
Meknäs  356 
Melilla  361 
Menzel  351 
Merdsch  Ajun  81 

„         el  Amir   145 
Merdschaja  469 
Mers  el  Kebir  450 
Mery,  M.  G.  390 
Meschra  bu  Challu  339,  355 

Bab  el  Ksiri  339,   355 
Mesopotamien  65 
Metawile   137 
Metuia  325 
Mharhar  339 
Mittelmeer   i 

Mittelmeergestade  Spaniens  265 
Moab   117,   118,   135,   152 
Mogador  298,  349,   365 
;Mogodgebirge  445 
Moltke  21 
Monastir   13,  49 
Monteil  384 
Monte  Cinto  217,  220 

„       Pollino   164 
^lontenegro   45,    52,    55 
!Morawa   12,    18 
Msun  362 
Mtal  367 
Mtuga  358,  365 
Mudania  41 
Mugheir  65 
Mukes   128 
Muluja  362 
Murcia  263 
Murge  210 

Nabulus  loi,  145 
Nachtigal,  G.  383 
Nähr  Banijas   108 


Nähr  el  Audscha   125 

„      Hasbani   108 

„      Kasimiech  81,  98 

„      el  Leddan   108 
Nazareth   loi,   123,   146 
Neapel  178 
Nebi  Musa   115 
Nedschran  66 
Nefta  325 
Nefza  449 

Neger  in  Marokko   378 
Nemara   153 
Nerja  26 1 
Niebuhr,  K.  76 
Niolo  230 
Nisch  47,  48 
Nischawa   1 2 
Nordafrika  280,  301 
Nordsyrien  84 
Nordwestafrika,  französ.   385 
Novipazar  45 
Nöthling  92,   117 

Ochrida   1 3 

Odessa   50 

Österreich-Ungarn   55 

Olivenzucht  in  Tunesien  431 

Oman  68 

Omer  Pascha  27 

Oran  295 

Orontes  83 

Ortakjiöi  22 

Ostrovo   13 

Ostjordanland   118,   127,   135 

Oxeia  26 

Ozeanküste  von  Marokko  367 

Palästina  74 

Palermo   189 

Palmer,  E.  H.   149 

Palmyra   83,  85 

Pankaldi  20 

Pantellaria  2 

Pantellaria,  Straße  von  301,  410,  426, 

439 
Peloritanisches  Gebirge   161 

Pella   112 
Pendik  7,  36 
Pera   15,    19,  50 
Peschel,  O.  42,   157 
Petra  87 

Penon  de  Yelez  361,  375 
„         ,,    la  Gomera  361,  375 


478 


Pfeil,  Graf  J.  v.  352 
Pflanzenkleid  von  Italien  168 

„  „     Korsika  223 

,,     Palästina    129 
Phasaelis    112 
Philippopel  47 

Phosphaüager  in  Tunesien  434 
Plateia  26 
Poebene    166,    168 
Polopythia  38 
Pomaken  55 
Pont  de  Trajan  449 
Pontybucht  449 
Port  Said  88 
Porto  Farina  289 

,,       Empedocle   185 

„     Vecchio   218,  450 
Portugal  252 
Poiibergangsstädte    178 
Preschowo  48 
Pressel,  W.  41 
Prinzeninseln   10 
Proti  36 
Puech  453 

Qäu  64 

Rabat  356,  357,  362,  376 

Ramie  95,    144 

Randlandschaften  der  Iber.  Halbinsel 

243,  245,   248 
Ras  Dimas  411 

„     en  Nukra  85,  91 

„     Engeiah  444 

„     Kapudia  41 1 

,,     Sidi  Ali  el  Mekki  411 
Rebatel  320 
Rein,  J.  J.  359 
Rephaim   136 
Rhadames  282,   412 
Rhat  392 
Rhcrhaiah  344 
Rhodope  46 
Riath   153 
Riatha  334,   360 
Rifgebirge  364 
Ritter,  K.  42,   74 
Riviera,  bithynische  33 
Robinson  76 
Rocher,  L6on  428 
Rolland,  G.   390 
Ruchbe   153 
Rumänien  55 


Rumelisches  Schollenland   45 
Russeger,  Jak.  76 

Saatscha  463 

Safed   146 

Sakarrah  62 

Sakaria   16,  41 

Sakiet  el  Hamra  360 

Saloniki    13,  47,  48,  49 

Samanly  Dagh  41 

Samaria  99,   100,    129,    145 

Samaritaner   138 

San  Bonifazio  215,  218,  227,   230 

,,     Fiorenzo  218 
Sangro    153 
Sankt  Colombano    166 

„       Stephano  27 
Saron  96,   129 
Sarona   123,    136 
Sbeitla  314 
Sbiba  449 
Scala  di  Sta.  Regina  230 

,,      Tyriorun  85,    145 
Sciacca   185 
Schauia  355,   369 
Schalt  el  Arab  66 
Scheitan  Akentisi  9 
Schedma  358 
Schkumbi    13 
Schnell,  P.   359 
Schulen  in  Sizilien   189,    190 
Schumacher  76,    125 
Schutzverhältnis  in  Marokko  343 
Schwöbel   150 
Sebaita   149 
Sebra  449 

Seeverkehr  Italiens    174 
Segonzac,  M.  de  359,  360 
.Seidenzucht  Italiens    1 7 1 
Seleukia  85 
Serben  54 
Serbien  52,   55 
Serin  87,    112 

Sfaks  288,  415,  422,  428,  455 
Sichem    102 

Sidi  Aissa  el  Bochabia   351 
,,     Abdallah  450 
,,     Ahmet  449 
„     Makhluf  466 
Sidon  83 
Siedelungskunde  von  Italien  175,  196, 

208 
Siedelungen  in  Palästina   142 


—     479     — 


Sila   165 

Sinai  77,  81 

Sizilien  l6l,    162,   175,   180 

Skutari   19,  34,   52 

Sliwnitza  12 

Slovenen  54 

Sodom   116 

Sofia  47 

Sospiro  del  Moro  270 

Städte  Spaniens  250 

Städtebevölkerung  Palästinas   136 

Strauchsteppe  Südtunesiens  318 

Susa  449 

Südküste  von  Andalusien  268 

Südosteuropa  44 

Südtunesien  301 

Syrakus   155 

Syrien  81 

Syrte,  Kleine  321,  411,  429 

Tabor    lOO 

Tafilalet  360 

Tahaddart  327,  329 

Taif  67 

Tameslocht  342 

Tanger  300,  335,   349,  363 

Tarent   155 

Tataren  54,   56,   57 

Tattenbach,  Graf  339 

Taurus    13 

Tavignano  217,  229 

Tebessa  301,  307,  324 

Tedla  370 

Tekna  360 

TeU-el-Hammam   151 

,,     „  Dschena   119 

„     „  Kadi   125 
Tensift  351,  366,   371,  373,  374 
Thasa  362 

Theater  in  Sizilien  190 
Theben  62 
Thelepte  316 
Therapia  9 
Thessalien  56 
Tierwelt  Korsikas  216 
Thomson,  J.  363,  365 
Thrakien  46 
Tiberias   lio,   137 
Tiberias,  See  von  87,   107,   109 
Tidikelt  335,  392 
Tifsist  354 
Tigris  66 
Timbuktu  360 


Tirant  320 

Tirremt  365 

Tirs  370 

Tleracen  362 

Toskana   163 

Totenverehrung  231 

Totes  Meer  76,  77,   107,   114,   128 

Tozer  325 

Trajanstor   1 2 

Tripolis  84 

Tripolitanien  280,  284 ff.,  302 

Tschataldscha    16,   33 

Tscherkessen  54,   58,   137 

Tschiragan  21 

Tuat  335,  360 

Tunesien  280,  287 ff.,  406,  408 

Tunesien,  Beziehungen  zu  Italien  290ff., 

416 
Turkmenen  138 
Tuz  Burnu  36 
Türken  53,   56,   139 
Türkei   55,  59 
Tyrus  83 

Ubangi  383 

Udna  422 

Udjda  362 

Udref  326 

Um-ed-Dschimal   1 49 

Um-er-Rbia  339,  355,  366,  371,  378 

Ungarn  52 

Urlana  469 

Ütsch  Burnu  36 

Vakarel   1 2 

Valencia  262 

Vallis  422 

Vardar  48,  53 

Vama  58 

Velez  Malaga  262 

Venedig   155,   157 

Via  Egnatia  52 

Vignon,  L.  403 

Viehzucht  in  Italien   173 
,,  „    Palästina   140 

Vizzavona,  Paß  von  221 

Volksdichte  von  Italien   175 
„  „     ^Marokko  379 

„  ,,     Palästina   141 

„  ,,     Tunesien  437 

Volturno    163 

Volkszahl  von  Palästina   150 

Wadi  Arabah   107,   iio 


—     48o     — 


Wada  Fara  114 
Firan  68 
ed  Deheb   119 
el  Arisch    149 
„  Tein   108 
Hanem   149 
Ighargar  46 I 
Kelt   113 
Mellaha   1 14 
Mia  461 
Zerka   114 
Walidyia  368 
"War   120 
Wargla  392 

Wasserarmut  Apuliens  206 
Wälder  in  Korsika  225 
„        „    Tunesien  433 

„    Aischa  339,  348 
Wed  Aguareb  422 

Baiasch  320,  321 

Beht  375 

Bugena  319 

Chair  445 

Erseuf  319 

el  Abiad  322 

„    Kseb  362 

„    Rha  339 

Feriana  319 

Hathob  307,  315,  321 

Karrub  339 

Kebir  321 

Melah  422 


Wed  Miliana  421,  440 

„      Rdem  370 

„      Rhir  324,  462,  464,  468,  469, 

470 
Wed  Suf  64,   324,  462,  463 

„      Tindja  445 

„      Zerud  411,  421 
Weinbau  in  Palästina   139 
„  „   Tunesien  431 

Weizenbau  in  Tunesien  433 
Weltstein  76 
Wilhelma   136 
Wimmer,  E.  352 
Wlachen  53  , 

Yalak  Dere  41 
Yarim  Burgas  24 
Yedi  Kule  27 
Yelken  Kaya  Burnu  36 

Zaian  375 

Zair    375 

Zarzis  427 

Zarzuna  448 

Zebojim   117 

Zemmur  375 

Zentrales   Gebiet   der   Iber.  Halbinsel 

249,  254 
Ziban  462,  464,  466 
Zigeuner  54 
Zoar   117 
Zuckerrohrbau  in  Spanien  265 


Druckfehler. 

Lies  Hasskjiöi  Seite  20. 
„     Wed  Rirh  Seite    121. 


Verlag  von  B«  6»  ü^cubncr  in  Leipzig  urtd  ßcrltri 
Ortafienfabrt.  Ton  Dr.  f.  Dof lein.  S?iSI«ti*Ä 

CWna  unb  Ceylon.     ITlit  jabircidiert  2lbbilbungpii.     (Seb.  ca.  Ji.  8. — 

"^n  fetten  anf(ä;'aultii;er  f pradie  cnttrtrft  bcr  üerfajjer  in  biefem  IDerfe  ein  glänjenbes 
i3ilb  pon  'bem  farbenfroben  Ceben  bes  fernen  (Dftens,  beren  ITIenfcben,  Sliere  unb  pflansen  er 
in  bie  perfcfiebenen  Üu^erungen  ibres  5etns  verfolgt.  (£s  if^  besbalb  aud^  fein  Kcifeirerr  im 
gcmötinücbcn  ^rinnc,  fonbern  bas  Ergebnis  eingcbenber,  njiffenfdjaftlicber  5otf>ä?"'^9-  '£^" 
befonberer  Jlei,  toirb  beni  i5udi  baburcb  perlieben,  tia^  Doflein  gerabe  in  ber  geit  bcs  ruffif*= 
japanifcben  Krieges  in  birfcn  £änbern  ipeilte  unb  bie  Spannung  unb  «Erregung,  bie  burcb  jene 
tpeltgefdiiditlicben  Sreigniffc  aUentbalben  tjerporgcrufen  tuurbe,  burd^sittert  bas  ganje  Sud?. 

«leltrcircbilder.   Ton  Julius  )VIeurer.  S?t"5nfTf""S:rn 

fotnie  einer  IDeltfarte.     (Seb.  JC  ^. — 

Der  als  Heifefd;riftfteUcr  befannte  Derfaffer  bringt  feine  Heifeerlebniffc  unb  =einbrüd'e  in 
5orm  pon  abgefdiloffenen  Silbern,  beren  ein  jebes  einen  Heifcabfdjnitt  für  fid;  bebanbelt.  3« 
biefcn  abgearenjten  Silbern  tpar  ber  2tutor  bemübt ,  eine  niöglidift  anfdiaulidie  üerftnnlidiung 
beffen  ju  ettttperfen,  tpas  innerbalb  biefes  Hatimcns  —  fei  es  ein  Canb,  3.  S.  3"Ö'P"  /  Jaf^ii 
Ctiina,  3apan,  Horbamerifa  ,  ober  eine  längere  f  ees  ober  Canbreife,  ober  aud)  eine  befonbers 
bcrporragenbe  Canbfdjaftsfjcnerie,  voie  ber  Pinialaia  —  bem  IDeltreifcnbcn  entgegentritt.  Se= 
fonbere  Sorgfalt  tpibmet  ber  Derfaffer  ber  Dölferfunbe,  ober  riditiger  ber  befonberen  «Eigenart 
ber  oftafiatifd^en  üölfer,  unb  5tpar  '!)in  3nbern  unb  ibren  Keligionsfulten,  bin  "^avamxn  unb 
tlTalaien ,  ben  Cbinefen  unb  'ben  '^a'pixntxn ,  ferner  ben  unerreidjten  Kunftbautcn ,  fotpie  tun 
unpergleid)li*en  Kunfterseugniffen  in  3"&if"/  China  unb  befonbers  in  3'iP'T'' 

Das  europäifcbe  Rußland.  Von  prof .Dr.H.Rettner. 

mit  2(   Eertfarten.     (ScK  J(.  4  — ,  geb.  Jt  \.(>0. 

Dorliegenbe  Stubie,  ju  ber  ber  Derf affer  burd?  eine  Heife  in  Hu^Ianb  angeregt  tuorben 
ift,  roirb  bei  ben  augenblidlid^cn  Vorgängen  in  ©ftafien  Pon  befonberem  3"*sreffe  fein.  Sie 
tpiU  bas,  tpas  uns  «Ettniologen,  ßiftorifer,  Ilationalöfonomen,  publisiften  u.  a.  mitgeteilt  unb 
pon  ihrem  Stanbpunfte  aus  beleudjtet  haben ,  unter  geographifdjcn  (Seftdjtspunftcn  barfteUen, 
uns  bas  Dcrftänbnis  für  bie  Eigenart  bcs  ruffifdjen  DolFes,  bes  ruffifdjen  Staates,  ber  ruffifd^en 
Kultur  in  itircr  geographifd^en  Scbingttieit  Permitteln  unb  baburdj  jugleid?  bie  (Srunblage  für 
eine  geredete  IDürbigung  geben,  bie  nid)t  preift  unb  nidit  oerbammt   fonbern  3U  perfteben  fnd)t. 

Das  IVIittelmeergebiet.  Ton  prof .  Dr.  H.  pbilippfon. 

Seine  geograpbtfdie    unb   fulturelle   Eigenart,     mit  9  Äiguren,   ^3  2lnfidjtcn  unb   ^0  Karten. 
(Seti.  Jt.  6. — ,  geb.  M  7. — 

,,I)as  uorliegcnbe  IDerf  eignet  ftdi  porjügli* ,  um  einem  tpeiten  Kreife  allgemein  (Se= 
bilbeter  eine  DorftcÜung  pon  bem  3U  geben,  ipas  (Scograpbie  heute  ift,  nanientli*  aber  ber 
ftetig  n?adifenben  §abl  ber  Sefudier  bes  JTIittelmeergebietes  ein  tieferes  Cerflänbnis  für  bas, 
Rias"  fte  feben,  3U  erfcbließen.  3söcr  foUtr  ft*  bas  Sud;  als  «Ergänjung  feines  Heifehanbbudjs 
mitnehmen,  unb  bie  Sibliott)cfen  unferer  Kunbreifebainpfer  foUten  es  in  mehreren  €remplaren 
enthalten.  .  .  .  Zludj  bem  liiftorifer,  bem  Kulturhiftorifer,  bem  So3ioIogen  bringt  bas  Sud)  be= 
beutenöen  (5etpinn.  .  .  .  Sie  Silber  flnb  por3Üglidj  getpählt  unb  gut  ausgeführt,  bie  Karten 
fehr  flare  £)cranfdiaulidiun«en  bes  dertes."  _ 

(Prof.  Dr.  et).  5ifdjer  in  ber  Deutfd)en  £iteratur=g)eitung.) 

Tom  Kauhafus  zum  JVIittelmeer.   Ton  Dr.  p.  Robr- 

Etne  ßod)3cits=  unb  Stubienreife  burd)  JIrmcnien.     ITlit  ^2  2tbbilbungcn  im  Üert. 

«Seh.  Jf.  5. — ,  geb.  „«.  6. — 
,,C»on  ben  Sd)neebergen  bes  Kaufafus  bis  3U  ben  Ufern  bes  btauen  ITlittelmeeres  geteitet 
uns  pauI  Kot)rbad)  in  bem  oben  genannten,  mit  einer  Heihe  diarafteriflifdier  Sitber  gefd)mucften 
Suche,  rieben  bem  perfönlid^en  l\ei3  ber  Darftetlung  feffett  uns  por  allem  bie  £ebl)aftigFcit  ber 
Itaturfdjitberungen ,  bie  Sdnirfe  ber  Seobg.ditung  über  £anb  unb  Ccute  unb  bie  Säue  neuer 
tpirtfd)afttid)er  unb  potitifd:er  2tuffd)Iäffe.  Über  bie  armcnifd)e  ^rage  tpirb  man  ot)ne  Kenntnis 
ber  Seobadjtungcn ,  bie  p.  Hohrbad)  angeftcllt  hat,  nid)t  met)r  urteilen  bürfen.  2lud)  in 
l]iftortfd)er  unb  ardjäologifdier  Sesieliung  bietet  bas  Sud),  bas  tpir  unferen  Cefern  warm 
empfetilen,  piet  jntcreffantes  unb  neues."  (Dresbner  Ilnseiger.) 


bacb. 


TcrUg  von  ß.  6.  Ccubticr  in  Leipzig  und  Berlin 

GeiftUches  und  ^eltUcbes  aus  dem  türkifcb-grie- 
chifchcn  Orient  v.  0eh.-Rat  prof .  D.  Dr.  fy,  6elzer. 

Scibftcricbtes  unb  ^elbftgcfehencs.  Hut  porträt  unb  \2  §eid)iiungen.  <S>el).  .^H.  5 . — ,  ijcfd7ma(f= 
poU  aeb.  J/.  6  — 

„prof.  (Seljer  frnnt  ben  (Drietit,  feine  5prad7ert  unb  (?eidjid;te.  Was  er  bietet,  iil  uöllig 
perfönlidj  (Etforidjtcs.  i£r  luiU  ben  Cefrr  in  i'C'i  d)riftlidje  Konftantinopel  einfül^rcn ,  in  bie 
IDelt  ber  ®rtt|oboren,  ber  (Sricdjen  unb  2lrnifnicr.  Die  erfte  i^älfte  feines  8ud)c&  bcfdjäftigt 
fidj  mit  Kirdjenfragcn,  bie  jca  freilidi  am  Bosporus  3ualeid)  nationale  fragen  finb,  bie  3tueitc 
Sälfte,  bodjintcteffant,  bebaubelt  politifdj  unb  ntenfdjlid;  bie  dürfen,  (Sriecjien,  lpanifd)en 
^ubeii  unb  Jlttnenicr.  iUun  lernt  aus  öicfcii  i'fijjen  feljr  i'iel,  3'i]  erauiliiie  befonbcrs  bie 
ilusfübrung  über  ben  »Einfluß  Don  mobainniebanifierten  >£lirifien  auf  bas  dirfentum  unb  bie 
Parftellung  ber  Ilusüditen  bes  ii'eftlidien  unb  fleinafiatifdjen  (Sried7cntums.  Rcligionsgefdjidjte, 
Philologie  unb  poHtif  ^Kannnen  burdj  (?>el3ev4  fein  unb  frei  aejdjriebcne  plaubereien.  JXus:; 
ftattung  gut."  (Die  iMlfe.     1900.     IXr.  5Ü.) 

Vom  Reiligen  Berge  und  aus  )VIakedonien.  Reife- 
bilder  aus  den  Htboshlöftern  und  dem  Infurrek- 
tionsgebiet  von  6eb.-Rat  prof.  D.  Dr.  R.  6elzer. 

XTiit   ^5  Zlbbilbungen  im  CLeft  unb  \  Kürtd)cn.     (Pch.  JC  6. — ,   gcfdjmacfiioll  geb.   M.  7. — 

,,.  .  .  3n  bem  i>orliegcnbcn  ITcrfe  gibt  ber  als  grünblidjcr  Kenner  unb  t£rforfd)er  bes 
(Orients  bcfanntc  Terfaffer  eine  Ijodjintereffantc  iJefdneibung  feiner  ilcifc  nadj  bem  f^eiligen 
Berge  Jlttjos  unb  bem  angrenjenben  (Pebietc.  .  .  .  Das  Bud?  ift  uorjüglidi  ausgcftattet ,  mit 
red^t  guten  Jlbbilbungcn  rierfet]en  unb  rcrbient,  3umal  es  ien  £efer  in  nod;  tneniger  befanitte 
(Segenben  fül]rt  unb  bie  bortigen  rerbaltniffe  in  ansiebcnber  Ifcife  fd;ilbert,  bie  roärmfte 
t£mpfeb[ung."  (Vloxb  unb  Siiti.) 

Huf  Java  und  Sumatra.    Ton  prof.  Dr.  K.  Giefen- 

hlrt^fl  ^trcif3Üge  unb  ,5orfdmngsreifcn  int  £anbc  ber  lllalaien.  mit  \(i  farbigen  Doli; 
I;il\jVll.  bilbern,'3al]lrcidien  2lbbilbungfn  unb  [  Karte.  (Sei).  oU.  9-—,  gefdjmacfooU 
geb.  Jt.  50.— 

Diefe  Rcifebefdjreibung  berutjt  auf  hcn  Jtufjeidjnungcn,  bie  ber  Dcrfafler  tDät^renb  feiner 
^orfdjungsreife  unter  bem  unmittelbaren  Cinbrude  ber  (Segeniuart  gcmadjt  tfat,  unb  enttoirft 
ein  anfdiaulidjes  Bilb  ber  inbomalaiifdjen  tiropen ,  insbefonbere  uon  3aiia  unb  Sumatra. 
(Seograpljie  unb  Canbesnatur,  Vegetation  unb  (Eisrlebcn  werben  Icbenbig  unb  einbrurfsroU  ge= 
fdjilbert,  ebcnfo  bie  fo3ialen  üerbältii.ffe  ber  burdireifien  Cänbcr  unb  bas  malaiifdie  Dolfstum 
in  feinen  iierfd7iebenften  £cbensiiu§erungen.  Befonbere  Bead^tung  finbet  aud;  bie  tropifdie 
Zlgrifultur  ber  3"fcl"  u"''  ''li-i^  lieriiorragcnbc  Bebcutung  für  IPeltbanbcl  uni'  Ifeltiierfebr.  Bei 
bem  ungemein  großen  Jlnteil,  ben  beutfdje  Jlrbeit  unb  beutfdjes  Kapital  an  ber  unrtfdjaftlidjen 
lErfd^Iießung  bicfer  für  uns  fo  unAtigen  €änber  baben,  loirb  bas  Bud]  uielen  ermünfditc  2Iuf= 
fd^lüffe  über  ibren  Kulturjuftanb  geben  fönnen.  (^ablreidie  Potlbilber  unb  dcrtfiguren  bilbcn 
einen,,  inftruftiuen  Sdimurf  bes  IDerfes,  eine  Karte,  in  bie  ber  Kcifeweg  eingetragen  ift,  erleiditert 
bie  Uberfidjt. 

GineHuftraUen-  und  Siidfeef  abrt.  Ton  Dr.  H.  Daiber. 

iTlit  3at;lreid;en  Ilbbilbungen.     Vornehm  geb.  .//.  7. — 

,,IPas  bislang  in  beutfd)er  Spradie  über  ^luftralien  gefdjrieben  worben  ift,  ift  üußerft 
gering  unb  mangelhaft.  €rft  bie  gegenwärtige  Sdirift,  bie  auf  (Prunb  cingebenbcr  Stubicn  an 
Q)rt  unb  Stelle  uerfaßt  iporben  ift,  fann  ben  Jlnfprud)  erbeben,  über  äanb  unb  £cute  bes  neuen 
(Erbteils,  über  bie  Cnta'idelung  unb  bas  £ebcn  in  Jluftralien  unb  ber  Sübfce  in  befriebigenber 
unb  ausfübrlidjer  iDeife  beridjten  3U  Fönnen.  Die  Sdjrift  fcffclt  rom  llnfange  bis  3um  legten 
Sat3c  unf^  getnälirt  bem  fieljrer  für  i£rb=  unb  Dölterfunbe,  ebeufo  tuie  bem  itatuririffenfd^aftler 
unb  Kaufmann  eine  reid;e  .^unbgrubc  tatfäd;lid;en  ilnfdjauungsmaferials,  bas  alle  tSrfdieinungen 
früherer  3ilirc  in  ben  Sdjatten'ftellt."  {(Dt^i).  ,^ellotn  5903.     Hr.  5.) 

Hus  Deutrcb-ßrafUien.     Ton  Dr.  Hlfred  funke. 

Silber  aus  bem   Sehen  ber    Deutfdjen    im  Staate   ilio    (Sranbe   bo    Sul.      lUit    3alilreid;en   J[b= 
bilbungen  im  dert  unb   [  Karte  non  J\io  (?ranbe  bo  Sul.     (SefdjmacfuoU  geb.  ^H.7. — 
,,Der  Derfaffer   ift  ein  fdiarfer  Beobad7tcr   unb   ein    portrefflidjer  ,5P"iU(^tonift. 


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